„Abstandhalten“ mit Inge

Das Klima der Angst, die überall sprießt und ihre Blüten treibt, findet seinen Nährboden bis hinein in die Träume:

Inge ist mit mir aufgewachsen. Ich war in London, als mich ihre Nachricht erreicht hat: „Wenn du mich noch sehen willst, musst du dich beeilen.“ Am Fenster stand ihre Tochter und tat, als würde sie etwas sehen. Sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten.  Noch ist Inge bei vollem Bewusstsein. Darmkrebs im letzten Stadium. Der Arzt hat ihr versprochen, sie wenigstens von Schmerzen zu befreien. Ihre Wangen sind hohl. Die Augen, die mich schon immer beeindruckt hatten, sind größer, als ich sie in Erinnerung habe. Die Chemotherapie hat ihr die schönen, kastanienbraunen Haare geraubt. Um ihren Mund spielt ein bitteres Lächeln. „Warum?“, fragt sie. „Warum muss ich sterben? Und deine Mutter …“ Sie vollendet den Satz nicht. Ich weiß, was sie sagen will. „Das ist ungerecht“, sagt sie. „Verzeih mir“, sagt sie, „wenn ich … aber schau das Kreuz mit dem Jesus da an der Wand. Das regt mich auch so auf. Warum muss in jedem Spitalszimmer ein Gekreuzigter hängen?  Wie soll mich das trösten?“

Das ist die Inge, wie ich sie kenne. Ohne ein großes Drama daraus zu machen und im Wissen um die gestundete Zeit, hat sie zwei Jahre gegen die Krankheit angekämpft, aber sich gleichzeitig auch auf ihren Tod vorbereitet und von ihrer Familie und ihren Freunden Abschied genommen. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen und wie ich gehen soll. Sie hilft mir und sagt: „Nimm mich einfach noch einmal in die Arme und denk ab und zu an mich, ja?“

Ihr Pullover hat ein Strickmuster, das den Ornamenten der Azulejos gleicht, wie ich sie auf den gekachelten Wänden eines Bahnhofs in Portugal gesehen habe. Beim Versuch, sie zu umarmen, berühre ich nicht sie, sondern die kalten Kacheln einer Wand. Nur ihr Kopf ist noch da und ihr Mund fragt: „Warum bist du so weit weg? Warum musst du solchen Abstand halten?“

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2 Comments
  • Manfred Voita
    Posted at 22:24h, 26 März Antworten

    Corona prägt nicht nur den Tag, der Virus lässt uns kaum zur Ruhe kommen. Selbst unsere Kreativität wird in diesen Zeiten vom Virus dominiert. Wir setzen uns mit ihm und dem Leben in dieser seltsamen Zeit auseinander, oder wir schauen bewusst weg, weigern uns, nur noch Virus zu denken.
    Deine Kurzgeschichte hat etwas Albtraumhaftes, obwohl sie ja auch von Stärke und Würde erzählt. Hoffen wir, dass wir den Albtraum, den wir gerade leben, auch mit Stärke und Würde durchstehen.

    • Helmut Hostnig
      Posted at 14:55h, 29 März Antworten

      Eine Twitterperle von Dieter Chmelar: Am Tag 14 der Quarantäne bereits ein Standard im öffentlichen, beruflichen oder privaten Diskurs: „Nach der Krise.“ Erinnert an Schwejk: „Also dann“, ruft er an der Front des Ersten Weltkriegs seinem Saufkumpanen zu, „(bis) nach dem Krieg um halb sechs im Kelch!“ Vielleicht kommst mal nach Wien „nach der Krise“. Liebe Grüße

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