27 Mai NA(h)TO(d) will Georg
Mit Mutter beim Optiker
Da es keine Rampe gibt, stemme ich den Rollstuhl mit Mutter (92) über die Stufen. Eine Angestellte hält uns die Tür auf. Mutter fragt mich laut, was wir hier tun. Ich erkläre ihr noch einmal, dass wir fragen wollen, ob eine Lesebrille in ihrem Alter und dem Grauen Star auf beiden Augen noch Sinn macht, da sich ihr Sehvermögen trotz Operation nicht gebessert hat. Das ist schlimm, da sie so mit Lupe, die eigentlich für die Bestimmung von Briefmarken bestimmt ist, nicht einmal mehr die Todesnachrichten in der regionalen Zeitung lesen kann. An Politik ist sie nicht mehr interessiert.
Die Angestellte kommt mit einem Dutzend Lesebrillen und einer aufklapppbaren Leselampe mit milchigblauem Licht für 188.90 €.
Mutter schaut mich ratlos an und fragt: Was soll ich damit?
Angestellte setzt Mutter eine Lesebrille auf und gibt ihr eine Schautafel zum Lesen. Auf einem Karton sind ein Kreuzworträtsel und Schlagzeilen mit Vorspann und Berichten aus den Vorarlberger Nachrichten älteren Datums aufgeklebt. Mutter soll lesen.
Mutter buchstabiert die Schlagzeile: Nahtod will Georg. Ein bisschen verunsichert, weil sie nicht weiß, ob sie die Prüfung bestanden hat, schaut sie die Angestellte an, dann mich: Warum?
NATO korrigieren wir beide, die Angestellte und ich, beinahe lippensynchron.
Mama hört schlecht. Sie müssen lauter sprechen, sag ich.
Angestellte noch einmal; diesmal laut: Nato. Nato will Georgien unterstützen. Dann entschuldigend zu mir: Das sind alte Schlagzeilen. Viel zu kompliziert.
Mutter unterbricht: Ich kann keine Kreuzworträtsel mehr. Das ist vorbei. Und hören tu ich auch fast nichts mehr.
Die Angestellte klappt die Lampe zu und gibt ihr eine andere Brille und dazu eine Lupe mit Stiel: Versuchen’s sie’s einmal damit.
Mutter mit Brille und Lupe: Nato will Georg unterstützen. Sie setzt die Lupe ab und fragt die Angestellte: Wer ist der Nato?
Die Angestellte gibt auf: Das macht keinen Sinn, sagt sie zu mir.
Mutter wiederholt ohne Brille und Lupe, als wäre es ein zu entschlüsselndes Rätsel: Nato will Georg unterstützen?
Die Angestellte setzt ihr eine stärkere Brille auf und fordert sie auf, den Vorspann zu lesen.
Mutter mit Lupe und Brille buchstabiert das erste Wort: Russland. Wieder, als hätte sie eine Prüfung bestanden, lässt sie sich erleichtert im Rollstuhl zurückfallen. Russland, wiederholt sie. Was ist mit Russland?
Angestellte sammelt die Lesebrillen ein und sagt: Das war die stärkste, die wir haben. Da kann man nichts machen.
Mutter fragt: Wer ist jetzt der Nato?
Das erklär‘ ich dir später, sag ich, und schiebe sie mit dem Rollstuhl zur Tür. Angestellte hält die Tür auf. Mutter und ich bedanken uns.
Mutter stellt fest: Das ist sicher ein guter Mensch, wenn er das tut, der Nato. Aber das hätt`ich dir gleich sagen können. Ich brauch keine Brille. Wenn nur die Ramona (Pflegekraft aus Rumänien) lesen könnt. Sie kann aber kein Deutsch, weißt du?
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Manfred Voita
Posted at 23:46h, 27 MaiDass der Nahtod den Georg will, das ist doch eigentlich auch für Seniorinnen noch von Interesse. Dass die Nato und Georgien an Bedeutung verlieren, kann ich sehr gut verstehen. Und dass die Nato Russland unterstützt, war schon fast hellsichtig. Nachdem Trump die Nato dazu gebracht hat, sich der Allianz gegen den Terror anzuschließen, kooperiert sie ja auch schon fast mit Russland im Kampf gegen den IS.
Das Leben mit hilfsbedürftigen Menschen ist oft schwer und manchmal ist es gerade die Einschränkung, die auch wieder etwas Komisches haben kann. Wenn man sich gestattet, die Komik, die sich hinter der Tragik verbirgt, auch zu genießen.
Helmut Hostnig
Posted at 09:32h, 28 MaiDu bringst es – wie immer – auf den Punkt. Deine Kommentare sind oft notwendige Ergänzungen zum Text. Liebe Grüße