Meine Freunde in Chile

Kracauer, ein Philosoph der Frankfurter Schule, definiert Freundschaft so:
„Während ich überall sonst genötigt bin, mich in tausenden Lebenskreisen zu zersplittern, hier ein Stückchen zu nehmen, dort ein Quentchen zu geben, darf ich ihm so gesammelt und umfänglich nahen, wie ich bin und wie ich mich fühle. Meine Existenz ist ihm voll gegenwärtig, er kennt mein Verhältnis zu den Menschen, und versteht, warum ich so und nicht anders handeln muss, denn noch zu dem widersprechendsten Tun hat er die inneren Verbindungsfäden in Händen.“ Eine Definition fuer Freundschaft, die fast alles beinhaltet, was sie ausmacht, bis auf die Regellosigkeit und die selbstbestimmte Dauer.
Es waere illusorisch zu glauben, dass ich in der Zeit anknuepfen kann, in der unsere Freundschaft begruendet wurde. Es gibt sie nicht mehr. Sie und ich sind andere. Auch das Chile, das ich in Erinnerung habe, ist nicht mehr das gleiche. In nostalgischer Erinnerung zu verharren, ohne all die Veraenderungen zuzulassen, die inzwischen stattgefunden haben, oder sie nicht wahrhaben zu wollen, wuerde sie schnell ersticken. Natuerlich tauscht man sich ueber die gemeinsam verbrachte Zeit aus und stellt erstaunt fest, wieviel man vergessen hat oder sieht sich nach fast 30 Jahren mit einem „ich“ konfrontiert, das man in den Augen der anderen einmal war.

Wenn dieser Austausch stattgefunden hat und die Bruecke zur Gegenwart nicht geschlagen werden kann, was sicherlich nur in den seltensten Faellen nicht gelingt, ist sie gestorben. Warum aber soll das geschehen? Sie zehrt ja noch lange von dem einmal entstandenen Vertrauen.

Jedesmal aber ist es ein Wunder, wenn es geschieht. Es ist, als haetten wir Samen gestreut, die einmal zu Pflanzen heranwuchsen, dann wieder welken und unsichtbar unter der Erde nur darauf warten, wieder keimen zu duerfen.

Mir jedenfalls geht es so. Maria-Luisa hat mich vor einem Jahr ergoogelt. Seither blieben wir in E-Mailkontakt. Sie war es auch, die die Adressen der anderen ausfindig machte, damit ich mit ihnen wieder in Kontakt komme. So entstand mein Wunsch, die Faehrte von damals wieder aufzunehmen, meinen Bruder und seine Familie aufzusuchen, mir und dem, der ich einmal war, nachzuspueren, aber gleichzeitig mich auch auf die Gegebenheiten von heute einzulassen, um die Veraenderungen an Beispielen zu dokumentieren.

Eduardo und Ema waren meine Spanischlehrer. Maria, die auch Deutsch spricht, meine Uebersetzerin, wenn ich nach Worten rang. Sie uebersetzten meine Gedichte, lehrten mich die Sprache ueber die damals populaeren Lieder von Viktor Jara ueber Atahualpa Yupanki, Violetta Para, Mercedes Sosa und anderen, die damals – kanpp 5 jahre mach dem Putsch – verboten waren.

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4 Comments
  • Ingrid Dogan
    Posted at 14:09h, 19 Oktober Antworten

    Hola, lieber Helmut,

    na, da sind ja einige Missgeschicke passiert – ich hoffe, es kommt alles wieder in die Reihe.
    Deine Berichte sind wunderbar. Du bist halt ein guter Erzähler und es ist einfach und wunderschön, mit dir mitzureisen.

    Weiterhin eine schöne, nicht so turbulente Zeit – aber – dafür gibt es in diesen Landen wohl keine Garantie.

    Un abrazo fuerte
    Ingrid

  • Eva
    Posted at 13:57h, 13 Oktober Antworten

    Lieber Helmut!

    Ich kann mich der Meinung von Gerhard nur anschließen! Dein Blog wird immer „spritziger“, farbenprächtiger, persönlicher. Es ist sehr schön „Kibitz“ zu sein.
    Es freut mich sehr, dass du eine so schöne Zeit mit deinen Freunden verbringst.

    Liebe Grüße
    Eva

  • Gerhard
    Posted at 19:33h, 10 Oktober Antworten

    Lieber Helmut,
    dein Blog wird immer abwechslungsreicher, farbiger. Schöne Passage über Freundschaft (das Zitat ein Lackmustest zum Verständnis eigener Beziehungen) und mal wieder ein Gedicht von dir (werde mir erlauben, nächste Woche mit einem früheren romantikkritischen Text von dir im Unterricht zu arbeiten). Dein „Ritt über die Anden“ war höchst amüsant, wie schön, dass man gewisse Abenteuer nur nachzulesen braucht, erinnerte mich an eine 44 Stunden-Zugfahrt von Thurso in Schottland nach Lissabon, allerdings mit 17, Hut ab also vor dem Pensionär.

    Hier kündigen sich beunruhigende Umbrüche an, werde demnächst für dich einen Blog über die Finanzmärkte eröffnen, das ist fast so spannend wie eine Reise durch Chile, und wer sein Kleingeld am falschen Ort angelegt hat, schläft fast so schlecht wie jemand mit Klogeruch in der Nase.
    Hoffe also es reicht noch für die Heimreise und freue mich auf deine Rückkehr – wie lange bleibst du denn überhaupt noch – Wochen, Monate, Jahre?
    Liebe Grüße
    Gerhard

  • Prudence Lambert
    Posted at 19:59h, 08 Oktober Antworten

    Hi Helmut
    I lost the bit of paper with your blog address, but just found it and so have made a visit…. I’m afraid my German is not really up to speed, but it’s great and impressive that you are writing and putting photos every day! I will look at your Mapuche and rock art projects another time. I am back at work and already Copacabana seems a long time ago. I expect to visit La Paz in November for work. I have Peruvian and Chilean colleagues here in London right now.
    Keep up the good travelling, and I’ll visit again.
    cheers for now Prudence in London

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