Ebenso wie ihre Mutter, die lange nur noch den Schein von Familie aufrechterhalten hatte, bis eine Scheidung, der Kampf vor Gericht um die Wohnung, die Unterhaltskosten für sie und die Alimente für ihre Tochter sie zu einer stutenbissigen Frau werden ließen, die ihre Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit wissen ließ, dass sie sich von Männern nichts erwarten dürfe. Dass ihr Exmann auch noch um das Sorgerecht kämpfen wollte, hatte dem Fass den Boden ausgeschlagen. Kann nicht einmal für sich selbst sorgen. Jeden Tag musste sie sich das anhören. Und wenn sie von ihrem Vater kam, dem vom Jugendgericht ein Besuchsrecht eingeräumt worden war, wollte sie einen detaillierten Bericht, wie und womit sie die Zeit verbracht hatten.
Für ihn war das Schachspiel die einzige Ablenkung, die er sich erlaubte, wann immer er Zeit hatte. Von prekären Arbeitsbedingungen in einem aufstrebenden Start-up-Unternehmen, das sich nur dank zahlreicher Überstunden seiner Angestellten das Überleben sicherte, in Anspruch und Geiselhaft genommen, hatte er nicht mitbekommen, dass seine in die Pubertät geratene Tochter Probleme hatte, die ihr über den Kopf gewachsen waren.
Ich bin schwanger. Daran besteht kein Zweifel mehr. Bald wird es sich nicht mehr verheimlichen lassen. Das werden die Eltern nicht mehr einfach so hinnehmen können, so wie sie es hingenommen hatten, dass sie sich fremd geworden waren.
Auch die Mediationsversuche damals, welche die seit Jahren getrenntlebenden Eltern unternommen hatten, vielleicht doch wieder zusammenzufinden, waren gescheitert. Sie scheiterten am Stolz ihrer Mutter; denn sie bestand darauf, dass er allein die Schuld zu tragen hatte. Sie scheiterten am Unvermögen ihres Vaters, auf seine Frau zuzugehen, ihre Verletztheit anzuerkennen, nachdem er sie mit einer Jüngeren betrogen hatte. Sie waren so verstrickt, dass beide nicht mitbekamen, wie verzweifelt ihre Tochter war.
Ja, ich habe Mist gebaut. Aber ich werde mir das nicht mein ganzes restliches Leben vorhalten. Hätte ich doch auf meinen Vater gehört. Das ist kein Mann für dich. Wie recht er hatte. Aber was nützt mir das hätte, wäre, wenn…? Nichts. Gar nichts. Wir beide, – so wie wir uns nun gegenübersitzen -, spinnt sie ihren Monolog in ihrem Kopf fort, haben es verabsäumt, uns auf das Leben vorzubereiten, das vor uns gelegen ist. Wie aber hätten wir das können? Wir alle, denkt sie, auch der Mann vor dem Fenster, der mit seinen signalgrünen Handschuhen jetzt sich auf eine Schaufel stützend Pause macht, wir alle sind in unser Leben getaumelt wie in einen Film, für den wir eine Freikarte geschenkt bekamen, ohne den Titel zu kennen; ohne auch nur im leisesten zu ahnen, was gespielt wird. Nein! schließt sie energisch und fischt eine Zigarette aus einem silbernen Etui: Wir sind und waren nie unseres Schicksals Schmied. Oder doch? Was hatte ich für Jungmädchenträume. In guten wie in schlechten Zeiten. Wann waren die Zeiten gut? Sie kann sich nicht erinnern. Alles liegt in Scherben. Sie sieht sich als kleines Kind, dem eine ihr geschenkte Wunderkugel aus der Hand gefallen war, gerade, als sie fragen wollte, wie der Schnee in das Glas gekommen ist.
Am Nebentisch sitzt eine Frau, die ein Gespräch mit einem unsichtbaren Gegenüber oder mit sich selbst führt. Nein, sie spricht nicht mit sich selbst. Aber es ist auch kein Gespräch, da es keine Pause gibt, die es dem Empfänger am anderen Ende erlauben würde, Einwände zu machen oder Argumente anzuführen. Während die linke Hand das Mobiltelefon umklammert, vollführt ihre rechte einen regelrechten Tanz, dessen Choreografie ihrer Rede folgt. Wer die pantomimische Sprache der Hände studiert hat, wüsste zu deuten, was ihr Gemüt so zu erhitzen scheint. Trotz des ratternden Pressluftbohrers und der gedämpft aus unsichtbaren Lautsprechern dringenden Jazzmusik, sind Wortfetzen zu verstehen: – …Es muss sein… ich sage das, weil… Es hat keinen Sinn …-
Ein verstohlener Blick auf seine Exfrau schenkt ihm die überraschende Erkenntnis, dass sie beide, als sei es über Nacht geschehen, alt geworden sind. Sorgfältig faltet er die Zeitung, legt sie auf den Tisch, holt ein Putztuch aus der Seitentasche seines über dem Stuhl hängenden Jacketts und reibt mit ihm die Gläser seiner Brille. Er tut dies mit aufreizender Bedächtigkeit.
Was wir auch für unser Leben planen, denkt er, vom Ende her aufgerollt, ist es beinahe immer eine Tragödie. Die Rolle, die dir auf den Leib geschrieben war, aber auch die Gestaltung für dein Leben wird dir schon früh entrissen, und die Regie, die du über alles zu führen glaubst, übernehmen Akteure, die von allen Seiten die Bühne stürmen und so dein Drehbuch über den Haufen werfen.
Stell dir vor, sagt er zu seiner Exfrau: Heute hat jemand das Schachspiel mit mir genauso eröffnet, wie es meine Tochter in einem Brief vorgeschlagen hat, den ich gestern zufällig unter ihren Schulsachen gefunden habe. Er ist an uns beide gerichtet gewesen: ein Abschiedsbrief. Der, nachdem wir solange gesucht hatten; in dem sie erklärt, warum…
Deine Tochter? Es war auch meine, falls du das vergessen hast.
Ja, du hast recht. Natürlich unsere, unsere Tochter. Ich will nicht mit dir streiten. Macht der Gewohnheit, nehme ich an. Seit wir kein Paar mehr sind, sag ich „meine Tochter“. Verstehst du? Alles, was ich will, ist dir den Brief zeigen, weil er uns beide was angeht. Übrigens: Weißt du, was das für eine Eröffnung ist?
Wovon redest du? Mich interessiert dein Hobby nicht. Hat es nie. Komm zum Punkt. Gib mir den Brief oder lass es sein, aber erspar mir deine Kommentare. Steht irgendetwas in diesem Brief, was ich nicht schon weiß oder vermutet habe?
Ohne auf sie einzugehen, sagt er: Es ist die sinnloseste aller Eröffnungen, weil man mit ihr den König bloßstellt. Wer so beginnt, hat schon verloren.
Und? fragen ihre Augen, dann geht sie zum Angriff über: Natürlich gehst du davon aus, dass sie dich gemeint hat mit dem König. Hab ich recht? Ist es das, was du mir sagen wolltest? Deswegen bittest du mich in dieses Lokal? Um mir Varianten von Eröffnungen zu erklären? Um mir zu sagen, dass du in ihren Augen ein König warst?
Mit dir kann man nicht reden. Hab ich ganz vergessen. Er nimmt das aus einer Schulheftseite herausgerissene und vom vielen Lesen, Falten, Lesen und nicht Begreifen zerknitterte Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts, legt es neben die Zeitung auf den Tisch und streicht es glatt. Dann steht er auf, wirft fast den Tisch um, ruft den Kellner, fingert einen Schein aus dem Portemonnaie, deutet auf die Frau und stürzt, ohne auf Retourgeld zu warten, aus dem Lokal.
Schachmatt, denkt er. Schachmatt in drei Zügen. Wie war das noch? Wo habe ich das gelesen? „Das Leben ist ein Spiel in zwei Sätzen. Im ersten schläfert es dich ein, und lässt dich glauben, dass du führst, im zweiten serviert es dir die Schmetterbälle.“ Zu leiden wird umso unerträglicher, je weniger sich ihm ein Sinn abringen lässt. Ich bin nicht unfähig, ihm eine Bedeutung zu geben, aber, was hilft es mir, wenn ich mich schuldig fühle oder alles Vorgefallene als Prüfung verstehe? Seit Wochen kreisen meine Gedanken um nichts anderes.
War es das, worüber er sich hat austauschen wollen mit seiner Exfrau, der Kindesmutter, um nicht immer von Exfrau zu sprechen. Wollte er wissen, wie sie damit umgeht? War es notwendig, ihr den Brief auszuhändigen? Seine Versuche, Brücken in die Vergangenheit zu schlagen, alle waren gescheitert. Schmerz ist nicht teilbar. Wann begreife ich das endlich? Wir sind keine Eltern mehr. Wir sind kein Paar mehr.
Sie kennt die krakelige Schrift mit den in beide Richtungen fallenden Buch-staben. Ihre Augen fliegen über die Zeilen: Liebe Eltern. Vielleicht kann euch mein Tod wieder zusammenbringen. Ich habe mir nichts so gewünscht wie das. Bitte seid mir nicht böse. Was hätte ich noch tun können? Nicht einmal, dass ich schwanger war, habt ihr bemerkt. Mit einem Kind wäre alles noch schlimmer geworden… Dir Papa schlage ich ein letztes Spiel vor. Du eröffnest mit dem Bauern von d2 – d4; ich antworte mit f2 – f4. Vielleicht hast du ja jetzt Zeit. Ich kann nur gewinnen, denn ich habe keine mehr…
Was hat er sich von dieser Begegnung versprochen? Was ich? Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen? Ich will abschließen. Endlich einen Strich ziehen. Niemand und nichts soll mir ein schlechtes Gewissen machen. Ich habe genug gebüßt. Sie nimmt einen letzten tiefen Zug und bläst den Rauch in den Raum. Es stimmt, denkt die Frau, faltet den Brief und reißt ihn in kleine Stücke, die sie auf dem Unterteller ihrer Kaffeetasse sammelt: sie hat gewonnen. Ihr fällt auf, dass sie von ihrer Tochter das erste Mal in der dritten Person und in der Form der Vergangenheit spricht. Sie denkt: Was für eine Bestrafung. Dann murmelt sie: Was für ein Sieg!
Wütend auf sich selbst erstickt sie die Zigarette im Aschenbecher, steht auf und murmelt: Ich hab’s gewusst. Ich hätte nicht kommen sollen. Sie steuert dem Ausgang zu.
Draußen war die Dämmerung hereingebrochen. Rotweißrote Bänder flattern um den Aushub, als wäre er ein Tatort. Die Hände tief in den Taschen ihres schwarzen Mantels begraben, macht sie sich auf den Heimweg. Über dem Scherenschnitt der sich an einem unsichtbaren Ende verjüngenden Straße haben sich schwarzblaue Wolken gebildet. Gleich wird es regnen und in den Pfützen werden sich die Lichter der Straßenlampen und Fenster spiegeln.
Ein Röntgenteleskop hat Astronomen heute die ersten klaren Aufnahmen vom Zentrum der Milchstraße und einem schwarzen Loch geliefert.
Simone Hammer
Posted at 11:20h, 20 NovemberEine wunderbar erzählte Geschichte!
Helmut Hostnig
Posted at 12:00h, 22 NovemberHi Mone. Danke.