18 Mrz Die Schneekugel
Vielleicht war der Schnee kein Schnee und die wirbelnden Flocken, die alles unter einem Weiß begruben, einem Weiß, das in anderen Lebensräumen Trauer bedeutet, nicht gefrorenes Wasser. Aber Nachforschungen darüber anzustellen, war genauso verboten, wie darüber laut nachzudenken, welche außenstehende Macht dafür verantwortlich ist, dass der Schnee sich weder legen, noch tauen konnte. Die Überwachungstechnologie in diesem Gehäuse, das einem Glassturz ähnelt, war jedenfalls so ausgereift, dass seine Bewohner nicht wussten, ob sie sich selbst kontrollierten oder eine implantierte Software ihr Verhalten steuerte. Niemand stellte Fragen oder dachte gar an Flucht.
Sie hieß Rita. Sie heißt Rita! Verbesserte er sich schnell. So, als könnte die blitzschnelle Korrektur Vergangenheit in eine unaufhörliche Folge von Jetzt verwandeln, um… um was zu erreichen? Vermutlich um jegliches Vergehen aus seinem Leben zu verbannen, obwohl – räumte er ein – ihn der Tod in einem jeden Jetzt ereilen könne. Nur Erinnerung könne ihm helfen, sich mit Vergänglichkeit auszusöhnen. Ich rede mit ihr; beinahe ununterbrochen bin ich im Gespräch mit ihr.
Erinnerst du dich an den Augenblick der ersten Begegnung mit ihr, wurde er gefragt. Natürlich! hat er gesagt. So, als wäre es gestern gewesen. Das fügte er schnell hinzu, um aufkommende Zweifel zu zerstreuen. Diese Begegnung hat in keiner geträumten Wirklichkeit stattgefunden. Das kann ich dir versichern. In keiner erfundenen, noch in einer geträumten. Über den Unterschied aber, den es macht, muss ich erst nachdenken.
Komme gerade von ihrem Tagebuch. Ich fand es unter meinem Bett. Ob sie es geschrieben hat in der Hoffnung, von mir gelesen zu werden? Manche Einträge lassen das vermuten: Um mir den Aufenthalt in dieser aller Farben beraubten Hölle erträglicher zu machen, habe ich gegen seinen Widerstand begonnen, die weißen Wände in unserem Zimmer mintgrün zu streichen. Wie lange schon habe ich keinen Frühling mehr erlebt. Ich schleiche durch die Zimmer, räume Schränke ein und wieder aus. Im Kampf gegen die Langeweile habe ich mir eine rote Mütze gestrickt. Mit Mütze, Schal, Winterjacke und Stiefeln sitze ich in der Nähe des Ofens, den wir mit Holz aus den Möbeln befeuern, nachdem die Kohle und das für den letzten und diesen Winter geschlagene Holz ausgegangen sind. Kein Wunder, da es außer Winter keine anderen Jahreszeiten mehr zu geben scheint. Wir sind eingeschlossen. Unsere Vorräte sind beinahe aufgebraucht. Ich weiß nicht, wie lange wir das noch durchhalten können.
Weder in einem Traum noch mit Hilfe der Fantasie scheint es ein Entkommen aus dem System zu geben… Ist es das, was mir Rita ausrichten will? Wenn wir schon sterben müssen, ist es dann nicht gleich, ob es geschieht, weil wir keine Vorräte mehr haben, oder ein Gesetz übertreten, das mit Todesstrafe geahndet wird? Vielleicht, wenn ich herausfinde, wer im Besitz der Schneekugel ist, und die Flocken aufwirbelt, damit in einem immerwährenden Jetzt der Schnee nicht tauen kann, vielleicht ist dann, wenn wir das herausfinden, ein Entkommen möglich.
Obwohl wir uns täglich sahen, weil wir in die gleiche Schule und die gleiche Klasse gingen, war sie mir nie wirklich aufgefallen. Wir hatten weder den gleichen Schulweg noch den gleichen Freundeskreis. In meiner Erinnerung hatte sie keine Freunde. Sie war eine Außenseiterin. Es war im zweiten Jahr der Unterstufe, als wir im Sachkundeunterricht – unter Sachkunde wurde alles verstanden, was Sache für die Lehrenden oder für die Lehrenden Sache war – einen neuen Lehrer bekamen. Ihm ging der Ruf voraus, äußerst unberechenbar und grausam zu sein, indem er seine Opfer der Lächerlichkeit preisgab. Wir fürchteten ihn also, noch bevor die Stunde begonnen hatte. Er war kaum zur Tür hereingekommen, verstummte die Klasse. Er würdigte uns keines Blickes und befahl uns, nicht mehr vom Platz aufzustehen und nicht den Mund aufzumachen, bis er wiederkäme. Jedes Zuwiderhandeln hätte Folgen, die wir uns – je nach Fantasie – ausmalen könnten. Er nahm ein Marmeladeglas aus seiner Tasche und stellte es auf den Tisch. Im Glas schwamm ein Goldfisch. Er schraubte den Deckel ab, nahm den Goldfisch heraus, legte ihn auf die Tischplatte und ging aus dem Klassenzimmer. Wie gelähmt saßen wir alle da und starrten auf den um sein Leben ringenden Fisch. Wir trauten unseren Augen nicht, sahen einander an und dann wieder den Fisch. Es würde nicht lange dauern und er würde ersticken. Wir sahen zu. Unsere Blicke verrieten eine Mischung aus Entsetzen und Faszination. Es herrschte absolutes Schweigen. Es gab keinen Raum, der unseren lautlosen Schrei hätte auffangen können. Niemand rührte sich. Die Angst vor der Schande, nicht eingegriffen zu haben, falls der Fisch wegen unserer Feigheit sterben sollte, hielt sich die Waage mit der Angst vor der angedrohten Strafe, die wir uns mithilfe unsrer Fantasie ausmalen sollten. Eine Zitterlähmung erfasste mich. Ich gehorchte. Wir gehorchten. Der Fisch zappelte, schnappte nach Luft und drohte vom Tisch auf den Boden zu fallen.
Das, Rita, war mein Traum:
Ein Mann steht im Ring. Der Ring ist seine Bühne. Er hat sich auf seinen Auftritt vorbereitet. Er weiß, dass er keine Chance hat. Die aber will er nutzen. Das Kostüm, das er für den bevorstehenden Kampf gewählt hat, ist das eines Schafes. Das irritiert. Das hat sein Gegner nicht erwartet. Er weiß, dass er zu Boden gehen und ausgezählt wird. Sein k.o. – vielleicht schon in der ersten Runde – vielleicht schon nach dem ersten Schlag, ist mit dem Veranstalter nicht abgesprochen, aber es würde ihn wundern, käme es anders. Es schert ihn nicht. Geschoren wird er ohnehin. Ungeschoren kommt er nicht davon. Das weiß er. Die Wolle aber hat ihren Preis. Jetzt tänzelt er. Das hat er sich abgeschaut. Er umkreist seinen stiernackigen Gegner, während die Zuschauer die Hymne des Hasses brüllen. Nach so viel Bier wollen sie Blut sehen. Ihn am Boden wollen sie sehen. Ausgezählt. Nicht mehr in der Lage aufzustehen. Aber er wird, er will kein Opfer sein, kein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und sich in sein Schicksal fügt.
Das Publikum ist in zwei Lager gespalten. Die einen halten ihn für ein Großmaul. Die anderen wissen um seine Tapferkeit. Er wird sie nicht im Stich lassen. Er wird kämpfen. Er wird aus dem Kampf einen Tanz machen.
Er steht vor dem Spiegel und macht sich Mut: Ich werde aus dem Kampf eine Choreografie machen. Eine Choreografie, in welcher Opfer und Täter ihre Rollen tauschen. Ich werde nicht zulassen, dass daraus eine Erzählung von Heroismus und Buße wird. Ich werde euch mitten ins Gesicht lachen. Ich werde immer wieder aufstehen und euch mitten ins Gesicht lachen. Es gibt eine Pflicht zur Selbstverteidigung, wenn der Gegner deine Auslöschung plant. Und das tut er. Er tut es unverblümt und sagt es öffentlich.
Übermut? Tollkühnheit? Tapferkeit? Zivilcourage?
Plötzlich stand Rita auf, ging zum Tisch, nahm den Goldfisch und gab ihn zurück ins Glas. Es gab niemanden, der sich nicht beschämt fühlte, nachdem sie sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte. Woher nahm sie ihren Mut? Gibt es etwas, das rätselhaftere Wurzeln hätte als Mut? Selbst, wenn ich die Geschichte irgendwo gelesen oder gehört hätte, erzählt in anderen Sprachen, sie beschrieb – schnell korrigierte er sich – sie beschreibt Rita, wie es niemandem aus der malenden Zunft gelingen könnte. Was immer gilt, existiert außerhalb der Zeit, fügte er hinzu. Wenn es ein Bild von Rita gäbe, wäre es das Bild, das ein Maler sieht, wenn er vor der weißen Leinwand steht, bevor er den Pinsel in Farben taucht. Wir, die wir gefesselt waren, sind von ihr befreit worden. Es war ein unvergesslicher Augenblick. Erfunden. Erlebt. Nacherzählt? Wen schert es? Wen?
Als der Lehrer wieder zurückkam, zuerst auf das Glas schaute, in welchem der Fisch schwamm, dessen Überleben er der Fürsorge der Klasse anvertraut hatte, dann in die Klasse hinein, indem er jeden einzeln ins Visier nahm, wusste er, dass er verloren hatte.
Stimmt nicht! sagte ein ehemaliger Mitschüler, der uns die Szene noch einmal in Erinnerung rief und sie so schilderte, wie er sie erlebt hatte: Der Lehrer war nicht grausam. Er wollte uns testen. Er wollte wissen, ob jemand den Mut haben würde, sich ihm zu widersetzen. Es war ein Experiment. Außerdem war es kein Goldfisch, sondern ein Lungenfisch, der von Kiemenatmung auf eine mit der Lunge umstellen und so länger überleben kann.
Du hast eine ausgeprägte Wahrnehmungsstörung, fiel ihm ein anderer ins Wort. Der Fisch hat das Experiment nicht überlebt. Wir alle waren zu feig, uns dem Auftrag des Lehrers zu widersetzen. Ich weiß noch, wie wir uns geschämt haben und der Lehrer uns eine Standpauke über Zivilcourage gehalten hat.
Der Streit nahm weiter Fahrt auf und drohte das nach 50 Jahren organisierte Klassentreffen zu sprengen, als einer, um die Gemüter wieder zu beruhigen, vorschlug, Rita um ihre Version der Geschichte zu bitten. Wie sich aber herausstellte, schien niemand ein Mädchen namens Rita gekannt zu haben. An dieser Geschichte stimme alles nicht, warf Thomas ein, der zu Schulzeiten wegen seiner Schüchternheit gehänselt worden war: Kein Mädchen kann einen solchen Mut bewiesen haben, weil es Mädchen in der Schule nicht gegeben hat und es eine reine Bubenschule gewesen ist. Oder will das jemand auch in Frage stellen?
Damit war die Sache erledigt. Sein Kopfkino war gut besucht. Jetzt war es an Rita, laut zu lachen. Sie saß in der ersten Reihe, hatte einen Plastikeimer voll mit Popcorn und amüsierte sich königlich. Als der Film zu Ende war und sie das Kino verließen, regnete es Flocken aus Styropor. Die Schneekugel war in die Luft gesprengt und die Täter waren zur Fahndung ausgeschrieben worden. Der Film schien kein Ende zu nehmen. Wirklichkeit war von Traum oder Fiktion, von Original oder Kopie, von imaginierter oder realer Welt, Digitales von Analogem nicht mehr zu unterscheiden.
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