Schachmatt

Breitbeinig steht er vor dem Aushub und schält bedächtig eine Banane. Er schaut hinunter zu einem Arbeiter, der mit einem Pressluftbohrer zugange ist, stopft die Banane Bissen für Bissen in seinen Mund und wirft die Schale achtlos in das ausgehobene Loch, als müsste auch dieses gefüttert werden. Sein Blick streift eine Frau mit hennarotem Haar. Er will ihr hinterherpfeifen, sein Mund aber ist von der Banane zu voll. Sie scheint um ihre Wirkung auf Männer zu wissen und schleudert in einer ausholenden Bewegung ihres rechten Armes ein Ende ihres grünen Wollschals um den Hals.
Die Hände jetzt der Kälte wegen wieder in den Taschen ihres schwarzen Mantels begraben, eilt sie auf das Lokal zu, von dessen Frontscheibe aus das Geschehen auf der Straße von einem Mann wie in einer gerahmten Guckkastenbühne beobachtet wird. Er und eine Frau am Nebentisch sind die einzigen Gäste. Die Kellnerin wischt mit einem Staubfetzen über den Tresen, um irgendetwas zu tun. Jetzt blättert der Mann – bei jeder Seite die Finger befeuchtend – in einer Zeitung, schaut kurz auf, nimmt einen Schluck aus dem Glas mit dem perlend aufsteigenden Wasser, während die Frau den Raum betritt, kurz innehält, sich umblickt, um mit einem nicht einmal angedeuteten Lächeln des Wiedererkennens auf den Tisch zuzusteuern, an dem der Mann sitzt. Ohne ihn zu grüßen, – als hätten sie sich eben vor wenigen Augenblicken getrennt -, lässt sie sich in den gepolsterten Stuhl fallen, nimmt das Handy aus ihrer Tasche, wischt kurz über den Screen, murmelt eine Entschuldigung: Verzeih, aber ich muss da schnell…,  klappt aber dann die Handyhülle mit Marmoroptik zu und schnippt nach der Bedienung. Er hasst es; hat es immer schon gehasst und geniert sich für sie. Die Kellnerin lässt sich nichts anmerken und nimmt die Bestellung auf.
Er fragt sich, warum er dieses Treffen herbeigeführt hat. Er weiß nicht mehr, ob es eine gute Idee war und ahnt, dass es wieder nicht gut ausgehen würde. Warum nur lasse ich mich immer auf solche demütigenden Situationen ein. Ja, sie ist die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter. Aber sie ist jetzt genauso keine Mutter mehr wie er ein Vater. Sie sind jetzt nur noch Mann und Frau. Exmann und Exfrau, um genau zu sein. Rollenaneignungen, Rollenzuschreibungen. Metamorphosen oder Stadien des Scheiterns. Brüche. Lebensabschnitte. Arrangements mit Gegebenheiten. Willentlich herbeigeführt oder passiert.
Heute hat er im Schachklub zum ersten Mal jemanden getroffen, der ihn mit dem gleichen Schachzug überraschte, den seine Tochter ihm vorgeschlagen hatte. Das war vor wenigen Monaten. Seither war kein Tag vergangen, an welchem er nicht Gegner in Hinterzimmern oder in Parks mit den dort auf Beton gemalten Schachbrettern herausforderte oder gegen sich selbst spielte, wobei er sein Selbst in sein Ich und in das seiner Tochter aufspaltete: Die einzige Zeit, in welcher er nicht von Schuldgefühlen gemartert wird.
Sie hat die Füße übereinandergeschlagen, starrt in die Tasse mit der aufgeschäumten Milch, die um den Löffel herum einen braunweißen Strudel bildet. Hoffentlich hat er einen guten Grund, mich in dieses Lokal zu bitten. Warum hasse ich ihn so? Wie er Zeitung liest und die Finger beim Umblättern befeuchtet, wie er das Glas an den Mund führt. Wie er dasitzt: breitbeinig und mit verschränkten Armen, mich aus den Augenwinkeln beobachtend, auf der Lauer, bereit zum Angriff oder zur Flucht. Eher zur Flucht. Hat mir nie Parole gegeben, sich in sein Schweigen geflüchtet, mich mit ihm bestraft. Wie konnte ich je in ihn verliebt gewesen sein. Was hat mich damals verführt, mit ihm ein Kind haben zu wollen? Ist, war und bleibt doch selber eins.
Er hatte seiner Tochter das Spiel beigebracht. Da war sie 9 Jahre alt gewesen. In die Pubertät gekommen, hat sie ihn immer wieder auf eine Partie herausgefordert, da er mit ihr, wie ihr schien, sonst nicht viel anzufangen wusste. Es waren die wenigen Stunden trauten Beisammenseins, auch wenn der Austausch nur über die Figuren stattfand, die sie schweigend über das Brett mit den 64 Feldern schoben. Nicht ihn zu besiegen, war ihr Ziel; die Bauern waren in ihrer Einbildung weiblich. Alle opferte sie, um einen an das andere Ende des Brettes zu bringen, wo er sich sterbend in die Königin verwandelt, um vielleicht doch noch den König zu retten, der sie nicht wahrnahm. Sie war zu intelligent, um nicht zu begreifen, dass dieses Spiel das System spiegelt, in welchem Frauen seit jeher wenig Bedeutung hatten. Er nahm sie nicht wahr, und sie hatte aufgegeben.

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2 Comments
  • Simone Hammer
    Posted at 11:20h, 20 November Antworten

    Eine wunderbar erzählte Geschichte!

    • Helmut Hostnig
      Posted at 12:00h, 22 November Antworten

      Hi Mone. Danke.

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