Bei den Tuschen in Omalo, Dartlo und Shenako

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, Reiseschilderungen nicht mehr schon während meiner Aufenthalte in anderen Weltregionen zu verschriften und frage mich heute, wie es mir gelungen ist, – noch in den Anfängen des Web2.0 – auf meinen Reisen in Südamerika jeden Abend ein Internetcafe aufzusuchen, um die am Tag gemachten Erlebnisse mit Fotos mühsam ins Netz zu stellen, um sie auf meinem mittlerweile stillgelegten WordPressblog den LeserInnen nachvollziehbar zu machen.

So kann ich mich ganz den Eindrücken hingeben und die Recherche hintanstellen, das Erlebte und Erfahrene sickern lassen, fast so wie es indigene Menschen in den Regenwäldern tun, die nach langen Wanderungen warten, bis ihre Seele nachgekommen ist.

Mir die Reise wieder in Erinnerung zu rufen, helfen Fotos, die wir gemacht haben. Ob es Sinn macht, Erlebtes und Erfahrenes von Reisen zu bebildern und zu verschriften, die schon von anderen unternommen, bebildert und verschriftet wurden? Diese Frage stelle ich mir immer wieder und beantworte sie – überheblich wie ich nun mal bin – so:
Es ist zwar schon alles von vielen darüber geschrieben worden, aber noch nicht von mir.

Omalo also. Upper Omalo, um genau zu sein. Es regnet und es ist bitter kalt. Das Zimmer unbeheizt. Die Bewohner des Dorfes von Upper Omalo bereiten ihre Häuser auf den Winter vor. Schutzplanen werden über Sonnenpanele gespannt, die Veranden mit Plastik-folien vor dem Schnee geschützt, Schafherden mit rauhen Ho Hoo-Rufen und kläffenden Hirtenhunden zusammengetrieben, denn „winter is coming“ und der dauert hier 8 Monate. Kaum angekommen machen wir uns auf den Weg zu den aus Schieferplatten ohne Mörtel geschichteten Wehrtürmen von Kesolo aus dem 12.Jhdt., deren Restaurierung um das Jahr 2000 auf die Initiative eines holländischen Ehepaars hin erfolgt ist. Wir kennen die Türme schon von unserer letzten Reise nach Svanetien, aus Mestia, Adishi und Ushguli. In diese entlegenen Bergregionen haben sich die Tuschen vor christlicher und/oder muslimischer Missionierung geflüchtet. Auf den Bergkuppen errichtet, konnte das Volk der Tuschen mit Signalfeuern auch die anderen Dörfer vor anrückenden Feinden warnen. In der Sowjetzeit deportiert, wurden sie wieder angesiedelt.

Ich möchte mir das gar nicht ausmalen, wie hier im Mittelalter gehaust wurde. Ein Mittelalter, welches andauert, wenn es stimmt, dass die Tuschen, die bis heute einer paganen (heidnischen) Religion anhängen, noch immer ihren Göttern und Naturgeistern huldigen und den einheimischen noch unverheirate-ten Frauen den Zugang nicht nur zu bestimmten Dorfeingängen, Brauereien oder den sogenannten „Chatis“, den heiligen Hainen verwehren. Es muss stimmen, da wir die Piktogramme gesehen haben, die vor dem Betreten durch Frauen warnen. Noch im 19.Jhdt. mussten Schwangere ihre Kinder im Untergeschoß der Wehrtürme ohne jede Hilfe zur Welt bringen, und durften, wenn sie das überlebten, dieses 40 Tage lang nicht verlassen.

Die zu Guesthouses umgewidmeten Häuser der Einheimischen, die – ganz nebenbei – alle mit ausgezeichnetem W-Lan ausgestattet sind, werden ausschließlich von Frauen geführt, welche die Touristen mit einer unglaublichen Gastfreundschaft aufnehmen, bewirten und mit Informationen versorgen.

Tuschetien gehört zu den unberührtesten Regionen des Großen Kaukasus mit einer faszinierend schönen Landschaft, die zu ausgedehnten Wanderungen geradezu einlädt.  Wir hatten anfänglich Sorge, dass die Wege vielleicht nicht ausreichend ausgeschildert sein würden und wir uns verirren könnten, denn über Telefon Hilfe anzufordern funktioniert hier nicht; aber das Gegenteil war der Fall.

Wir genießen die unglaubliche Ruhe. Eine Sternenpracht ohnegleichen. Da ich den Spruch beherzigen will, unter 1500 m Wein und darüber nur noch Schnaps zu trinken, waren zwei Gläser Chacha zu viel. Gaumardschoss! Ich büße es mit einer Magenkolik. Am Morgen bei geheizter Wohnstube ein reichhaltiges Frühstück. Bei gutem Wetter stapfen wir los. 15 km sind es bis Dartlo. Es geht bergauf und bergab, dann über einen Kamm durch Kiefernwälder und Birkenhaine bis wir am Gelepass angelangt sind: ein Plateau, das einen spektakulären Panoramablick über die Bergflanken und Gletscher Tuschetiens erlaubt, die sich mit Mount Dartlo auf 4500m hoch türmen. Wir sind 5 Stunden unterwegs und begegnen bis auf einen Hirten, der auf der Wiese liegt und seinen Kühen beim Grasen zuschaut, keiner Menschenseele. Gottseidank auch nicht den hier gefürchteten Schäferhunden, vor denen sogar die Botschaften warnen.

Die Luft ist klar und harzgeschwängert. Wir hören nur unsere Schritte, und ich mich keuchen, wenn es bergauf geht. Unten im Talgrund rauscht der Alazanifluss. Die Sonne spiegelt sich auf dem nassen Schiefer. Wanderlust pur. Man möchte jauchzen angesichts von so viel Schönheit. Und sie wird noch übertroffen vom Anblick der schlanken Wehrtürme von Dartlo, einem Dorf, das mit seinen schiefergedeckten Häusern als das schönste Tuschetiens gilt. Diesmal stimmt der Superlativ.

Wir sind angekommen und stärken uns mit einer Tasse Kaffee. Die Unterkunft ist sauber. Das Essen, das wir am Abend beim Schein eines mit Buchenholz befeuerten Ofens einnehmen, könnte besser nicht schmecken. Ein junger Finne, der als Sanitäter in Helsinki arbeitet, sitzt mit uns am Feuer und liest ein Buch über Skeptizismus. Wir fühlen uns nicht als Touristen, denn wir werden bewirtet, als wären wir von Gott gesandte Gäste. Es ist kalt draußen und sternenklar. Hunde bellen. Dann wieder kehlige Rufe. Sind es gar Wölfe, die den Mond anheulen? In unserem aus Schiefer gebauten Haus schlafen wir tief und fest.

Am nächsten Tag geht es entlang einer Klamm, in welchem Gletscherwasser brausend zu Tal stürzt, den Eselspfad in Serpentinen hinauf nach Kvavlo, einem mittlerweile aufgegebenen Weiler mit verfallenen Häusern und Signaltürmen, die vom Einsturz bedroht sind. Kvavlo, das über Dartlo thront, ist wohl nicht mehr zu retten. Eine atemberaubend schöne Kulisse, die zum Verweilen einlädt. Von hier oben blickt man wie von einem Adlerhorst hinunter auf das Dorf mit den schiefergedeckten Häusern und auf Höhe der Türme hinauf zu den Gletschern des Hohen Kaukasus.

Zurück in Dartlo entdecken wir einen uralten Steinkreis, in dem Frauen Rat gehalten und Recht gesprochen haben. Der heilige Hain aber darf von ihnen heute noch erst wieder nach dem Wechsel betreten werden. Auch animistische Religionen dürften ohne Tabus nicht auskommen.

Nach zwei Tagen wieder zurück nach Omalo und noch eine Wanderung bis hinunter zur Talsohle und nach einer Hängebrücke wieder hinauf durch herbstliche Kiefern- und Buchenwälder nach Shenako, das unweit der Grenze zu Dagestan liegt. Dort überraschen uns steingemauerte Häuser mit wunderschönen Balkonen und bemalten Wänden, Auch in diesem Dorf wird man anschaulich mit der Vergänglichkeit konfrontiert. Die vom Stamm fallenden Blätter der Bäume und die wenigen alten Leute, die sich mit Säcken voll mit Kartoffeln den Berg hinauf mühen und die Stellung noch nicht aufgegeben haben, tun ihr Übriges zu diesem Empfinden. Auf dem Rückweg begleitet uns ein Hirtenhund. Die Furcht also unberechtigt. Entwarnung? Diesmal schon. In der Unterkunft angekommen hat er vor der Tür noch ein bisschen gewartet und ist dann zurückgetrottet.

Wie verabredet und ohne Verspätung hat sich Georgi, unser Fahrer eingefunden, um uns wieder zurück über den Abanopass, der uns diesmal ohne Nebel empfängt, nach Telavi und Tiflis zu bringen.

Tiflis feiert an diesem Wochenende sich selbst. Tausende Menschen flanieren auf den Straßen. Babuschkas sitzen am Wegrand und halten ihre Waren feil. Obst aus dem Garten, Nüsse, Kastanien, Selbstgestricktes. Junge Männer hängen umringt von Zuschauern, die Wetten abschließen, an einer Reckstange. Wie lange wird er es aushalten? Wann wird er w/o geben? Wird er, kann er die Bank der Einsätze sprengen? In einem Festzelt rockt eine junge Band die Jugend von Tiflis. Von Scheinwerfern beleuchtet lassen sich Akrobaten an einem Ring von einem Kran in luftige Höhen ziehen, um dort im Rhythmus der Beats choreografisch eingeübte Figuren in den Himmeln zu schreiben. So geht es zwei Tage und Nächte und wir verlassen Georgien mit Eindrücken und Erlebnissen, die die unserer ersten Reise weit übertrafen und uns sicherlich immer in Erinnerung bleiben werden.

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6 Comments
  • Rainer Hostnig
    Posted at 16:40h, 30 Oktober Antworten

    Finde auch, dass Du Deine Reiseschilderungen in Buchform herausbringen solltest. Die Fotos sind absolut wichtig. Un abrazo, Rainer

  • Erny Menez
    Posted at 10:52h, 22 Oktober Antworten

    Hab soeben den ersten Bericht gelesen und die Fotos bewundert, es ist wirklich eine andere Welt, nicht nur „i like it“,sonderne, I adore it. Erinnert mich an Reisen in Yemen und Afghanistan. Wunderschöne Landschaft, hochliegende Dörfer mit Turmgebäuden (wie konnten sie es damals machen, hab ich mir auch im Yemen immer gedacht, doch man hat ja auch die Pyramiden gebaut !) Unwahrscheinlich schön die Bilder und erschreckend die Strasse im Auto, erinnert mich an die Ganga Quellen Wanderungen und Busfahrten. Wo findet man heute noch so unberührte Gegenden, wo man sich nicht als Tourist fûhlt ? Das hab ich mir schon gedacht von eurer vergangenen Reise nach Georgien. Bitte mach doch ein Buch von diesem herrlichen Land (selbst wenn andere es gemacht haben, deine Empfindung hast nur du !)
    Jetzt werde ich die Fortsetzung geniessen.
    Danke ERNY

    • Helmut Hostnig
      Posted at 20:02h, 22 Oktober Antworten

      Liebe Erny. Danke fürs Kommentieren. Freut mich, wenn der Aufwand, den ich mit dem Erstellen dieser Seiten betreibe, von LeserInnen gewürdigt wird. Liebe Grüße nach Grenoble.
      Danke
      Helmut

      • Simone Hammer
        Posted at 20:33h, 31 Oktober Antworten

        Eine ganz wunderbare Website hast du gestaltet, wirklich gelungen! Und natürlich mit interessanten und schön geschriebenen Beiträgen, wie wir es von dir gewohnt sind. Freue mich auf mehr….

        • Helmut Hostnig
          Posted at 20:42h, 31 Oktober Antworten

          HI Simone. Danke für dein Feedback. Bekommst du meinen Newsletter? Hab dich ungefragt angemeldet. Liebe Grüße

  • Susanne Hammer
    Posted at 21:23h, 20 Oktober Antworten

    Ich war zwar dabei, dein Beitrag gibt mir aber die Möglichkeit, diesen wundervollen Trip nach Tuschetien ein zweites Mal und ohne gröbere Adrenalinstöße zu erleben.

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