19 Jan Das Leumundszeugnis
Kaum ist die Glaswand in seinem Rücken, hört Ginsto ein dumpfes Klack. Er hat eine unsichtbare Schwelle übertreten: den früher durchlässigen Bereich zwischen einem Draußen und einem Drinnen, der durch eine Bodenerhebung markiert war. Jetzt befindet er sich in einem Angst einflößenden, hermetisch abgeschlossenen Drinnen, einer Art Schleuse mit hoher Decke, in deren Ecken 4 Monitore installiert sind, um Besucher wie ihn, die ein Anliegen vorbringen wollen, aus jedem Winkel beobachten zu können. Vor ihm ein Schalter wie im Sicherheitsbereich von Geldinstituten – durch eine Glaswand von der dahinterliegenden Wachstube getrennt, auf deren Stirnwand – wie in allen Wachstuben des Landes – das alle 6 Jahre ausgetauschte Portrait eines im Dienst ergrauten und milde lächelnden Staatsoberhauptes zu sehen ist.
Das Glas ist dick. Panzerglas vermutlich. Ganz gleich, ob Einbrecher es mit einem Hammer, einer Axt oder durch Beschuss mit großkalibriger Munition versuchen, es bleibt beim Versuch. Das Einzige, was durch das Sicherheitsglas gelangt, ist reines Tageslicht. So oder anders könnte eine Herstellerfirma dieses Glas bewerben. Wer aber, und warum sollte sich hier ein Einbrecher Zutritt verschaffen wollen? Geht es um Transparenz, die auch architektonisch sichtbar werden soll? Um: Habt Vertrauen, die ihr hier eintretet? Wer soll hier vor wem geschützt werden?
Kurz bleibt er stehen. Reflexartig schaut er nach einer Fluchtmöglichkeit um. Geht die als Glaswand getarnte Tür auch wieder auf? Die Wände sind weiß, glatt und leer. Kein schwarzes Brett. Bis auf das gerahmte Foto des Präsidenten lässt nichts, aber auch gar nichts auf eine Wachstube schließen. Obwohl Tageslicht von außen eindringen kann, ist der Raum beleuchtet. Es ist ein kaltes Licht. Ginsto geht auf den Schalter zu. Heißt das noch so? Die Verwendung des Begriffs Schalter – weiß er aus einem alten Wörterbuch – rührt daher, dass der Erbringer der Dienstleistung in einem abgeschlossenen, nur über den Tresen erreichbaren Raum saß, um die von ihm verwahrten Wertpapiere, Wertgegenstände oder Geld vor dem direkten Zugriff von außen zu schützen. Das hier ist aber keine Bank. Die Aussparung im Glas dient keinem Zahlungsverkehr. Hinter der Trennwand ein Tisch mit einem Desktop, ein Regal mit Ordnern. Niemand da. Keine Erbringer von Dienstleistungen welcher Art auch immer. Wie aber sich mit ihnen verständlich machen, wenn es sie denn gäbe? Kein Siebloch in Mundhöhe, wie er es in einer Gefängniszelle gesehen hat. Ein Schlitz, durch den Scheine oder Dokumente hindurchgeschoben werden können. Mehr nicht. Keine Gegensprechanlage. Nichts. Er wartet, schaut sich um: Was für eine unheimliche Veränderung mit der Welt im letzten Dezennium nach 9/11 und dann nach Corona vor sich gegangen ist. Wie war das früher? Man ging in eine Wachstube und brachte sein Anliegen vor. War es nicht so? Barrieren, die Dienstleister und Bittsteller trennen, hat es immer schon gegeben. Betritt man aber heute eine Bank oder eine Polizeidienststelle, wähnt man sich in einem Hochsicherheitstrakt. Das alles geht Ginsto durch den Kopf, während er wartet und wartet und er sich fragt, ob die Wachstube vielleicht verwaist ist, weil alle wegen einer Katastrophe, von der er nichts weiß, im Einsatz sind.
Er klopft gegen das Panzerglas, bückt sich und ruft durch den Eingabeschlitz: Hallo? Ist da wer? Nichts. Niemand da.
Nachdem er eine gefühlte Viertelstunde gewartet hat, beschließt er zu gehen.
Besser so, denn Ginsto hätte sich sonst lautstark beschwert. Es wäre zu einem Schlagabtausch gekommen, in welchem unfreundliche Wörter gefallen wären. Worte oder Wörter? Eine kurze Recherche im Netz klärt auf: „Geht es um das, was es transportiert, nämlich die Beschimpfung, neigt man eher zum Plural Schimpfworte, sind hingegen die einzelnen Wörter gemeint, sprechen wir von Schimpfwörtern.“ Hätte er also Schimpfwörter gebraucht, wäre er vermutlich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in Gewahrsam genommen worden und hätte nicht mehr um ein Leumundszeugnis ansuchen können.
Drum lässt er es lieber und geht erst gar nicht auf die Polizeiwachstube. So erspart er es sich, von vier Kameras mit Gesichtserkennungssoftware aufgezeichnet zu werden, nach Fluchtmöglichkeiten suchen zu müssen, kaum, dass er die Wachstube betreten haben würde, um dort mit einer amtsmüden, Journaldienst versehenden Beamtin (Männer sind mitgemeint) in einen unnötigen Streit zu geraten. Darüber hinaus bewahrt er sich so seinen hoffentlich guten Leumund, gefährdet niemand und setzt sich auch selbst nicht der Gefahr aus, angesteckt zu werden.
Am besten mann/frau bleibt überhaupt nur noch zwischen seinen/ihren vier Wänden und erledigt alles online. Einkaufen? Einkaufen war gestern. Selbst Nahrungsmittel lässt er sich vor die Türe stellen. Den Hammer von Paul Watzlawick kann er sich ja noch immer von den Nachbarn ausborgen, wenn er einen brauchen sollte, um das imaginierte Leumundszeugnis an die Wand zu hängen.
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Manfred Voita
Posted at 12:30h, 20 JanuarDas Leumundszeugnis klingt noch sehr schön nach dem, was es einmal war: die Bestätigung der eigenen Untadeligkeit, des guten Rufs. In Deutschland heißt das inzwischen polizeiliches Führungszeugnis und klingt nach Kopfnoten im Schulzeugnis: wegen schlechter Führung nicht versetzt. Dein Text, in dem die Beantragung des Zeugnisses fast dazu führt, dass der gute Ruf den Bach hinunter geht, gefällt mir nicht nur wegen dieser Situation, sondern besonders wegen des Klaustrophobischen. Jetzt wollte ich ein Wortspiel mit Austrophobie machen, aber das gibt es natürlich längst. Es gibt schon immer alles und alle wissen es auch, jedenfalls die relevanten Stellen. Wozu eigentlich noch so ein Leumundszeugnis?
Helmut Hostnig
Posted at 14:14h, 20 JanuarLieber Manfred.
Danke für deinen Kommentar. Wenn du ehrenamtlich mit Minderjährigen Flüchtlingen zu tun hast, zum Beispiel, wird ein Leumundszeugnis verlangt. Austrophobisch ist gut. Hab ich noch nirgends gelesen. Eine Austrophobie könnte man aber schon kriegen, wenn man die österreichische Politik verfolgt.
Liebe Grüße nah Deutschland