16 Jan Dorfleben in China
Heute Sightseeing und Tonjagd im Dorf vor dem Eingang zum Geopark. Um die Reise nicht nur in Bildern zu dokumentieren, habe ich mein Aufnahmegerät mitgenommen, um das bereiste China auch akustisch zu portraitieren. Vielleicht lässt sich so das Fremdsein und das Fremde und Befremdliche in einer Collage, zu der nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch die Geräusche gehören, zu einem Kino für die Ohren machen. Akustisches Storytelling also einer Reise, das ohne Kommentar auskommen soll. Das jedenfalls ist das Vorhaben.
Wir sind zu Fuß unterwegs, auch um etwas von der Geschwindigkeit herauszunehmen, mit dem wir bis jetzt mit Bus oder Speed-Train unterwegs waren. So hatten wir heute das erste Mal Gelegenheit, in den Mikrokosmos eines chinesischen Dorfes einzutauchen. Auf Schritt und Tritt begegnen uns die Kontraste von Tradition und Moderne, die auch in diesem Dorf mit dem aufkommenden Tourismus nicht Halt gemacht hatben. Der Bauboom ist – wie in ganz China – auch hier augenfällig. Âuf einem Werbeplakat sah ich einen Wolkenkratzer im Bau; daneben eine Rakete, die abhebt. Mit fast 7% Wirtschaftswachstum jährlich gehört China wie ehemals die südostasiatischen Tigerstaaten zu den Ländern der sogenannten dritten Welt, die innerhalb einer Generation westliche Standards erreicht haben; das leider mit allen dazugehörigen Folgen.
Auch hier in diesem Nest weitab der großen Städte, in denen die Feinstaubbelastung den Menschen die Luft zum Atmen abschnürt, wird gesägt, gezimmert, gemauert. Rücksicht auf Umwelt oder in die Landschaft passende Architektur wird kaum genommen. Potthässliche Neubauten mit für unsere Augen geradezu geschmacklosen Frontansichten konkurrieren mit aus Brettern zusammengeschusterten Hütten oder aus dem Boden gestampften, protzigen Ressorts, die aber mit der Verwendung von Holz und Stein aus der Gegend und den kunstfertigen Zimmermannsleuten die traditionelle Bauweise wieder beleben. Vieles erinnert mich an Dörfer im Hochland von Peru oder Bolivien. Hier wie dort sitzen die kältegewohnten und oft sehr betagten Menschen rund um ein Feuer, dessen Rauch die geschnürten Würste selcht, die von der Decke hängen. Immer wieder werden wir eingeladen auf diesen Stühlchen, deren Beine kaum 20 cm über den Boden reichen, Platz zu nehmen. Der darauf stattfindende Smalltalk beschränkt und stützt sich auf meine rudimentären Sprachkenntnisse, die ich mir in der Zwischenzeit erworben habe. Zumindest weiß ich oder vermute eher, welche Art von Neugier befriedigt sein will. Immerhin kann ich schon sagen, dass wir aus Österreich kommen, – ein Land, von dem die ältere Generation von Bauern, die nicht wie ihre Nachkommen ihr Heil in den Städten suchten, vermutlich nie gehört haben, und ihnen eben so fremd scheint, wie es dem Namen nach klingt: Aodili guo. Die Herkunft von so fernen Landen jedenfalls wird mit staunendem haode quittiert. Auch wie alt wir sind, wollen sie immer gerne wissen und welcher Arbeit wir nachgehen.. Zumindest das Alter kann ich nennen und von den Teilnehmern der um das Feuer kauernden Runde erfragen. Der Mann ist mit 92 so alt wie meine Mutter. Und Mutter heißt auch hier Mama, wobei aber wiederum zu beachten ist, dass der erste Ton höher liegt als der auf ihm folgende, wenn als Sprache wahrgenommen werden soll, was zu kommunizieren versucht wird. Oft werden die chinesischen Wörter, die aus meinem Mund kommen, in ihre Sprache übersetzt, was mich oft rätseln lässt, worin nur der Unterschied in der Aussprache bestanden haben mag, weil ich keinen feststellen kann. Wieder sind es die 5 Töne, die den Silben auch mit einem anderen Zungenschlag ihre Bedeutung verleihen. Nachdem die Wörter aufgebraucht sind, die mein Wortschatz zulässt, starren wir nun zu fünft in das Feuer und schweigen, während der fast zur Mumie erstarrte Opa zum Leben erwacht und mit einem Stecken in der Glut rührt. Wenn ich richtig verstanden hatte, wird er im kommenden Juni 93. Monate sowie Wochentage haben hier nämlich keine Namen, sondern werden einfach ausgezählt: Erster Monat, zweiter Monat, erster Tag, zweiter Tag usw. Geburtstage erst ab 60 gefeiert, wenn man etwas erreicht hat im Leben. Je älter jemand wird, umso größer die Trauergemeinde und das anschließende Fest, wenn er/sie einmal sterben sollte. Kinder zB. werden ohne Zeremoniell begraben. Sie wachsen ohne Lob und anerkennende Worte auf, da es die Geister sonst wegen zu viel Aufmerksamkeit zu sich holen. Hier auf dem Land werden die Särge schon zu Lebzeiten dem Körper angepasst beim Tischler in Auftrag gegeben und als Mahnung für ein tägliches carpe diem im Wohnraum aufgestellt. Unlängst las ich, dass in Peking Sargbestattung ab einem bestimmten Datum nicht mehr gestattet wurde, woraufhin etliche ältere Menschen Selbstmord verübt hätten, um noch vor Inkrafttreten der neuen Verordnung in den Genuss eines Sarges zu kommen. So nimmt es wegen des Raummangels kaum Wunder, dass wir in den großen Städten keine Friedhöfe gefunden haben. Nicht weit von den Hütten haben wir allerdings doch noch Schreine gefunden, deren Symbole wir jedoch nicht entziffern konnten. Im Frühjahr werden die Ahnen aufgesucht; die in unmittelbarer Nähe abgebrannten Feuerwerkskanister zeugen noch vom Fest, das zu ihren Ehren stattgefunden hat. Überhaupt werden hier gerne Feuerwerke veranstaltet. Wir sind ja in dem Land, in welchem nicht nur das Porzellan, sondern auch das Schießpulver erfunden und das Erleuchten des Himmels durch Abbrenen von Feuerwerkskörpern zur Kunstform erhoben wurde.
Einem solchen durften wir bei einem Richtfest zuschauen, das nach dem üppigen Dinner mit den Zimmermanns-leuten stattfand, die von den Besitzern des Hotels eingeladen waren. Laoban’s, also die Arbeitgeber, sind sehr geachtet und kümmern sich um ihre Angestellten wie um ihre eigene Familie. So haben sie auch hier für die Arbeiter und Angestellten gutausgestattete Unterkünfte gebaut. Guanxi, was wir mit Vitamin B bezeichnen würden, in China das Netzwerk von Beziehungen meint, in das jeder eingeflochten ist, dürfte für das Wohlergehen jedes Einzelnen, aber auch für das Fortkommen enorm wichtig sein. Die Besitzerin sagt, dass leider oft zwischen Guanxi und Korruption kein Unterschied bestünde und die Kunst darin, ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen herzustellen. Als wir uns eine Quittung ausstellen ließen, und sie feststellte, dass wir die Kosten unter uns aufteilten, musste sie herzlich lachen: In China verwalte die Frau das Geld, das der Mann erwirtschaftet. An der Oberfläche schaut es zumindest von außen so aus, als wären die Frauen mit den Männern gleichgestellt.
Noch aber sitzen wir rund ums Feuer. Nachdem uns das Schweigen peinlich geworden ist, verabschieden wir uns von den gastfreundlichen Menschen, die uns für eine kurze Spanne Zeit Einblick in ihr Privatleben gewährt haben, obwohl öffentlich und privat hier kaum auseinander zu halten sein dürfte. In den Städten sahen wir zB. Frauen und Männer in Schlafanzügen herumlaufen.
Übrigens: Zigaretten werden immer gerne angenommen. Die Männer sind allesamt hemmungslose Raucher. Das Design auf den Schachteln ist wirklich verführerisch schön und die Zigaretten schon um weniger als einen Euro zu kaufen. Wer sich welche Packung leistet, ist eine Statusfrage. Es gibt auch Hartpackungen, die über 15€ kosten. Die Luft jedenfalls kann durch den Zigarettenrauch kaum mehr verpestet werden, als sie schon ist.
Überall kokkeln kleine – meist aus Spanabfällen genährte Feuerchen mit viel Rauchentwicklung vor sich hin. Unter dem Vordach einer Hütte sitzt unter Geselchtem eine Runde älterer Herren, die in ein Kartenspiel vertieft sind. Die Karten schauen bis auf die Rückseite genauso aus wie die, mit welchen wir Romme oder Canasta spielen. Nach jeder Runde wechseln 1 Yuan-Scheine die Besitzer. Auf kleinsten Flächen werden Gemüsebeete angelegt, eingezäunt mit Bambusstauden, die auch als Stützen am Bau Verwendung finden. Die Bauern sind – wie überall auf dem Lande – Meister des Schlichtens. Seien es Brennholz oder Dachschindeln.
Nachdem ich gefragt habe, darf ich die älteren Damen mit ihrer originellen Kopfbedeckung fotografieren. Auch wir sind für die Einheimischen, die über ein Smartphone verfügen, immer wieder ein Motiv. Ich weiß gar nicht, wie oft wir schon mit ihnen zu einem Selfie mit Laowei oder Jingli (Ausländer) eingeladen wurden. In den größeren Städten soll es sogar üblich sein, dass zu geschäftlichen Treffen Langnasen angemietet werden, die als Aufputz fungieren und so dem Anlass Gewicht verleihen.
Leider auch hier im subtropischen wind wood der 5 valleys eine wilde Deponie. Ich will nicht ungerecht sein. Es hat auch bei uns mehr als ein Jahrhundert nach der industriellen Revolution Zeit gebraucht, bis sich ein Umweltbewusstsein entwickelt hat.
Es ist Winter und kein Feld zu bestellen oder Reis anzupflanzen. Es gibt frei herumlaufende Enten, Gänse und Hühner, keine Schweine oder Kühe, was Ställe und große Weideflächen zur Voraussetzung hätte. Das Wort für Tier heißt dongwu,lese ich, und bedeutet so viel wie bewegliche Sache. Genauso wird es auch behandelt, wie ich auch auf den Märkten in den Städten beobachten konnte. Alles wird verwertet. Es gibt keinen Abfall. Zwischen Salzigem und Süßem wird nicht unterschieden. Kaffee ist für uns verwöhnte Wiener hier kaum zu trinken, da es wie braunes Wasser schmeckt. Wer guten Kaffee trinken will mit Zucker und Milch, muss in ein Starbucks. In jedem noch so kleinen Geschäft gibt es Bonbon in Glitzerpapier mit Rindfleisch- und Lakritzengeschmack, Sonnenblumenkerne, die nach Kaugummi schmecken, Hühnerfüße, getrocknete Ratten und Schlangen. Eigentlich möchte man nie wissen, was man isst. Chinesen schwören auf Glutamat und andere Chemie, die den Lebensmitteln beigemengt werden, um sie schmackhafter zu machen oder schöner aussehen zu lassen.
Nie noch sah ich so viel grelle, vornehmlich in Rot und Gold glitzernde Verpackung mit schwer zu öffnenden Verschlüssen, in denen alles, was geknabbert werden kann, noch einmal eingepackt auf Kauf und seinen Verzehr wartet. Der anfallende und kaum recycelbare Müll in 83 Städten mit über einer Million Bewohnern, ganz zu schweigen von Shanghai, Peking oder Suzhou – Städte, von denen jede mehr Einwohner als ganz Österreich hat -, muss ein schier unbewältigbares Problem darstellen. Genug gesehen für heute.
Am Abend werden wir mit einem unglaublich reichhaltigen Dinner verwöhnt. Es stehen rund um zwei Brenner, die verschiedene Suppen warm halten, mindestens 10 verschiedene Zutaten zur Auswahl, die man sich häppchenweise mit den Stäbchen auf den Reis schaufelt. Oft steht jemand während des Essens auf und sagt ganbei, was so viel wie Prost bedeutet, bringt einen kurzen Trinkspruch an, woraufhin alle aufstehen und gegenseitig anstoßen. Alle Geräusche sind erlaubt, lautstarkes Räuspern, Schmatzen, Spucken, nur das Schnäuzen ist ein no go. Wer fertig gegessen hat, verlässt grußlos den Tisch. Konversation findet während des Essens statt. Ein gemütliches Zusammensein nach dem Essen ist hier nicht Brauch. Wir lernen jeden Tag dazu.
Mit dem Buch „China zwischen Tradition und Moderne“ war ich gut auf Sitten und Bräuche vorbereitet. Kann es nur jedem empfehlen, der eine Reise ins Reich der Mitte plant…
Morgen auf dem Weg nach Guilin.
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Manfred Voita
Posted at 19:25h, 19 JanuarWas besonders deutlich wird – und mir besonders gut gefällt – ist die Erfahrung der Fremdheit, die sonst bei Reiseberichten fast immer in den Hintergrund tritt. Hier ist immer spürbar, dass du in einer fremden Kultur unterwegs bis und mit deinen Versuchen, sie für dich zu erschließen, auch immer wieder an Grenzen stößt.
isbertklaus
Posted at 18:27h, 18 Januarchapeau…..sehr toll geschrieben, genau geschaut, genau gehört und gut kommentiert…..meine nächste reisedestination wird es nicht…..wusste ich aber eh schon vorher……..wird aber auch ziemlich bestärkt mit deinen sehr interessanten berichten und geschilderten eindrücken…..keep on traveling
Helmut Hostnig
Posted at 05:41h, 19 JanuarThanks Klaus for encouriging me to keep on und danke fürs Folgen und Kommentieren