Zeugung

 

 

Zeugung

Es ist einfach. Einfacher als er es sich vorgestellt hat. Er muss nur die Fingerkuppen auf die Tasten des Keyboards legen und schon trommeln sie Wörter; sie beginnen im Widerschein eines Feuers zu tanzen; sie geben sich die Hände und stecken ganze Sätze in Brand. Stunden werden zu Jahreszeiten. Der Kastanienbaum im Hof hat mitten im Winter zu blühen begonnen. Noch immer wütet der Brand; er muss gelöscht werden, bevor…

Die drei Punkte kündigen eine Fortsetzung an, die nicht stattfindet. Er könnte eine ganze Seite mit diesen Zeichen füllen. Wäre ein Gedankenstrich nicht angebrachter? Ein Gedankenstrich, der seiner selbst gedenkt; ein Innehalten, das nicht hält, was es verspricht und das sinnlose Warten auf den Einfall als Akt des Widerstands erklärt?

Die Fingerkuppen, die auf den mit Buchstaben markierten Tasten liegen, warten auf ein Signal.  Die Sätze fragen, wie es weitergehen soll. Da folgt nichts mehr. Er nimmt die Finger von den Tasten, reibt sich die Augen, steht auf, geht nach draußen und zündet sich eine Zigarette an. Geste der Verlegenheit. Schreibhemmung. Schreibblockade. Das innere Auge kann ein Bild vorwegnehmen und der Pinsel bannt es auf die Leinwand. Aber Papier ist keine Leinwand. Elektronisches Papier noch viel weniger. Da kann er noch so lange auf den Schirm starren. Nichts.

Ein Flugzeug. Ein Folgetonhorn in der Ferne. Auf dem Balkon eine Krähe. Sie schüttelt ihr Gefieder. Putzt. Krächzt. Fliegt davon. Und wieder ein Flugzeug. Er sitzt zwischen den beiden Notausgängen. Economy. Ein Flug mit einer Billig-Airline. Es gibt kein Essen. Nur eines gegen Bezahlung. Er schaut den Flugbegleiterinnen bei ihrer Pantomime zu. Bald wird sich der Kapitän zu Wort melden, Windgeschwindigkeit und die Fallhöhe ansagen. Auch die Temperatur, die ihn am Zielort empfangen wird. Es ist eine schöne Männerstimme. Sie hat einen tiefen Bass und beruhigt, obwohl sie den Namen der Destination nicht und nicht über die Lippen bringt. Er ist unterwegs, aber weiß nicht wohin. Anzukommen war aber schon von jeher nie sein Ziel.

Geschichten, das weiß er, kommen ohne eine Handlung nicht aus. Es müssen Menschen auftreten. Die Menschen müssen einen Namen haben, aber viel wichtiger als einen Namen müssen sie einen Charakter haben; am besten einen, der sich aus Widersprüchen und aus einer der 7 Todsünden zusammensetzt. Als eine dieser Sünden nimmt er sich die übertriebene Selbstwahrnehmung vor. Eigentlich eine verniedlichende Umschreibung. Ein anderes Wort für Eitelkeit.

Kaum hat er diesen Entschluss gefasst, ist dieser Mensch schon geboren und getauft und … hört… ja auf wen?… auf einen Namen natürlich. Und was ist das für ein Name? Nennen wir ihn Gottfried. Wer Gott im Namen hat und auch noch Frieden, ist von seinen Eltern reich beschenkt worden. Gottfried also. Den Eltern sei gedankt. Wie aber verhindern, dass hinter dem Personalpronomen er und dem Namen Gottfried, hinter beiden also der Autor vermutet werden kann? Mit diesem Problem würde er sich später auseinandersetzen; vielleicht aber weiß Gottfried eine Lösung. Kommt Zeit, kommt Rat.

Der Anfang ist also gemacht. Jetzt warnt ihn die benützte Software, die automatische Neuerung zu aktivieren. Gut. Soll oder muss sein. Kaum aber ist er dieser Aufforderung gefolgt, poppt ein anderer Schirm auf, der ihn darauf aufmerksam macht, dass der Grafikkartentreiber veraltet ist und ein neuer heruntergeladen wird. Das geschieht im Hintergrund. Eine Installation aber scheint nicht möglich, da die Grafikkarte die Installation nicht unterstützt.

Um den Flow nicht zu verlieren, will er darauf keine Rücksicht nehmen. Viel zu oft hat er sich von dem abbringen lassen, was er vorhatte, weil das System von ihm zu verlangen schien, es ununterbrochen zu optimieren. Diese Optimierung hat er auch analog mit sich geschehen lassen, bis er an dem Punkt angelangt war, wo er feststellen musste, dass es darauf hinausläuft, jemand zu sein, der weder auf andere noch auf sich selbst Rücksicht nimmt. Um was zu erreichen? Um zu erreichen, dass man jeden Morgen vor dem Spiegel steht und sich fragt, ob man der ist, der man sein oder werden wollte. Aber – er spricht mit sich selbst und das immer öfter in letzter Zeit – so lange kann ich gar nicht vor den Spiegel gehen, dass ich mir mein Leben glaube. Dieser Satz. Der ist nicht von ihm. Den hat er aus einem Film. Aber welchem?

Ich hab mir eingebildet, dass ich etwas Wichtiges tue, dass Anerkennung etwas wert ist, und bekomme ich sie, fühle ich nichts, nur, dass ich sie nicht verdiene.

Dein Mangel an Bescheidenheit ist anmaßend, antwortet sie. Du wirst zu dem, was andere von dir denken. Du gibst auf und spielst das Opfer, wirst bitter. Das ist anstrengend, sagt sie.

Wenn einer nichts mit sich anzufangen weiß, wird das Nichts etwas mit ihm anfangen. Das ist auch ein Zitat; er hat es aus einem Buch, das sich mit der Zeit beschäftigt. Seit Gottfried aus seinem Beruf ausgeschieden und in Rente gegangen ist, hat ein schleichender Prozess begonnen, auf den er nicht vorbereitet war. Mittlerweile hat ihn das Nichts fest im Griff. Er ist sich selbst im Weg. Ja, genau das ist es. Er ist überfordert. Die vielen Möglichkeiten, den Tag zu verbringen, überfordern ihn. Kaum aufgestanden, ist Gottfried schon wieder müde. Was sollte er machen? Eine Runde ums Haus schleichen, wie es der Nachbar mit seinem mit ihm altgewordenen Hund tut? Er hat aber keinen Hund, der ihn zwingt, vor die Tür zu gehen. Nichts ist schlimmer als aufzustehen, ohne ein Ziel vor Augen und sich niederzulegen ohne Hoffnung, dass es Morgen anders sein könnte.

Um irgendetwas zu tun, versucht er das Nichts zu beschreiben und das, was es mit ihm zu tun begonnen hat, seit er mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß. Ich muss mich ihm stellen, denkt er; dieses Nichts hat eine zeitliche Spanne. So viel ist klar. Es ist ein Dazwischen, und wie jedes Dazwischen überbrückt es zwei Zustände: Der eine unterscheidet sich vom anderen nur dadurch, dass er sich des einen bewusst ist, während er den anderen weder mit dem Schlaf noch mit einem ihm bekannten Zustand vergleichen kann, da es ihn in diesem zweiten nicht mehr gibt. Die Brücke dorthin hat keinen Pfeiler. Das sind alles ziemlich trübe Gedanken, murmelt Gottfried. Ja, es ist eine Depression, in die er geraten ist. Schlimm, so eine Depression.

Das Licht bleibt gedimmt. Die Fensterblenden sind zu. Alles schläft. Nein: Ich bin wach und meine Nachbarn sind wach. Sitze eingeklemmt zwischen zwei Männern, die seit Stunden mit ihren Fingern über die Smartphone-Screens scrollen. Der eine ist Russe und sehr gesprächig. Er zeigt mir Fotos von seiner Frau, von seinen Kindern, von seinem Hund, von seiner Datscha. Er ist auf Geschäftsreise. Über den Präsidenten lässt er nichts kommen. Ich suche Schlaf. Aber er hat gerade Fahrt aufgenommen. Der Präsident hat Russland wieder groß gemacht. Die Krim? War immer schon russisch. Der Krieg in der Ukraine? Was für ein Krieg? Die Bomben auf Aleppo? Notwendig. Wir haben den IS besiegt. Das hat seinen Preis. Er sagt wir. Ich möchte schlafen.

Reiß dich zusammen! So schlimm ist es nicht, sonst würdest du nicht vor dem Schirm sitzen und dir einen Sitznachbarn ausdenken, der ein Russe ist. Du wolltest doch das Nichts definieren, in das du gestürzt bist, spottet eine Stimme. Auch diese gehört ihm. Wolltest du nicht eine Geschichte erzählen? Ist das alles? Was ist mit dem Helden deiner Geschichte? Hattest du nicht schon einen Namen für ihn? Was ist sein Problem? Welcher Herausforderung muss er sich stellen? Wer oder was sind die Widerstände, die ihn daran hindern, der Lösung seines Problems näherzukommen? Ach ja; er ist in eine Depression geraten. Und jetzt? Was tut er, um aus ihr wieder herauszufinden? Was unternimmt er, um zu verhindern, dass alle glauben, er sei der Autor und nicht Gottfried?

Ist ja gut, hört er sich antworten. Ist ja gut. Danke, dass du mich an die dramaturgischen Notwendigkeiten erinnerst, die jede Geschichte verlangt, will sie sich nicht in das Nichts auflösen, dem sie – kaum begonnen und ohne jeden Höhepunkt – unaufhaltsam und ohne sein Zutun zusteuert. Also, wenn das Nichts sein Problem ist, dann kann nichts ihm helfen. Ist es nicht so? Lassen wir es also. Lassen wir es so stehen. Vielleicht findet das Nichts, das nichts ist, eine Lösung, die dem Etwas, das ist, verborgen bleibt. Ja. Am besten wir warten zu.

Der Kapitän hat – nach Stunden bangen Schweigens – seine Stimme wiedergefunden. Die Passagiere mögen die Turbulenzen verzeihen. Sobald der Tower ihm das Signal gäbe, würde er zum Landeanflug ansetzen. Sie werden aufgefordert, die Mobiltelefone und Laptops auszuschalten, die Rückenlehne in Originalposition zu bringen und sich anzuschnallen. Das Flugzeug befindet sich im Sinkflug. Die Ohren tun weh. Kinder weinen, Eltern versuchen zu beruhigen.

Jetzt – nachdem er gewartet hatte – etwas später: so heißt das in den Sprechblasen von Comics – da endlich, nachdem der Kastanienbaum wirklich ausgeschlagen hat und es schon in den Herbst geht, der seine Blätter die Farbe von Rost annehmen lässt, wurde sein Warten belohnt, und es ist ihm gleichgültig geworden, ob die Sätze zu einer Geschichte finden oder einfach nur Sätze sind oder gar nur Wörter, die mitten im Satz steckenbleiben, nach Luft ringen und in einem kehligen Laut verenden… drei Punkte, die auf eine Fortsetzung hoffen lassen; eine Hoffnung, die er enttäuschen muss, weil keine stattfindet. Fortsetzung meine ich. Den Tagen folgen Nächte und diese wieder anderen Tagen und Nächten, und er fragt sich, ob noch immer Sonntag sei oder ein anderer Tag in den Wochen, die ihm vorausgingen oder nachfolgen. In diesem kreisenden und kreißenden, sich immer wieder selbst gebärenden Sein wie in einer Echokammer gefangen, war Gottfried endlich der geworden, der ihn erfunden hatte; mit einem Augenzwinkern fragt er jetzt und gibt sich gleich selbst die Antwort:

Was kann es Schöneres geben, als sich selbst zu zeugen und einer Geburt beizuwohnen, die den Tod vorwegnimmt? Gezeugt in tausendundeiner Nacht, in der es nie Tag werden durfte, um die Lust nicht zu stillen, die einer Zeugung vorausgeht. Eine herkulische Aufgabe, von der er behaupten kann, sie gemeistert zu haben. Es ist und bleibt alles, wie es nie war.

Wenn man “Der Weiße Hai” rückwärts schaut, handelt der Film von einem Hai, der so lange Menschen ausspuckt, bis sie eine Strandbar eröffnen. So viel zum DAS LEBEN VOM ENDE HER DENKEN.

Der Weg in die Träume beginnt mit dem Zähneputzen oder damit, als Pilot beim Tanken des Fluggerätes Gallonen mit Litern zu verwechseln. Das kann über dem Ärmelkanal zum Verhängnis werden, wenn plötzlich der Sprit ausgeht.

Seiner Einschätzung nach müsste der Treibstoff noch für eine halbe Stunde reichen. Er hatte keinen Fallschirm und es gab auch keinen Notausstieg. Er war mit einer Breezer CL unterwegs, ein Leichtflugzeug, das er für einen Kunden nach Deutschland und von dort nach Österreich überstellen sollte. Es hatte ein geräumiges Cockpit mit einem ergonomisch geformten Sitz, eine aufwendige Sonderlackierung, eine großzügige Gepäckablage, und einen Rotax mit 100 PS. Mit Funk, Transponder, aufblasbaren Rücken- und Lendenpolstern um diesen Preis ein absolutes Schnäppchen. Den 80 Liter Tank hätte ich beinahe vergessen. Damit hätte er bei 150 km/h von London nach Calais bei einem Verbrauch von 11l/h bis nach Frankfurt fliegen können, seinem Ziel. Hätte. Gottfried, sein Name. Mit 3000 Flugstunden ein routinierter Hase in diesem Geschäft. Sollte man annehmen. Er hatte zwar seine Linienpilotenlizenz nach einem Crash verloren, er war zur Durchführung des Funkverkehrs im Instrumentenflug berechtigt, beherrschte also die Sprache der Funker…

Die Fingerkuppen ruhen noch immer auf den Tasten. Was trommelt, ist der Regen auf der Fensterscheibe. Was die Sätze um ein Feuer tanzen ließ, ist heruntergebrannt. Die glühende Kohle zischt. Der Regen löscht die Glut. Die Wörter haben nichts mehr zu sagen… Die Einfälle werden einfältig. Der Widerstand ist gebrochen. Vom Schlaf überrascht, verdichten sich die Gedanken zu Bildern. Gottfried stürzt in die See, er hat Liter mit Gallonen verwechselt.

Die Strandbar ist eröffnet.

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