
02 Jun Die Ottomane
Das Buch lag in seiner Mitte aufgeschlagen auf der Bettdecke. Eben hatte sie gelesen: Nicht einmal dazu, aus dem Haus zu gehen, kann ich mich aufraffen. Ich bleibe im Bett. Wozu noch aufstehen? Zu allem zu müde, zum Schlafen zu wach. Der schwarze Hund hat mich zu seinem Herrn gemacht. Ich habe ihn nicht gerufen. Er hat mich meilenweit gerochen und sich mir unterworfen. Aber es ist umgekehrt. Ich bin seine Magd, sein Knochen.
Es war ein Roman, der von einer Frau handelte, die sie selbst hätte sein können; ebenso verschlungen waren die Wege, die sie durch ihr Leben gegangen war bis zu der Zeit jetzt, wo sie im Bett lag, nicht krank, aber müde, …zu allem zu müde, zum Schlafen zu wach… ; als hätte die Ich-Erzählerin ihr Schicksal beschrieben, nein schlimmer noch, viel schlimmer, ja fast schon unheimlich: als hätte sie dem Autor die Geschichte ihres Lebens gleichsam in die Feder diktiert. Sogar der Name, den er dieser Frau gegeben hat, stimmte mit ihrem überein. Eleonore. Das bin ich. Mein Leben: Ein offenes Buch? Das kann nicht sein! Es war ein Erbstück ihrer Tante, das einzige, was nach ihrem Tod auf sie gekommen war, und sie hatte das Buch, ohne je einen Blick hineingeworfen zu haben, nur aufgehoben, weil es ledergebunden und eine Erinnerung an sie war; vielleicht sogar – den vergilbten Blättern nach zu schließen – eine antiquarische Rarität. Warum ihre Tante, die sich ihren Lebensunterhalt mit Illustrationen von Märchen- und Sagenbüchern verdient hatte, sie als einzig in Frage kommende Erbin testamentarisch leer ausgehen hat lassen, war ihr ein Rätsel geblieben. Eleonore konnte sich nicht erinnern, ihr dafür einen triftigen Grund gegeben zu haben. Was sollte sie mit einem Buch anfangen, das den langweiligen und keinesfalls spannende Lektüre versprechenden Titel „Die Ottomane“ trug. Originell nur fand sie, dass die Buchstaben des Titels mit Leder unterfüttert und erhaben waren, sodass man mit den Fingern darüberfahren konnte wie über eine Narbe nach einer tiefen Fleischwunde. Auch wenn sie abgesichert war und sich derzeit wenigstens keine finanziellen Sorgen machen musste, hätten ihr die Druckbögen der Tuschzeichnungen und Aquarelle wohl gefallen; diese aber waren von ihr der kleinen Stadt vermacht worden, in der sie die letzten Jahre vor ihrem Tod verbracht hatte; sie erzielten mittlerweile, wie ihr zu Ohren kam, auf Ausstellungen und Auktionen ihrer Kunstfertigkeit wegen hohe Preise.
Es war nur wenige Stunden her, da hatte sie – einer seltsamen Laune folgend – das Buch aus dem Regal genommen. Im Stehen noch hatte sie den die Geschichte gleichsam als Überschrift einleitenden Aphorismus von Samuel Coleridge gelesen, für den Phantasie nichts anderes war als eine von der Ordnung aus Zeit und Raum losgelöste Form des Gedächtnisses. Er stellte ihr die Frage: Was, wenn du schliefest? Und was, wenn du, in deinem Schlafe, träumtest? Und was, wenn du in deinem Traume, das Paradies durchwandertest und dort eine seltsame und wunderschöne Blume pflücktest? Und was, wenn du, nachdem du erwachtest, die Blume in deiner Hand hieltest? Ah, was dann?
Sie ließ die Zeilen kurz auf sich wirken. Für sie war die Frage schnell beantwortet; es würde die ihr bekannte Welt aus den Angeln heben. Ohne sich länger mit den Konsequenzen zu beschäftigen, hatte sie sich auf das Sofa gelegt, und sofort die nächste Seite aufgeschlagen, als sie erschrocken das Buch zuklappte. Das konnte nicht sein. Das gibt es nicht. Ich träume. Es kann nur ein Traum sein, dachte sie. Konnte es möglich sein, dass ich ein Bild gesehen habe, das genau den Raum zeigt, in welchem ich mich schon als Kind aufgehalten hatte, weil ich seit meiner Geburt Sonnenlicht vermeiden musste?
Sie war keine Träumerin, bewegte sich mit nachtwandlerischer Sicherheit in allen Kreisen und führte trotz der Abgeschiedenheit, die ihr die Krankheit aufzwang, ein für ihre Zeit freizügiges Nachtleben. Sie war intelligent, arrogant, provozierend und von einer geheimnisvollen Anmut. Dass sie mit leeren Absinthflaschen nächtelang Schach gegen sich selbst spielte, wurde von ihrer Umgebung als verzeihliche Schrulle gesehen. Wer schon konnte wirklich nachvollziehen, wie es sich anfühlen musste, seine Haut nur dem Licht der Sterne und des Mondes aussetzen zu dürfen, weil sie die Strahlen der Sonne sonst verbrennen würden?
Die Jalousien waren heruntergezogen und verdunkelten das Zimmer. Selbst als Tageslicht hereingefallen war – und so eine Zeit musste es für diesen Raum einmal gegeben haben – hatte die braune Farbe der Tapeten die düstere Atmosphäre, die in ihm herrschte, noch gesteigert. Nie jedenfalls – und das Umbra-Braun war zum Van-Dyck-Braun nachgedunkelt mit den lichtlosen Jahren – hatte das Zimmer seine Wirkung auf die Bewohner oder seltenen Besucher je verfehlt. Nur in der braunen Nacht, welche die blau- bis violett schwarze Farbe der tiefsten Dämmerung meint, fühlte sie sich geborgen.
Nicht genug damit. Wenn es kein Traum war, in welchem sie dieses Bild gesehen hatte, war es die gleiche, mit blauem Samt gepolsterte Ottomane, dessen nicht sichtbares Ende im Bild keine Armlehne enthielt. Auf ihr lag – und das hatte sie sich nicht eingebildet – eine Frau mit wachsfarbener Haut, und auf der Bettdecke das Buch, in welchem sie nicht mehr aufhören würde zu lesen, um an seinem Ende vielleicht die Frage beantworten zu können: Was, wenn ein Mensch in den Himmel stiege, um dort das Paradies zu durchwandern…und käme beim Aufwachen zurück mit einer Blume, die er dort gepflückt hat. Was dann?...
Was aber oder vielmehr, wen suchte die ausgestreckte linke Hand? Auf wem ruhte der zärtliche Blick der Frau? Im Zimmer war niemand auszumachen. Selbst wenn jemand sich noch so sehr ins Dunkel zurück ziehen hätte wollen, um unentdeckt zu bleiben, die Geste der Frau und ihr Blick ließen den Schluss zu, dass noch wer da war, dem Blick und Geste galten.
Nachdem sie das Buch auf die Decke gelegt hatte, um sich von dem Schrecken zu erholen, der sie mit der Frage zurückgelassen hatte, wie das sein könne; wie das möglich ist, dass nicht nur das Bild, von dessen Existenz sie sich immer wieder überzeugen musste, aber auch die eben gelesenen Zeilen genau das wiedergaben, was sie im Augenblick tat und empfand, erwachte sie in ihrem Traum. Hellwach stellte sie fest, dass eben ein Mädchen ins Zimmer gekommen war. Es kommt ihr bekannt vor. Es hätte die Tochter sein können, die sie sich gewünscht, aber nie bekommen hat. Das Mädchen jedenfalls steht plötzlich da. Es trägt ein rotes Kleid, wie sie selbst eines getragen hatte, als sie noch ein Kind war. Auch hat es die dieselben langen, kastanienbraunen Haare. Ein Maler, der diesen Traum auf Leinwand zu bannen den Auftrag hätte, wird Schwierigkeiten haben, diese Farbe auf seiner Palette so zu mischen, dass sie sich vom Hintergrund der braunen Tapete abhebt. Und es überraschte sie keineswegs, solche absurden Gedanken zu hegen, statt das Mädchen zu fragen, wer es sei.
Sollen wir die Tapete gegen ein helles Ocker tauschen?, fragte sie beiläufig und streckte ihre linke Hand nach dem Mädchen aus, um ihm zärtlich über die Wange zu streicheln. Aber sie sagte es nicht. Sie musste es nicht sagen. Sie konnte sich mit ihm ganz ohne Worte unterhalten. Auch versetzte sie es in keinerlei Staunen, als das Zimmer, das eben noch fast in einem lakritzenhaft dunklen Schatten ersoffen war, durch den Tapetenwechsel hell und freundlich wirkte.
Die Apotheke hat zugehabt, sagte das Mädchen. Danke für das rote Kleid mit den Ärmelrüschen. Es gefällt mir. Weißt du, dass ich dir schon einmal für einen kurzen Augenblick begegnet bin? Du heißt Eleonore, nicht wahr? Ich will, dass du aufstehst und mitkommst.
Aber wohin? Und das Buch? Kann ich es mitnehmen? Wo bist du? Ich kann dich nicht mehr sehen?
Verzweifelt hatte sich Eleonore bemüht, nicht aufzuwachen, um dieses Gefühl unheimlicher Nähe nicht zu gefährden. Sie wollte ja mitkommen. Sie wusste ja, dass die Reise irgendwann ein Ende finden würde, auch, dass man nirgends gewesen ist, bis man heimkehrt; durch jede Kälte wäre sie mit ihr gegangen, und nie hätte sie darauf bestanden, im Besitz dieses seltsamen Buches zu bleiben. Oder doch? Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher. Nun aber war es geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen.
Eleonore war es gelungen, Kontakt zu ihrem früheren Ich aufzunehmen. Sie hatte das Gewebe des Raumes und den ihn umhüllenden Schleier der Zeit zerrissen; sie hatte den Datenspeicher der Träume angezapft, der solche interdimensionalen Reisen möglich macht. Quantenphysiker würden sagen, sie sei ins Wurmloch getunnelt, in ein Paralleluniversum, vielleicht sogar in den zehndimensionalen Hyperraum; so nämlich haben sie ihn – prosaisch wie sie nun einmal sind – getauft. Niemand aber, wirklich niemand, auch die nicht, die behaupten, zwischen Fiktion, Traum, Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden, und schon gar nicht diejenigen, die sich rühmen, zwischen Erinnerung und Einbildung eine Grenze ziehen zu können, wussten und wissen zu erklären, wie es ihr gelungen ist, das Buch wie Coleridge’s Blume aus dem Paradies, aus der Welt ihres Traumes in ihre wirkliche Welt zu retten, obwohl es noch gar nicht geschrieben, und ihre Welt von einem Maler erfunden worden war mit samt der Ottomane in dem Van-dyk-braunen Zimmer und dem Mädchen in dem roten Kleid mit den Ärmelrüschen.
Wer aber diese schützende Membran, das Tor zwischen den Universen aufstößt und durchbricht, und als einen Beweis, sich dort aufgehalten zu haben, etwas mitbringen will, sei es die zitierte Blume oder besagtes Buch, zahlt einen hohen Preis. Ihn zu zahlen, schien Eleonore bereit gewesen zu sein, denn sie hatte eine Antwort auf die Frage „Was dann?“ gefunden.
Von nun an nämlich ist sie nur noch ein ein-dimensionales Abbild ihres eingebildeten Selbst, und fristet ihr belangloses Dasein im wirren Kopf eines Malers. Dort wartet das Bild, das er sich von Eleonore gemacht hat, auf seine Materialisierung in Farben, Leinwand und Rahmen. Der Maler weiß, dass es möglicherweise ein weitaus schlimmeres Schicksal erleiden wird als die Majas von Goja, die ein Zentennium auf dem Speicher der Akademie der Schönen Künste von San Fernando verstaubten und darauf warten mussten, einer aufgeschlosseneren Öffentlichkeit zugemutet werden zu können; obwohl er genau weiß, wie es aussehen wird, weil es gleichsam schon vor seiner Geburt Gestalt angenommen hatte, denkt er nicht einmal im Traum daran, es zu realisieren.
Er sieht sie, wie eine Brautjungfer, auf einer Ottomane liegend; sie streckt die Hand nach einem Mädchen im roten Kleid aus, das sie selbst einmal getragen hat in einer fernen und nur im Traum wieder erlebbaren Zeit, und streichelt mit zärtlichem Blick seine knochenbleichen Wangen. Das Mädchen hat lange, wellige Haare. Sie sind kastanienbraun, und er weiß, dass es ihm große Schwierigkeiten bereiten wird, die Brauntöne so aufeinander abzustimmen, dass sie als Haare noch erkennbar sein werden. Auf der Tagesdecke liegt ein in der Mitte aufgeschlagenes Buch. Eben hat sie die Zeilen gelesen: Was, wenn du schliefest? Und was, wenn du, in deinem Schlafe, träumtest? Und was, wenn du in deinem Traume, das Paradies durchwandertest und dort eine seltsame und wunderschöne Blume pflücktest? Und was, wenn du, nachdem du erwachtest, die Blume in deiner Hand hieltest? Ah, was dann?
Es war der ungeschriebene Roman, der von einer Frau handelte, die sie selbst hätte sein können; sogar der Name stimmte mit dem ihren überein…
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