Lass es dir schriftlich geben!

Nachdem er das Buch der Antworten auf einer x-beliebigen Seite aufgeschlagen hatte, las er: Gib alles, was du hast! Auf welche Frage aber ihm dieser Rat zuteil geworden war, wusste er nicht. Es hätte eine Ja/Nein-Frage sein müssen, die er noch vor dem Aufschlagen einer zufälligen Seite  stellen hätte sollen. Jetzt aber war es zu spät. Die Antwort war auch ohne Frage da und somit müßig darüber zu spekulieren, welche Frage ihr voraus gegangen war. Jedenfalls nahm er die Aufforderung sehr ernst, da das Buch auf dem rückseitigen Umschlag als ein „Buch wie ein Orake“ angepriesen wurde.  Gib alles, was du hast! Gib alles, was du hast! Bevor du daran denken kannst, alles zu geben, musst du wissen, was du alles hast?, mischte ich mich nun ein, der ich eingeladen worden bin, mit ihm dieses Spiel mit dem Buch der Antwortenl zu spielen. Außerdem solltest du das Buch fragen, wem du „alles“ geben sollst. Die Frage, gab er zu bedenken, muss allerdings als eine Ja/Nein-Frage gestellt sein. Ich könnte also fragen: Soll ich alles, was ich habe, (nicht) meinem besten Freund schenken? Ja, tu das, meinte ich, zuerst ohne Hintergedanken, dann aber wurde mir schlagartig klar, dass es möglicherweise um ein Vermögen ging, in dessen Besitz ich bald gelangen könnte. Diesmal wollte ich, dass er alles richtig macht, aber das tat er auch so. Er stellte laut noch einmal die Frage, ließ die Hand über die Seiten des Buches gleiten, konzentrierte sich auf die Frage, öffnete das Buch und las:  Wenn es gut getan wird, sonst tu es gar nicht! Ja, was nun?, fragte mein Freund verwirrt. Tue ich nun gut daran, dir, was ich habe, zu schenken, oder tut es gut, oder ist es gut getan, wenn ich es tue? Frag doch das Buch, schlug ich vor, aber du musst aus drei Fragen zuerst eine machen. Gut. Ich frage also: Wenn ich es tue, tue ich dann nicht etwa gut daran, meinem Freund alles zu geben, was ich habe? Jetzt war ich wirklich neugierig geworden, wie das Orakel antworten würde. Meine heimliche Angst aber war, dass wir es schon zu oft beansprucht hatten. Obwohl: Es gab keinen Hinweis darauf, wie viele Fragen gestellt werden durften, nur:  Sie können das Buch immer wieder befragen oder als Gesellschaftsspiel mit anderen zusammen.  Seine Antworten werden ihnen überraschende Einsichten vermitteln.

Mittlerweile hatte er das Buch schon wieder aufgeschlagen. Seiner Miene nach zu schließen, hatte ihn die Antwort stutzig gemacht. Was, sag schon, was steht da?, fragte ich ihn. Da steht …, sagte er. Aber was war deine Frage noch einmal? Sie war mir doch tatsächlich nicht mehr in Erinnerung. Das war vielleicht der Erregung geschuldet, dass ich plötzlich und mit einem Schlag steinreich würde, falls mein Freund mir alles geben sollte, was er hatte. Nur:  Was hatte er eigentlich? So viel mir bekannt war, schlug er sich so durchs Leben. Er aß nicht nur Kartoffeln und musste auch keinen dieser Orte für öffentliche Ausspeisungen aufsuchen, aber zu mehr als eben nur über die Runden zu kommen, langte es nicht. Oder hatte er mir da etwas verschwiegen? Meine Frage war, unterbrach er meine Gedanken: Tue ich mir Gutes, wenn ich dir alles gebe, was ich habe? Nein. Das stimmt nicht. So hast du nicht gefragt. Du hast gefragt: Soll ich meinem Freund alles schenken, was ich habe? Er schmunzelte: Gut, wenn du meinst? Was war nun die Antwort? Die Antwort war, und er sagte es langsam und fast feierlich – wie es sich für ein Orakel eben geziemt: Es wird notwendig sein, Prioritäten zu setzen. Das war nun wirklich ganz so, dass man daraus nicht schlau werden konnte. Ein Orakel eben. Frag, wie das gemeint ist?, schlug ich vor. Das ist keine Ja/Nein-Frage. Da hatte er wieder Recht. Ich soll alles geben, was ich habe, oder? Das war doch die Aufforderung, die ich  ohne Frage erhalten habe, oder? Ja. Worauf willst du hinaus? Vielleicht ist da nicht gemeint, was ich besitze, und wem ich das geben soll, sondern was ich sonst noch habe, schloss er. Aber alles ist eindeutig zu viel. Ich bin kein Athlet, und ich wüsste keine Aufgabe, die alles von mir fordert. Da ich nach den Gründen nicht fragen kann, warum ich plötzlich alles geben soll, und auch nicht weiß, worauf sich alles bezieht, frage ich doch am besten noch einmal: Soll ich alles geben, was ich habe? Ja, tu das. Du hast recht. Weder geht hervor, wem du alles geben sollst, noch, was mit „alles“ gemeint ist. Frag einfach! Soll ich alles geben, was ich habe?
Mittlerweile hatte er schon eine Seite aufgeschlagen und lachte kaskadenartig so, wie eben nur er lachen konnte. Was steht da?, fragte ich ihn, und die Antwort war nicht etwa gegoogelt, nein: Sie stand da und war nicht digital auf einem Schirm, sondern in einem dicken Buch mit blauem Deckel zu lesen, und hieß zuerst ganz lapidar: NEIN,  doch weil wir es nicht glauben, oder es uns zu leicht machen wollten, schlugen wir es gleich noch einmal auf und lasen: Mach dir klar, dass zu viele Wahlmöglichkeiten genauso schwierig sind wie zu wenige.
Da wir nun am Spiel Spaß gefunden hatten, wollten wir es nicht so schnell aufgeben und dem Buch Fragen stellen, die weit über unsere persönliche Bedürfnislagen hinaus gingen. Wie wäre es, schlug mein Freund vor, wenn wir Fragen ans aktuelle Weltgeschehen knüpfen? Das versprach vergnüglich zu werden. Also, welche Frage schlägst du vor? Wie wäre es mit einer Frage zu Griechenland? Einer meiner Freunde hat behauptet, er wüsste aus zuverlässiger Quelle – ein Schweizer Bankangestellter in höherer Position -, dass der Rausschmiss der Griechen aus der EU  beschlossene Sache und die Drachmen schon gedruckt seien.  Ja, und? Die Frage also wäre, und sie muss als Ja-Nein-Frage gestellt sein: Stimmt es, dass die Drachmen schon gedruckt sind? Das interessiert mich nicht die Bohne, warf ich ein. Mich interessiert die viel wichtigere Frage, ob die EU auseinanderbricht, wie viele fürchten und wenige hoffen. Gut, dann fragen wir so. Diesmal überließ ich das Aufschlagen der Seite meinem Freund, der die Anweisungen auf der Rückseite des Orakelbuches sehr ernst nahm und tatsächlich die Augen schloss, um sich auf die Frage besser konzentrieren zu können. Nach diesem Ritual, das er nach meinem Empfinden unnötig  in die Länge zog, was aber, wie ich zugeben musste, die Spannung durchaus steigerte, las er: Lass es dir schriftlich geben! Nach einer Nachdenkpause fügte er hinzu:  Hier steht nicht, an wen ich mich da wenden soll, um diese Urkunde zu erhalten, lediglich, dass du es dir schriftlich geben lassen sollst, was ich hiermit tue. Nachdem er diesen ‚Spruch bis an die semantischen Grenzen ausgedeutet hatte, überließ er mich wieder meinem Grübeln und den vielen Fragen, auf die ich im Buch der Antworten zu überraschenden Einsichten gelangt bin. Diese dir schriftlich mitzuteilen, sehe ich jetzt als meine große Aufgabe und Herausforderung. Ich gebe, was ich habe. Alles, wenn es schon sein muss.

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