Nach einer Redaktionssitzung befahl HKH, ein Akronym, dessen Wortbestandteile längst in Vergessenheit geraten waren, alle Ressortleiter in sein Büro. Eine neue, einzigartige Strategie sollte dafür sorgen, dass die weit über die Grenzen des Landes hinaus vor allem für seine Hintergrundrecherchen bekannte Zeitung auch online ohne Konkurrenz blieb. Nachdem sie Platz genommen hatten, begann er seine Rede so:
Einige von euch gehören ja noch der Generation von Journalisten an, die wissen, dass es einmal einen 12-stündigen Rhythmus gegeben hat, in welchem, was in Radio und TV schon gesendet war, erst anschließend in den Printmedien seinen Niederschlag finden konnte. Mittlerweile kann die Presse online wenigstens mit diesen Medien zeitlich und jetzt schon im Zweistundenrhythmus nicht nur gleich-, sondern an ihnen vorbeiziehen. So haben wir auch durch eingebettete Audio- und Videobeiträge erhebliche Marktanteile in diesem Dienstleistungssegment gesichert, die es auszubauen gilt. Längst schon hat die Nachricht das Ereignis eingeholt. Wir werden die ersten sein, die über Ereignisse berichten, die erst stattfinden, nachdem über sie berichtet worden war. Schon was von predictive Analytics gehört? Diese Technologie nutzt mathematische Algorithmen und statistische Modelle, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Was die Verbrechensbekämpfung kann, die Kriminellen immer einen Schritt vor aus ist, sollten wir als vierte Gewalt einsetzen, um der Konkurrenz zuvorzukommen. Die schläft bekanntlich nicht, meine Dame und Herren…
Zeitungen, hielt ihm HKH – keinen Widerspruch mehr duldend entgegen, teilen ja nicht nur etwas mit, weil es wichtig ist, sondern machen auch etwas wichtig, weil es mitgeteilt wird. Wer mit meinem Vorschlag nicht einverstanden ist, hebe die Hand! Weil alle instinktiv wussten, dass dieses Signal eine fristlose Entlassung zur Folge hätte, – blitzschnell ihr ganz und gar privates Soll und Haben bilanzierend – war jeder Widerstand gebrochen.
Schon in der nächsten Ausgabe wurde „enthüllt“, dass der Whistleblower, der seit Jahren im Transitraum eines Flughafens festsaß, ein extraterritorialer Raum, in den er geflüchtet war, um nicht ausgeliefert werden zu können, – einen Selbstmordversuch unternommen habe. Die von der Zeitung mit großem Aufmacher lancierte Meldung sollte die Leser weltweit wieder an die moderne David–Goliath-Geschichte erinnern, die damals monatelang für Schlagzeilen gesorgt, viele Regierungen in Verlegenheit gestürzt, und ein mächtiges Imperium ins Wanken gebracht hatte. Inzwischen aber war das alles so gut wie vergessen und weltweit machten die immer verheerenderen Katastrophen wieder die Schlagzeilen. Die Regierenden aber der in 3 Machtblöcke politisch aufgeteilten Staatenbünde sahen auf die Erde wie auf einen Patienten, der keine kurative Behandlung mehr verdient, weil er das ihm zugedachte Alter schon überschritten hatte.
Die Nachricht vom Selbstmord also wurde schon deshalb begrüßt, weil sie endlich wieder einmal ein Einzelschicksal in den Vordergrund rückte. Ja, was war mit dem Whistleblower? Lange nichts mehr von ihm gehört. Warum eigentlich noch immer ein Gefangener? Jetzt – beinahe 20 Jahre später? Das fragten sich die Menschen, wenn sie von ihrem eigenen Glück oder Unglück nicht gerade allzu abgelenkt waren.
Nicht in der nächsten Ausgabe, sondern ein wenig später, nachdem zu gedruckten Interviews mit Experten Videofassungen die Nachricht elektronisch erweiterten, um so die Zeitungslektüre in dieser Symbiose zu vervollständigen, stellten die Redakteure aller Ressorts mit Genugtuung fest, dass HKH Recht behalten sollte: Die Verweildauer im Onlinebereich auf den hybriden Internetseiten der Zeitung, die analog der Leserbindung entsprach, schnellte wie die Auflagenstärke rapid in die Höhe und führte zu einer geradezu euphorischen Stimmung unter den Anlegern. HKH war am Höhepunkt seiner Karriere, aber er wollte mehr und noch höher hinauf. Er wollte über das Medium zur personifizierten vierten Gewalt im ganzen Land werden; derjenige, der als graue Eminenz dessen Geschicke lenkt. Und davon war er nicht mehr weit entfernt, als er auf allen Sparten seines Kanales die Nachricht lancieren ließ, dass die Selbstmordgeschichte eine Zeitungsente gewesen sei, zugespielt von Journalisten der letzten verbliebenen Nachrichtenplattform der Konkurrenz im feindlich gesinnten, aber strategisch verbündeten Staatenbund der Nachbarkolonie, nur um sein Informationsmonopol zu brechen, seine Zeitung als Lügenblatt in Verruf zu bringen, und ihn, den verhassten Medienmogul, zu Fall zu bringen. Gleichzeitig arbeiteten alle Redakteure in allen Abteilungen von Kunst bis Wirtschaft an einer perfekt inszenierten Reportage mit einer breit gefächerten und in diesem Ausmaß nie dagewesenen Initiative für elektronische Lesegeräte, um besagter Nachrichtenplattform im Text- und Bewegtbildmarkt einen digitalen Tsunami zu bereiten, indem unterstellt wurde, im Besitz eines Leaks zu sein, einer Information, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. So jagte bald eine Nachricht die nächste und überholten die vorausgesagten Ereignisse die Nachricht selbst: Ein mediengeschichtlich historischer Moment.
Zuerst wurde behauptet, dass der Whistleblower über einen unterirdischen Tunnel seine Flucht vorbereitet hätte, was angeblich zur Folge hatte, dass das feindlich gesinnte, aber strategisch verbündete Imperium – alle bilateralen Schäden in Kauf nehmend – angeblich zurückgeschlagen und eine aus dem Boden gestampfte Armee von Special Agents das Flughafengebäude gestürmt habe. Das wiederum hatte faktengeprüfte, weltweite Proteste zur Folge und rief sogar die Regierung des dritten bis dahin neutralen Staatenbunds auf den Plan. Fiction made facts. Das Foto des mit Handschellen abgeführten Whistleblowers war allgegenwärtig. Es zeigte einen weißhaarigen Mann mit Glatze und ausdruckslosen Augen. Eine Woche lang gingen zuerst Hunderttausende, dann Millionen in der ganzen Welt auf die Straße, Frauen und Männer, kahlgeschoren, schrien sich die Lunge heiser: We all are David! Auf Transparenten forderten sie seine Freilassung.
Der Präsident der Regierung des feindlich gesinnten, aber strategischen Bündnispartners des benachbarten Staatenbundes musste bald einsehen, dass niemand ihm Glauben schenken wollte, obwohl er gebetsmühlenartig wiederholte, dass die Erstürmung des Flughafens nie stattgefunden habe. David wurde auf seine Intervention hin freies Geleit und Straffreiheit zugesagt. Auch dieses Bild ging um die Welt. Goliath war in die Knie gezwungen worden. HKH roch den fetten Medienbraten und lud ihn ein, zur primetime auf allen Kanälen seine Geschichte, oder vielmehr die Geschichte dessen zu erzählen, der als David angetreten war, Goliath zu Fall zu bringen. Natürlich wollte er selbst dabei nicht zu kurz kommen. Immerhin verdankte er es ihm, dem Chef der monopolisierten Medien, dass es so weit gekommen war. Nie wäre ihm auch nur entfernt der Gedanke gekommen, dass ihm der Auftritt von David schon in der ersten Kontaktaufnahme zum Bumerang geraten könnte, der ihn noch im Studio sitzend vom Sessel in der Chefetage fegen sollte.
David nestelte vor laufender Kamera an einem unsichtbaren Hemdfaden, während HKH sieges- und quotensicher Platz genommen hatte, um mit einem jovialen „Na, David, wie fühlst du dich? das Intervíew zu eröffnen: Hättest du noch vor wenigen Wochen geglaubt, dass es uns gelingen würde, dich auf so spektakuläre Weise frei zu pressen?“
Sie mich frei pressen, echote David. Dass ich nicht lache. Die Straße war’s, die mich freigepresst hat.
Aber David, mahnte HKH noch immer lachend ein, ohne medialen Druck unsererseits wäre es doch soweit nie gekommen. Ich will mir ja keinen Honig auf‘s Brot schmieren, aber meine Rolle war dabei doch nicht zu unterschätzen, meinst du nicht auch, David?
Dieses David klang schon ein bisschen drohender. David, dessen bürgerlicher Name nicht verraten werden darf, um ihm einen Start ins neue Leben zu sichern, zu dem ihm dieses Interview verhelfen sollte, fixierte ihn kurz und knurrte dann: Was erlauben sie sich eigentlich? Woher nehmen sie die Frechheit mich zu duzen?
Die aufgeräumte Stimmung HKHs war binnen weniger Sekunden gekippt. Das konnte doch nicht wahr sein. Was schlägt der für einen Ton an mir gegenüber, dachte HKH: Ich darf sie daran erinnern, sagte er nun schneidend, dass sie es nicht nur der Straße, sondern vor allem auch meinem ganz persönliches Engagement und dem unzähliger Redakteure verdanken, hier und nicht mehr im Transit eines Flughafens zu sitzen.
Das hätte er besser unterlassen, noch einmal auf seine glorreiche Rolle in dieser Geschichte anzuspielen. David grinste ihn an, als hätte er es mit einem Vollidioten zu tun.
Sie machen ihrer Branche keine Ehre, setzte er nun an. Sie haben dem Pressewesen einen Bärendienst erwiesen. Zuerst fingieren sie eine Zeitungsente, indem sie mir Selbstmord-absichten unterstellen, dann lancieren sie eine fiktionale Nachricht, die es Whistleblowern weltweit schwer machen wird, glaubwürdig zu bleiben, und zu guter letzt haben sie die Frechheit, sich über den medialen Fake zu freuen, eine ganze Armee von special agents zur Erstürmung des Flughafens, der mir freundlicherweise Asyl gewährt hat, auf den Plan gerufen zu haben. Was wollten sie eigentlich mit diesem Coup erreichen? Dass niemand mehr irgendeiner Nachrichtenquelle – ob online oder print Glauben schenkt? Dafür habe ich nicht gekämpft. Dafür habe ich nicht mein Leben aufs Spiel gesetzt.
Noch im letzten Satz war er aufgestanden und ließ den um Fassung ringenden HKH sitzen. Die letzte Kameraeinstellung zeigt einen gebrochenen Mann, der einst als personifizierte vierte Gewalt so viel Macht besaß, dass er Millionen Menschen für seine Ziele einspannen konnte, die als erstrebenswert getarnt doch nur dazu dienen sollten, den Anlegern des börsennotierten Informationsimperiums hohe Renditen zu bescheren. Der Plan, künstliche Intelligenz und Algorithmen einzusetzen, um Ereignisse, noch bevor sie stattgefunden haben, als mediale Produkte zu vermarkten, war gründlich gescheitert.
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