02 Sep Schreibregeln
Er steht auf der Straße, auf dem regennassen Trottoir einer Allee mit kahlen Kastanienbäumen. Er trägt einen Trenchcoat und stützt sich mit einer Hand auf einen nicht aufgeklappten Regenschirm. Er denkt: …Wer schreibt, redet nicht und wer redet, der schreibt nicht… Wo habe ich das gelesen?…, sagt aber: Finden sie nicht auch?
Als müsste ich seine Gedanken erraten können. Seine Augen erinnern mich an ein lidloses Reptil, das einer kosmischen Katastrophe entkommen ist, wie überhaupt alles an ihm, ja vielleicht sogar ihn sich selbst fragen lässt, wie es kam, dass der Tod ihn vergessen hat. Es gibt solche Menschen, die sich selbst überlebt haben und mit dieser Schuld nicht klar kommen. Er heißt Erich. Erich Schirmer. Ich habe ihn auf einem Fest kennen gelernt, auf dem ich auf eine Frau traf, die mir schon einmal begegnet war. Wo aber, wusste ich nicht mehr, und auch sie tat, als würden wir uns das erste Mal sehen. Das war vor wenigen Wochen und die Erinnerung an sie, an das Fest und an alles, was aus ihm an Verhängnisvollem hervorgegangen war, hätte ich gerne gelöscht. Selbst den Zufall von damals musste ich infrage stellen. Im Nachhinein nämlich stellte sich heraus, dass alles von langer Hand geplant und eingefädelt worden war. Jetzt aber möchte ich eines gern wissen: Wenn nämlich alle um dich herum dich für einen Mörder halten – wie lange dauert es wohl,… – und das ist keine rhetorische Frage -, bis du selbst daran glaubst?
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich jetzt schnell, viel zu schnell mit Ja antwortete, obwohl ich gar nicht wusste, worauf sich dieses Finden sie nicht auch? bezog. Erich Schirmer hielt mitten im Schritt inne und starrte mich auf eine Weise an, als hätte er ein Wesen vor sich, das er – zwar noch ein bisschen zweifelnd – aber nach langer Feldforschung doch der Gattung Mensch zuordnen wollte. Ich mochte ihn nicht. Ich mochte ihn ganz und gar nicht, war ihm aber ausgeliefert. Auf dem Fest hatte er sich als einfacher Arbeiter ausgegeben, der nun in Rente sei. Am Gespräch könne er sich nicht beteiligen, da er nicht das intellektuelle Niveau der eingeladenen Gäste habe und sich nicht gern blamiere. Als die Gastgeberin Musik aus den 68igern auflegte und er so tat, als kenne er nur Carpendale und Freddy Quinn aus dieser Zeit, wollte er wahrscheinlich damit erreichen, dass wir im Verlaufe des Abends umso überraschter waren, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er nicht nur 140 Sonetten von Shakespeare übersetzt hatte, sondern auch selbst Theaterstücke und Drehbücher schrieb, die aufgeführt und verfilmt worden sind.
Das ist dein Skript?, fragt er, und fummelt verlegen und ohne mich, den Autor, anzuschauen, an der für ihn gedachten DIN-A4-Seite herum, indem er die rechte, obere Ecke aufbog und dann wieder glatt strich. Ist das alles? Jemand wird für einen Mörder gehalten und dieser Jemand ist unschuldig und glaubt fest daran, dass die Justiz seine Unschuld beweisen wird, bis er feststellt, dass seine Zuversicht und sein kooperatives Verhalten ihn erst recht verdächtig gemacht haben? Alles, was ich bis jetzt verstanden habe, ist, dass Mörder und Opfer sich auf einem Fest kennen gelernt haben und neben diesem Tiefstapler auch eine Frau vorkommt, mit der das Verhängnis seinen Ausgang nimmt. Habe ich das richtig gelesen? Ich bin nicht ihr Anwalt, nicht ihr Strafverteidiger, und noch nicht ihr Verleger. Ich weiß oder kann mir denken, was sie in den letzten Wochen durch gemacht haben. Man hat es ja in allen Zeitungen lesen können. Man hat sie nach den Verhandlungen, dem Schuldspruch und dem Widerruf zu Talk Shows eingeladen, und sie haben immer beteuert, dass sie diesen Mord in allen Details, leider auch in den grausamen, erfunden, aber nicht ausgeführt haben. Ich gehe für das Verlagshaus, das ich vertrete, ein großes Risiko ein, bin zwar selbst von ihrer Unschuld überzeugt, aber ich finde, sie dürfen da Fakten nicht mit Dichtung vermischen. Ich kenne Erich Schirmer persönlich. Er ist ganz und gar nicht so eitel, wie sie ihn beschrieben haben, ein bisschen antisemitisch eingestellt, wenn sie mich fragen, aber sonst ein angesehener Schriftsteller und angenehmer Mensch. Ihr Wühlen in seiner Vergangenheit, das Aufdecken seiner angeblichen SA-Mitgliedschaft, hat ihnen keine Freunde geschaffen. Das können sie mir glauben. Da hat es einige gegeben, die ihnen unterstellt haben, sie würden nur von sich ablenken wollen. Aber das alles wissen sie ja selbst. Können sie mir nicht mehr in die Hand geben als diese paar Zeilen? Ist das wirklich alles?
Vorläufig ja, sage ich. Ich sage es vorsichtig, um ihn nicht zu verprellen. Wir haben es uns – nachdem heftiger Regen eingesetzt hatte – im erstbesten Cafe gemütlich gemacht. Wissen Sie, setze ich nach, ich tue mir nicht die Arbeit an, mir zu überlegen, warum ich diesem Mann ausgeliefert sein soll, und noch viel weniger will ich mir überlegen müssen, weil noch anstrengender, warum aus dieser Begegnung damals auf diesem Fest mit Erich Schirmer etwas Verhängnisvolles hervorgegangen ist. Es ist und war so. Das muss ich nicht erst begründen. Und falls ich das aus ihrer Sicht tun sollte, dann möchte ich dafür einen Vorschuss. Jetzt war es heraus und es gab kein Zurück mehr.
Neben dem Verleger, der nun umständlich seine Brille putzte – wieder eine Verlegenheitsgeste – , saß die Frau vom Fest. Sie hatte schon vor uns Platz genommen, und – so hat sie jedenfalls behauptet – nicht auf uns gewartet und noch weniger damit gerechnet, dass wir hier aufkreuzen würden. Wieder ein Zufall, den ich als solchen einzustufen schon nicht mehr bereit war. Sie trug einen Hut, der an die Leichtigkeit, Eleganz und Verwegenheit eines Frauentyps aus dem letzten Jahrhundert erinnern sollte. Alles nämlich – vor allem die schwarzen Handschuhe, die bis zum Ellenbogenansatz reichten, aber so aussahen, als hätte sie eine Strumpfhose bei den Füßen abgeschnitten – verrieten, was sie sich wünschte, aber beim Betrachter sich nicht einstellen wollte; das Signal gepflegter Anmut, das diese Aufmachung aussenden wollte, stellte sich einfach nicht ein. Trotzdem machte ihre Anwesenheit auch den Verleger nervös, und wenn ich dieses Gespräch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen wollte, musste sie mir gewogen bleiben. Das wusste ich instinktiv.
Wie notwendig ich einen Vorschuss hatte, wird auch dem Leser klar, wenn ich jetzt einmal meinen Stolz beiseite lasse und ihn wissen, dass ich die ganze Zeit über an nichts anderes denken konnte als daran, ob ich genügend Geld in der Tasche haben würde, mich auch noch Morgen über Wasser zu halten, wenn ich mir jetzt ein Schnitzel leiste. Aber ich zuckte auch dann jedesmal innerlich zusammen, wenn Tanja den Kellner rief, um eine neuerliche Bestellung aufzugeben, und überschlug die Rechnung, obwohl ich für sie ja gar nicht aufkommen musste.
Die Frau, die sich mir mit Tanja vorgestellt hatte und alles unternahm, um nicht in den Verdacht zu geraten, etwa als Lebensgefährtin oder gar als Frau des Mannes gehalten zu werden, der sich mir als Verleger ausgegeben hatte -, wollte um jeden Preis auffallen. Nicht nur, dass sie diesen bescheuerten Hut trug, hatte sie sich auch noch die Topografie eines menschlichen Herzens mit Aorta, Arterien und Venen auf ihren linken Busen tätowieren lassen und genoss die Irritation, die sie bei Männern damit auslöste. Ich kannte sie von früher, aber bis jetzt hatte es sich nicht ergeben, – auch auf dem Fest war keine Gelegenheit günstig – , sie darauf anzusprechen, um vielleicht darüber aufgeklärt zu werden, woher und bei welcher Gelegenheit und wie gut wir uns… Peinlich. Aber das passiert mir immer öfter. Nachdem sie aber keine Anstalten machte und mir nicht das leiseste Zeichen eines möglichen Wiedererkennens gab, war ich beruhigt.
Auf keinen Fall wollte ich den Eindruck entstehen lassen, dass ich von seinem oder ihrem Wohlwollen mir gegenüber abhängig sei und nicht wisse, wie ich den nächsten Tag überstehen soll. Nur jetzt keine Beichte. Damit würde ich alles vermasseln. Not ist manchmal doch ein guter Ratgeber.
Das war das einzige, was ich in den letzten Wochen gelernt hatte: Lügen. Niemand will wissen, wie es wirklich war oder gerade um dich bestellt ist. Ich hatte mein ganzes Geld für Anwälte ausgegeben, meinen Arbeitsplatz verloren, meine Frau. Endlich hatte sie einen triftigen Grund mich zu verlassen. Trennungen gab es vorher schon, aber sie waren nie endgültig. Sie hatte beim Bügeln einen Anruf bekommen. Von wem, weiß ich bis heute nicht. Ist mir auch nicht mehr wichtig. Jedenfalls stellte sie das Bügeleisen hochkant, zog den Stecker, schnürte sich in ihre schwarze Lederjacke, warf mir eine Kusshand zu und kam nicht mehr zurück.
Nichts mehr war mir geblieben nach jener Nacht auf diesem Fest. Nichts mehr außer meinem Stolz und die bittere Erkenntnis, dass man verliert, was man festzuhalten versucht, und das Weiche und Schwache das Harte und Starke überwindet, ich aber so lange nicht warten kann. Ich war am Ende.
Mir ist klar, meinte der Verleger jetzt, aus welcher Sicht sie die Geschichte erzählen wollen, aber finden Sie nicht auch? Noch fehlt der rote Faden. Mir will sich einfach nicht erschließen, worauf sie hinaus wollen?
Das schien das Stichwort für Tanja, die die ganze Zeit über lustlos in ihrem Nachtisch herum gestochert hat. Jetzt nahm die Geschichte unverhofft Fahrt auf, um das Bild eines Reisenden für sie zu bemühen, die zwar unterwegs sein, aber nie ankommen will. Tanja nämlich streifte geräuschvoll ihre ärmellangen Samt-handschuhe ab, stopfte sie in ihre kleine rote Handtasche, erhob sich und fauchte, indem sie den Regenschirm mit der Spitze zuerst auf mich und dann auf den Verleger und dann wieder auch mich richtete, als wollte sie uns damit aufspießen: Wenn du willst, dass ich in dieser Geschichte mitspiele, dann sicher nicht in diesem dämlichen Outfit als femme fatal… Du hast mir zwar zu einem wasserdichten Alibi verholfen, das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, dich über mich lustig zu machen. Noch einmal zu dir, mein lieber Herr Autor, meinte sie abfällig und spöttisch: Fische können die Gewässer nicht verlassen und bleiben besser stumm. Übrigens heiß‘ ich Katrina und nicht Tanja. Katrina. Wie der Sturm, der New Orleans verwüstet hat. Und noch etwas. Ich weiß, wer der Mörder ist. Dabei sah sie mich an, als wäre sie meine Komplizin und auch der Verleger wüsste darum, müsse aber aus beruflichen Gründen Rücksichten nehmen, von denen sie befreit war.
Nach diesen kryptischen Worten nahm sie den Griff des eben noch als Waffe missbrauchten Regenschirms, bohrte das spitze Ende in die Dielen und stak davon, ohne uns auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Aber auch der Herr im Trenchcoat, mit dem ich als vermeintlicher Verleger in ein Gespräch gekommen war, war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.
Jetzt konnte ich ihnen nicht mehr sagen, dass die Geschichte aus der Begegnung mit ihm und der Frau auf dem Fest entstanden ist, und sie die handelnden Figuren oder Charaktere waren. Wenn sie passiv blieben, wollte ich schon andeuten, bevor Katrin ihren Auftritt hatte, würde aus der Geschichte nichts werden. Immerhin war ein Mord geschehen und ich, der ihn sich nur ausgedacht hatte, um meine Langeweile zu besiegen, wurde auf Grund falscher Indizien zu einem von der Polizei gesuchten Täter, weil er tatsächlich im von mir beschriebenem Ambiente statt gefunden hatte. Selbst die Tatzeit stimmte überein, die Tatwaffe – übrigens ein Regenschirm mit der Aufschrift Eigentlich wollte ich die Welt retten, aber es hat leider geregnet in chinesischen Schriftzeichen. Alles stimmte mit dem Tathergang überein. Einfach alles. Woher aber kannte der Täter alle diese Details, die mir erst nach dem Fest und im Akt des Schreibens eingefallen waren?
Der Regen hatte eben aufgehört und auf dem nassen Trottoir lagen aufgeplatzte Kastanien. Wieder war Herbst.
Wer schreibt, redet nicht, und wer redet, der schreibt nicht..Jetzt fällt mir ein, wo ich ihn her habe, den Spruch., der mich nach dem Fest zusammen mit den Nachrichten des Tages zu einem Zwiegespräch mit mir selbst eingeladen hatte. Aber ist das noch wichtig? Nein, nicht wichtig. Finden sie nicht auch?
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