24 Jan Gärten, Pagoden und Wasserstraßen in Suzhou
Mit dem G-Train, der Spitzengeschwindigkeiten bis über 350 km/h erreichen kann, zurück von Guilin nach Shanghai. Für die über 1500 km lange Strecke braucht er allerdings fast 10 Stunden. In Shanghai ist es Nacht und eine Schlange von Menschen, die kein Ende nimmt, versucht ein Taxi zu bekommen. Schneeregen und beißende Kälte. Eine Stunde später sind wir im Hotel. Am nächsten Morgen nehmen wir ein letztes Mal den Zug nach Suzhou, um das Gepäck vom Campus zu holen, der wegen der Semesterferien ohne jeden Betrieb ist. In den Fernsehnachrichten erfährt man auch hier von den Kriegsherden im Nahen Osten und der Flüchtlingskrise in Europa. Merkel repräsentiert Europa. Wenn allerdings Xi Jinping, der Staatspräsident von China auftritt, der als Jugendlicher auf Grund der Kulturrevolution in ein Dorf flüchtete, um den Roten Garden zu entkommen, wird ihm eine journalistische Aufmerksamkeit zuteil, die schon wegen der Länge seiner Ausführungen in westlichen Medien vielleicht nur bei Reden zur Nation oder Neujahrsansprachen üblich ist.
Verglichen mit den Städten, die wir auf unserer Reise besucht haben, ist Suzhou für Touristen, die den Charme einer untergegangenen Epoche erkunden und erleben wollen, wegen seiner noch gut erhaltenen Gärten, Pagoden, Kanäle und Tempel eine empfehlenswerte Adresse. Der Seidenhandel und die Porzellanproduktion haben Suzhou schon vor dem 10.Jhdt. reich gemacht, und wer es sich leisten konnte, siedelte sich in der von Wasserstraßen schon früh für den Handel und Verkehr schiffbar gemachten Stadt an. Davon zeugen die großartigen Kanäle, die heute noch ein bisschen an Venedig erinnern; an seinen Ufern luden Teehäuser zum Verweilen ein. So sind Shantang- und Pinjang-Road neben dem Temple of Mystery und Tiger Hill ein Muss für alle, die an manchen Stellen noch ein China entdecken wollen, das sowohl von den kriegerischen Auseinander-setzungen der letzten Jahrhunderte als auch von den Verheerungen der Kulturrevolution sowie dem derzeit stattfindenden Bauboom verschont geblieben ist. Vor allem der wunderschöne Garten mit dem poetischen Namen „Garden of the Master of the Nets“ hat es uns angetan. Wir werden nie wieder einen solchen finden; er steht repräsentativ für alle anderen, die wir auf unserer Reise besucht haben, aber an Ausgewogenheit von behauenem Stein und beschnittener und in alle möglichen Formen gezwungenen Natur von keinem übertroffen wurde. Es ist ein raffiniertes Arrangement: Man möchte es fast eine Zwangsehe von Architektur und Natur nennen, von Totem und Lebendigem, das sich trotz der Gegensätze lieben lernt, weil es ein Meister so will. Es ist nicht die brachiale Aufforderung eines Gottes „Macht euch die Erde untertan!“, der hier Folge geleistet wird; es ist die Ästhetik oder Kultur, die nach dem Fressen kommt, d.h. die Befriedigung der Bedürfnisse wenigstens eines Teiles der Bevölkerung zur Voraussetzung hat, um solche Kulturleistung hervorzubringen.
Auch das Museum ist nicht nur wegen der ausgestellten Artefakte, deren Präsentation oft aufwändiger scheint als der so ausgestellte Gegenstand selbst, sondern wegen seiner Architektur ein Erlebnis.
Wer sich dem Trubel und dem Lärm der Stadt wenigstens für Stunden entziehen will, geht in einen Garten, in die verkehrsberuhigten Zonen entlang der Kanäle oder ans Ufer eines der vielen Seen. Überall sind Überraschungen möglich: In der Nähe des Shihu-Lakes zum Beispiel führt im Forest Park eine Treppe hinauf zu einem riesengroßen Buddha und einer wunderschönen Pagode. In der Tempelanlage selbst knien Männer und Frauen auf beiden Seiten eines Schreines. Eine Frau schlägt den Takt, dem der Singsang von Gebeten in der silbenreichen Sprache folgt.
Im Park ein Haus nur aus Bambus gefertigt. Was für eine wundervolle Pflanze, aus der man Flöten schnitzen, sie aber auch essen kann.
Eine Brigade älterer Frauen jätet Unkraut. Manchmal hat man den Eindruck, dass es vor allem die Frauen sind, die arbeiten. Sie manövrieren die tonnenschweren Busse durch die verkehrsumtosten Straßen, bieten vom frühen Morgen bis spät in die Nacht ihre Ware an Ständen feil, stehen gebückt in den Gärten und Äckern, ja selbst am Bau habe ich sie beim Tragen von Zementsäcken gesehen; im öffentlichen Sektor gehen beide Geschlechter mit 60 in Pension, wenn ich es richtig verstanden habe. Der private Sektor kennt nach der chinesischen Variante von Glasnost und Perestroijka kaum Regelungen. Die Geschäfte haben von früh bis spät in die Nacht offen; es gibt kein arbeitsfreies Wochenende, wie wir es kennen. Für den Nachwuchs ist kein Opfer zu groß; außerdem ist es eine Investition in die Zukunft. Ausbildung und Verheiratung werden immer teurer. Wohnraum ist knapp. Privatisierung und Ökonomisierung der Bildung schaffen auch im kommunistischen China ein Zweiklassensystem. Für Beamte, die Vorbilder sein sollen, ist es nicht ratsam, mehr als ein Kind zu haben, obwohl die Ein-Kind-Politik Ende 2015 aufgegeben wurde. Noch immer gibt es unzählig viele Sterilisationskrankenhäuser. Abtreibungen sind kein Tabu, aber es gilt als moralisch verwerflich, vor der Heirat ein Kind zu haben.
In der U-Bahn habe ich heute keine Umarmung, aber eine erste zärtliche Geste gesehen. Chinesen scheinen sich nur in den Filmen zu küssen. Selten gehen Mann und Frau Hand in Hand.
Habe mir Rosinen gekauft, deren Trauben ursprünglich aus Südafrika kommen und in Deutschland verpackt bis nach China vertrieben werden. Ein augenfälliges Beispiel für die Auswüchse von Globalisierung. Es sind die einzigen, die nicht nach Salz oder nach Ente schmecken. Nichts schmeckt so, wie es ausschaut. Nicht einmal das Obst.
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MAXA
Posted at 17:30h, 24 JanuarWieder mal wunderschöne Fotos und Dein Text, lieber Helmut, wie immer druckreif! Schön, Euch so zu folgen. Grüße Andrea u. Thomas