02 Dez Howard Hyprint und der Whistleblower
Nach einer Vorstandssitzung befahl Howard Hyprint alle Ressortleiter in sein Büro. Eine neue einzigartige Strategie sollte dafür sorgen, dass die weit über die Grenzen des Landes hinaus vor allem für seine Hintergrundrecherchen bekannte Zeitung auch online ohne Konkurrenz blieb. Längst schon hatte die Nachricht das Ereignis eingeholt. Während es noch vor wenigen Jahren immerhin eines 12 stündigen Rhythmus bedurfte, dass, was in Radio und TV schon gesendet war, auch in den Printmedien seinen Niederschlag fand, konnte die Presse online wenigstens mit diesen Medien zeitlich und jetzt schon im Zweistundenrhythmus nicht nur gleich-, sondern an ihnen vorbeiziehen. So haben wir auch durch eingebettete Audio- und Videobeiträge erhebliche Marktanteile in diesem Dienstleistungssegment gesichert, die es auszubauen gilt. Die Konkurrenz schläft nicht, wie sie wissen, meine Dame und Herren. Während seiner kurzen Ansprache fixierte er die einzige Frau im Raum. Er war kein Freund der Quote. Ein Macho, wie er im Buche stand, aber auch ein Macher, wenn Macho davon abgeleitet sein sollte. Nicht umsonst hatte ihn der Vorstand der mittlerweile börsennotierten Zeitung an die Spitze des Unternehmens gesetzt. Howard Hyprint hatte es schon vom Start weg verstanden sich durch immer neue, – für die Zeitung durchaus gewinnträchtige Innovationen -, bei seinen Vorgesetzten unentbehrlich zu machen, die seine Vorschläge gerne als die ihren ausgegeben hätten, wäre er nicht so schlau gewesen, diese über einen internen Nachrichtenticker publik zu machen. Er war es, der ein anderes größeres Format durch setzte, das wiederum die Anzeigeneinnahmen durch Gewerbetreibende zumindest nicht sinken ließ, wie es mit den Auflagen auch bei der Konkurrenz schon lange der Fall war. Während diese nach öffentlichen Subventionen für die Zeitungen verlangte und es damit begründen wollte, einen Auftrag der Gesellschaft zu erfüllen, wollte er, dass sie abgeschafft werden, um nicht durch ökonomische Abhängigkeiten in Korruptionsverdacht zu geraten. So brachte er sich in Stellung und war bald nicht mehr zu übersehen, bis er sein Ziel erreicht hatte und Chef der größten Zeitung des Landes geworden war. Ein steiler Aufstieg für einen, der das Studium seiner Herkunftssprache aufgegeben und als Laufbursche angefangen hatte. Mittlerweile versuchten die Ressortchefs ihm, die einst sein Vorpreschen mit immer neuen Vorschlägen nicht unbedingt geschätzt hatten, Befehle, bevor er sie noch gedanklich formuliert hatte, in vorauseilendem Gehorsam von den Lippen zu lesen. Was er ihnen aber jetzt auftrug, nämlich Fakten durch Fiktion zu schaffen, um seinen kurzen Vortrag auf den Punkt zu bringen, schien ihnen mit der Ethik ihres Berufes nicht vereinbar. Wir sind keine Werbetexter, hielt ihm einer entgegen. Wir sind Journalisten und der Wahrheit verpflichtet, begehrte ein anderer auf. Zeitungen, sagte er – keinen Widerspruch mehr duldend -, teilen ja nicht nur etwas mit, weil es wichtig ist, sondern machen auch etwas wichtig, weil es mitgeteilt wird. Wer mit meinem Vorschlag nicht einverstanden ist, hebe die Hand! Weil alle instinktiv wussten, dass dieses Signal eine fristlose Entlassung zur Folge hätte, – blitzschnell ihr ganz und gar privates Soll und Haben bilanzierend – war jeder Widerstand gebrochen.
Schon in der nächsten Ausgabe wurde „enthüllt“, dass beide Whistleblower, die seit Jahren im Transitraum eines Flughafens oder in einer Botschaft festsaßen, beides extraterritoriale Räume, in die sie geflüchtet waren, um nicht ausgeliefert werden zu können, – so als hätten sie sich untereinander abgesprochen – einen Selbstmordversuch unternommen hätten. Die von der Zeitung mit großem Aufmacher lancierte Meldung sollte die Leser weltweit wieder an die moderne David–Goliath-Geschichte erinnern, die damals monatelang für Schlagzeilen gesorgt, viele Regierungen in Verlegenheit gestürzt, und ein mächtiges Imperium ins Wanken gebracht hatte. Inzwischen aber war das alles so gut wie vergessen, da alle Medien nur noch damit beschäftigt schienen, die Angst der Menschen vor dem Ende des Planeten, den sie bewohnten, am Köcheln zu halten. Die Regierungen der in 3 Machtblöcke politisch aufgeteilten Staatenbünde sahen auf die Erde mit den immer verheerenderen und von Menschenhand verursachten Naturkatastrophen wie auf einen Patienten, der keine kurative Behandlung mehr verdient, weil er das ihm zugedachte Alter schon überschritten hatte.
Endlich wieder einmal eine Nachricht, die Einzelschicksale in den Vordergrund rückte. Ja, was war mit den Whistleblowern? Lange nichts mehr von ihnen gehört. Warum eigentlich noch immer Gefangene? Jetzt – beinahe 10 Jahre später? Das fragten sich die Menschen, wenn sie von ihrem eigenen Glück oder Unglück nicht gerade allzu abgelenkt waren.
Nicht in der nächsten Ausgabe, sondern ein wenig später, nachdem zu gedruckten Interviews mit Experten Videofassungen die Nachricht elektronisch erweiterten, um so die Zeitungslektüre in dieser Symbiose zu vervollständigen, stellten die Redakteure aller Ressorts mit Genugtuung fest, dass Howard Hyprint Recht behalten sollte: Die Verweildauer im Onlinebereich auf den hybriden Internetseiten der Zeitung, die analog der Leserbindung entsprach, schnellte wie die Auflagenstärke rapid in die Höhe und führte zu einer geradezu euphorischen Stimmung unter den Anlegern. Howard Hyprint war am Höhepunkt seiner Karriere, aber er wollte mehr und noch höher hinauf. Er wollte über das Medium zur personifizierten vierten Gewalt im ganzen Staatenbund werden; der, der als graue Eminenz dessen Geschicke lenkt. Und davon war er nicht mehr weit entfernt, als er auf allen Sparten seines Kanales die Nachricht lancieren ließ, dass die Selbstmordgeschichte eine Zeitungsente gewesen sei, zugespielt von Journalisten der letzten verbliebenen Nachrichtenplattform der Konkurrenz im feindlich gesinnten, aber strategisch verbündeten Staatenbund der Nachbarkolonie, nur um sein Informationsmonopol zu brechen, seine Zeitung als Lügenblatt in Verruf zu bringen, und ihn, den verhassten Medienmogul, zu Fall zu bringen. Gleichzeitig arbeiteten alle Redakteure in allen Abteilungen von Kunst bis Wirtschaft an einer perfekt inszenierten Reportage mit einer breit gefächerten und in diesem Ausmaß nie dagewesenen Initiative für elektronische Lesegeräte, um besagter Nachrichtenplattform im Text- und Bewegtbildmarkt einen digitalen Tsunami zu bereiten, indem unterstellt wurde, im Besitz eines Leaks zu sein, einer Information, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. So jagte bald eine Nachricht die nächste und überholten die vorausgesagten Ereignisse die Nachricht selbst: Ein mediengeschichtlich historischer Moment.
Zuerst wurde behauptet, dass einer der Whistleblower über einen unterirdischen Tunnel seine Flucht vorbereitet hätte, was zur gefakten Folge hatte, dass das feindlich gesinnte, aber strategisch verbündete Imperium – alle bilateralen Schäden in Kauf nehmend – angeblich zurückschlug und eine aus dem Boden gestampfte Armee von Special Agents das Botschaftsgebäude stürmte. Das wiederum hatte faktengeprüfte, weltweite Proteste zur Folge und rief sogar die Regierung des dritten bis dahin neutralen Staatenbunds auf den Plan. Fiction made facts. Das Foto des mit Handschellen abgeführten Whistleblowers war allgegenwärtig. Es zeigte einen weißhaarigen Mann mit Glatze und ausdruckslosen Augen. Eine Woche lang gingen zuerst Hunderttausende, dann Millionen in der ganzen Welt auf die Straße, Frauen und Männer, kahlgeschoren, schrien sich die Lunge heiser: We all are David! Auf Transparenten forderten sie seine Freilassung.
Der Präsident der Regierung des feindlich gesinnten, aber strategischen Bündnispartners des benachbarten Staatenbundes musste bald einsehen, dass niemand ihm Glauben schenken wollte, obwohl er gebetsmühlenartig wiederholte, dass die vermeintliche Erstürmung der Botschaft nie stattgefunden habe. David wurde auf seine Intervention hin freies Geleit und Straffreiheit zugesagt. Auch dieses Bild ging um die Welt. Goliath war in die Knie gezwungen worden. Howard Hyprint roch den fetten Medienbraten und lud ihn ein, zur primetime auf allen Kanälen seine Geschichte, oder vielmehr die Geschichte dessen zu erzählen, der als David angetreten war, Goliath zu Fall zu bringen. Natürlich wollte er selbst dabei nicht zu kurz kommen. Immerhin verdankte er es ihm, dem Chef der monopolisierten Medien, dass es so weit gekommen war. Nie wäre ihm auch nur entfernt der Gedanke gekommen, dass David in der Zwischenzeit umgedreht, d.h. einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. Nur so konnte er es sich erklären, dass ihm der Auftritt des viel beachteten Interviews schon in der ersten Kontaktaufnahme zum Bumerang geriet, der ihn noch im Studio sitzend vom Sessel in der Chefetage fegen sollte. David nestelte vor laufender Kamera an einem unsichtbaren Hemdfaden, während Howard Hyprint sieges- und quotensicher Platz genommen hatte, um mit einem jovialen „Na, David, wie fühlst du dich? das Intervíew zu eröffnen: Hättest du noch vor wenigen Wochen geglaubt, dass es uns gelingen würde, dich auf so spektakuläre Weise frei zu pressen?“ Sie mich frei pressen, echote David. Dass ich nicht lache. Die Straße war’s, die mich frei gepresst hat.
Aber David, mahnte Howard Hyprint noch immer lachend ein, ohne medialen Druck unsererseits wäre es doch so weit nie gekommen. Ich will mir ja kein Honig auf das Brot schmieren, aber meine Rolle war dabei doch nicht zu unterschätzen, meinst du nicht auch, David?
Dieses David klang schon ein bisschen drohender. David, dessen bürgerlicher Name nicht verraten werden darf, um ihm einen Start ins neue Leben zu sichern, zu dem ihm dieses Interview verhelfen sollte, fixierte ihn kurz und knurrte dann: Was erlauben sie sich eigentlich? Woher nehmen sie die Frechheit mich zu duzen?
Die aufgeräumte Stimmung Howard Hyprints war binnen weniger Sekunden gekippt. Das konnte doch nicht wahr sein. Was schlägt der für einen Ton an mir gegenüber? Ich darf sie daran erinnern, sagte er nun schneidend, dass sie es nicht nur der Straße, sondern vor allem auch meinem ganz persönliches Engagement und dem unzähliger Redakteure verdanken, hier und nicht mehr im Gefängnis zu sitzen.
Das hätte er besser unterlassen, noch einmal auf seine glorreiche Rolle in dieser Geschichte anzuspielen. David grinste ihn an, als hätte er es mit einem Vollidioten zu tun. Sie machen ihrer Branche keine Ehre, setzte er nun an. Sie haben dem Pressewesen einen Bärendienst erwiesen, holte David nun aus. Zuerst fingieren sie eine Zeitungsente, indem sie mir Selbstmordabsichten unterstellen, dann geben sie eine fiktionale Nachricht als Leak aus, was es Whistleblowern weltweit schwer machen wird, glaubwürdig zu bleiben, und zu guter letzt haben sie die Frechheit, sich über den medialen Fake zu freuen, eine ganze Armee von special agents zur Erstürmung der Botschaft, die mir freundlicher Weise Asyl gewährt hat, auf den Plan gerufen zu haben. Was wollten sie eigentlich mit diesem Coup erreichen? Dass niemand mehr irgendeiner Nachrichtenquelle – ob online oder print Glauben schenkt? Dafür habe ich nicht gekämpft. Dafür habe ich nicht mein Leben aufs Spiel gesetzt.
Noch im letzten Satz war er aufgestanden und ließ den um Fassung ringenden Howard Hyprint sitzen.
Wer von den beiden dies alles nur geträumt hatte, blieb aber bis zu Redaktionsschluss offen.
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