
26 Feb Die Pappel
In allen Jahreszeiten ist die Pappel schön, die hinter dem Haus steht und auf sein Dach hinunterschaut; Selbst jetzt im Winter, wenn sie nackt ist und aussieht wie ein Schattenriss mit den haarfeinen Verästelungen ihrer himmelan strebenden Zweige, die keine Schere so schneiden und auf den blassblauen Grund einer fahlen Wintersonne kleben kann. Ihr Stamm teilt sich im oberen Drittel, als wüsste er, dass er – einmal dort angelangt – allein nicht höher hinaufkommt. Die wenigen Äste wollen sich mit ihm messen und sind beinahe ebenso stark. Alles will kerzengerade nach oben und erinnert mich gerade an das Lineal, das uns Kindern in den Rücken gestopft wurde, damit wir Haltung einzunehmen lernen. Ja, sie zeigt Haltung, die Pappel.
Sie war ein Baum ohne jede Bedeutung für mich, als ich mit ihr aufwuchs. Sie trug keine essbaren Früchte und lud nicht zum Klettern ein. Nur die Geräusche, die der Wind macht, wenn er mit ihr spielt, sind mir noch heute im Ohr. Erst jetzt, am frühen Abend meines Lebens, das sie zwei- und drei Mal überdauern wird, sehe ich sie. Dabei habe ich sie schon immer gesehen, von ihr aber nie Notiz genommen. Vielleicht, weil sie einfach da war und gar nicht wegzudenken, viel zu selbstverständlich, um mir über sie Gedanken zu machen. Ja, was wir als selbstverständlich voraussetzen, dem schenken wir wenig Beachtung. Vielleicht jetzt mehr, weil der Mikrokosmos mit den Jahren an Bedeutung gewinnt, und man mit Staunen feststellt, wie viel Welt es in ihm noch zu entdecken gilt.
Jetzt eben schickt sich die Sonne an, hinter den Horizont zu kippen, und illuminiert den Himmel selbst nach ihrem Untergang. Wie eine Fackel steht sie nun; aufrecht und unbeugsam, wenn kein Wind geht, nachgiebig und selbst zu Zerreißproben bereit, wenn er in seine Äste greift und sie schütteln will. Der Sturm aber muss erst geboren werden, der sie einmal knicken soll, hatte ich angenommen.
Auf gleicher Höhe mit seinem Wipfel, denn er hat keine Krone, ist der Mond aufgegangen. Noch gibt er von sich nur den untersten Rand als eine Sichel preis, wie sie auch an Stelle von Hörnern in der griechischen Sagenwelt auf Stierschädeln abgebildet ist. Wie eine goldgezimmerte Schale ist diese Sichel, in die sich das Licht weit entfernter Sterne ergießt, die nach und nach dem Mond Gesellschaft leisten. Irgendwann, wenn die Menschen in ihren Häusern schon längst sich ihren Träumen anvertraut haben, schwimmt er wie ein goldener Kugelfisch hinter dem Geäst der Pappel vorbei, die nun die Gestalt von sich in der Strömung wiegenden Algen angenommen hat. Mit ihrer Herzwurzel züngelt sie in die Tiefen des Erdreichs und wenn sie auf Felsen stößt, verbreitet sie sich wie ein rasendes Pilzgeflecht, das die Gunst der Stunde nutzt, um alles aufzubrechen. Sie reißt ihre Wurzeln aus, um stolpernd gehen zu lernen, um einmal nur – wie jede Nacht – laufend dem goldenen Ball nachzujagen, der gerade dann in den Brunnen fällt, wenn die Menschen aufwachen. Dann wieder steht sie da, als wäre nichts gewesen und auch ich tue so, als wüsste ich nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, wären sie mir nicht vor der Zeit zugefallen.
Obwohl sie gefällt worden war, und dort, wo sie stand, nichts, nicht einmal eine Grasnarbe an sie erinnern will, ist sie in meinem Kopf. Ich muss nur die Augen schließen, zeigt sie sich mir in jeder Jahreszeit, in welcher ich sie sehen will; und wenn ich mich auf ihr Erscheinen einlasse, höre ich, wie der Wind mit ihren Blättern spielt, und sehe mich mit meinem Bruder auf Stelzen, ums Haus laufen, die uns Großvater gebastelt hat: Eine gespeicherte Ewigkeit im Jetzt.
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