Fenzlgasse

Es ist nicht alltäglich plötzlich dem Urenkel des Mannes gegenüber zu sitzen, welcher der Gasse, in der man wohnt, den Namen gegeben hat. Es ist zwar nur eine kleine Gasse außerhalb der Peripherie einer Großstadt, deren Gemeinderatsausschüsse bis heute nie in Verlegenheit geraten sind, die vielen neuen Straßen und Gassen nach Bürgern und Bürgerinnen zu benennen, die sich in ihrem Leben durch Werke oder Taten hervorgetan hatten, für die sie wenigstens posthum geehrt sein wollen, aber sie erzählt wie jede andere ihre eigene Geschichte. Straßennamen und vor allem ihre hektischen Umbenennungen nach der NS-Zeit sind auch von kulturhistorischem Interesse. Aber davon soll hier nicht die Rede sein.
Wie gesagt: Es ist nur eine kleine Gasse weit außerhalb des Zentrums, ja fast schon dort, wo die Stadt wieder dörflichen Charakter gewinnt und in das übergeht, was man gemeinhin Natur nennt. Die Gasse hat schon vor der Eingemeindung des Dorfes vor zwei hundert Jahren existiert, Damals allerdings unter einem anderen Namen. Jedenfalls weist die schwarze Umrandung und die Fraktalschrift ihres Namensschildes darauf hin, dass sie nach 1923 aufgehängt worden sein musste.
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Es muss einmal eine belebte Gasse mit etlichen Handwerksbetrieben und noch mehr Gasthäusern gewesen sein. Davon zeugen noch immer halb verblasste und verwitterte Inschriften von kaiserlich königlichen Möbeltischlereien, Schornsteinfegervereinen, herabgelassene Rollläden mit abblätterndem Lack, Toreinfahrten, die noch immer damals sicherlich stylische Profilbuchstaben zieren, von denen einige herausgebrochen sind und neue Wortschöpfungen hervorbringen: RA(S) THAUS zur TEUFELSMÜHLE etwa. Heute ist die Gasse, deren Namensgeber mir als sein Urenkel noch immer gegenüber sitzt, im Sterben begriffen, wird aber von Neuzugängen aus dem Balkan revitalisiert, wovon die vielen Kebabbuden und Handy- Shops  zeugen, in denen Anrufe bis nach Djibuti um wenige Cents pro Minute möglich sind, was mich sehr freut. Übrigens findet sich auch die Botschaft von Djibuti gleich ums Eck. Früher habe ich geglaubt, dass Djibuti ein erfundener Name für eine terra incognita ist. Aber es soll ja auch ein Kopfing geben, wie ich heute  in den Nachrichten erfahre habe, in welchem ein katholischer Priester die Gemeinde in zwei Lager spaltet. Eine, die bei seinen Gottesdiensten in Ekstase gerät, die andere, die von ihm verflucht wird, weil sie des Satans sei.  Auch das nur am Rande, weil ich nicht schon wieder den Faden verlieren will.

Dass hier der weniger betuchte Teil der Stadtbevölkerung seine neue Heimat gefunden hat, beweisen auch die 1€ Läden und Pennymärkte, denen renommierte Musikzubehör- und Instrumentenhandlungen oder Geschäfte mit medizinischem Zubehör Platz gemacht haben. Im ehemaligen Gasthaus zum stillen Zecher gibt es nun Grillhendl, deren Panier möglicherweise  so dick ist,  dass der Kunde den durch nichts zu begründenden Verdacht haben muss, es sei aus Motoröl herausgebacken worden. Sei’s drum.  Wenigstens haben sich die huhnglaublichen McDonalds hier noch nicht angesiedelt. Dafür weht mir der Wind Fetzen von Balkanmusik in die Wohnung, die mich nostalgisch werden ließe, wenn der Bass ein bisschen herunter gepegelt würde, weil das Beben der Wände mir Sorgen bereitet in Bezug auf die Statik des von mir bewohnten Hauses, das sicher auch schon seine zweihundert Jahre auf dem Buckel hat, was man aber seiner Sockelsanierung wegen ihm nicht ansieht. Nur ein bisschen. Ich wohne gerne hier, führt mir die Gegend doch täglich vor Augen, wie vergänglich alles ist.
Um nicht der abschweifenden Rede bezichtigt zu werden, will ich auf N. zurück kommen, besagtem Urenkel dessen, der meiner Gasse den Namen gab. Unglücklicherweise heißt er N. Ein Name, den ich sogar in der Buchstabiertabelle gegen Nordpol austausche, wenn ich am Telefon nach meinem Namen gefragt werde. Warum? N. hieß der Freund, der mir meine letzte Frau ausgespannt hat. Aber das nur nebenbei. Schnee von gestern.

Ich habe N. in Nicaragua kennen gelernt. Das war 1982. Als ich ihn nach so vielen Jahren das erste Mal wieder sah, habe ich mich unwillkürlich gefragt, ab wann man so ausschaut, wie man ab einem gewissen Zeitpunkt schon immer ausgeschaut hat. Ja, seine wellenförmig gelockten, aber kurz geschnittenen Haare sind angegraut, aber sonst? Ein kleiner Bauch, wie ihn fast alle haben mit 50+ und bei sitzender Tätigkeit… Daumen und kleiner Finger seiner linken Hand sind noch immer Stümpfe: Eine Versehrtheit, die ihn für Frauen neben anderen Eigenschaften immer schon interessant gemacht haben, und für die er – abhängig davon, wer ihn darüber befragt – jedes Mal eine andere Geschichte weiß. Aber auch das nur nebenbei. Ihn in einem nur 20 km entfernten Dorf aufzusuchen und schließlich auch zu finden, hat mir nicht nur Mühen gekostet, die ich gerne gescheut hätte. Diese Irrfahrt, bei der ich von Einheimischen wie von Zugereisten im Kreis geschickt worden bin, hat mich endgültig davon überzeugt, dass so ein Navy vielleicht doch eine gute Anschaffung wäre. Jedenfalls habe ich – als ich dort endlich angekommen bin – neben dem eigentlichen Ziel, der Lärchengasse, in welcher er vorübergehend zu Hause ist, sämtliche Baumarten kennen gelernt, die es in heimischen Wäldern trotz ihres seit Jahrzehnten vorhergesagten Waldsterbens noch immer zu geben scheint (oder sollen die Gassennamen uns an sie als etwas Vergangenes erinnern?) Aber auch das nur am Rande.

Wir sitzen also auf seiner Terrasse mit Blick in den Garten und versuchen ein Update. Immerhin sind es fast 30 Jahre, die wir uns nicht mehr gesehen haben. Von welchen Ereignissen also berichten, wenn der Anfang gemacht ist und wir uns in Erinnerung gerufen haben, wer wir einmal vor so langer Zeit waren oder sein wollten oder glaubten, gewesen zu sein jeder in der Wahrnehmung des anderen, aber vor allem, wie aufhören, nachdem man mit immer wieder kehrender Bestürzung festgestellt hat, dass sich diese Bilder nie in Deckung bringen lassen. Was waren unsere Überzeugungen damals? Was ist aus der sandinistischen, der kubanischen Revolution geworden? Historisch bedeutsam immerhin, beispielgebend Mut machend für die Zivilgesellschaften in Lateinamerika, die begonnen hatten gegen die Militärdiktaturen solange aufzustehen, bis sie überwunden waren. Da muss ich ihm zustimmen, aber… „Ihr mit eurem ABER“, sagt er. „Noch immer mit diesem eurozentrischen Blick auf die Welt. In Lateinamerika herrscht Aufbruchstimmung und Optimismus, hier in Europa Stillstand und Depression.“

Ich gehe in den Garten, um Ringlotten vom Baum zu pflücken, aus denen sich übrigens herrliche Marmelade machen lässt. Da genügt eine Tasse Aprikosensaft, eine Zitrone und eine halbe Tasse Wasser. Kochen, bis sich ihre Haut abzuschälen beginnt, passieren und mit Gelierzucker aufkochen. Schmeckt herb. Gut. Aber das am Rande.

Von seinem Urgroßvater, der einmal den botanischen Garten betreut hat, weiß er nicht viel und ich habe auch keine Lust via Internet mehr über seine Tätigkeiten zu erfahren, da ich für diesen Inhalt ein Abonnement benötige oder ihn nur als Einzelbeitrag erwerben kann. Der Lebenslauf seines Vaters scheint mir interessanter, Während der Nazizeit wurde er zwei Mal zum Tode verurteilt und ist zwei Mal dem Tode buchstäblich von der Schippe gesprungen: Einmal wegen Befehlsverweigerung im Afrikafeldzug Rommels. Da wurde er am Morgen vor der standrechtlichen Erschießung durch die Engländer aus dem Bunker gegraben, das zweite Mal hatte er wegen Hochverrats drei Wochen in einer Genickschusszelle verbracht, bis er ohne Angabe von Gründen, aber auch ohne Entschuldigung entlassen worden ist,

Das alles nur am Rande, weil ich nun einmal damit begonnen habe. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man dem Urenkel dessen gegenüber sitzt, welcher der Gasse den Namen schuldet, in der ich heute wohne. Hätte ich das damals schon gewusst, wer weiß …

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1 Comment
  • Ingrid
    Posted at 12:09h, 30 Juli Antworten

    Hallo, Helmut,
    sehr interessant, deine Fenzlgasse-Spurensuche. Wie kamst du auf diesen Urenkel?

    LG Ingrid

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