08 Mai Hammer und Nagel
Ein Mann mittleren Alters, ich werde ihn X nennen, vom Typ her nicht unbedingt ein Abenteurer, aber sehr speedy unterwegs, fast wie unter Drogen, schaut nach links, schaut nach rechts, mustert sein Gegenüber, kann kaum an sich halten, um mit ihm ein Gespräch zu beginnen, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll. Der Zug fährt an. Der ihm gegenübersitzende Herr, den ich auf den Namen Y taufe, ist, nachdem er seinen Aktenkoffer in die Gepäckablage gestemmt hat, noch einmal kurz aufgestanden, um eine Zeitung aus seiner Manteltasche zu holen, die er nun wie ein Schutzschild vor sich aufgespannt hält. Sein Alter ist schlecht zu schätzen. Er wirkt auf mich nicht wie einer, der Interesse an Kontakt mit Passagieren hat, die mit ihm das Zugabteil teilen. Noch sind sie allein. Ich beobachte sie aus der Ferne, bin neugierig, wie sich das Verhältnis der beiden zueinander entwickelt. Bis zur nächsten Station, in welcher der Zug Halt macht, sind es immerhin 3 Stunden.
X beginnt, wie ich vermute, sich auf ein Gespräch vorzubereiten und eröffnet es, ohne den Mund aufzumachen, in Gedanken sein Gegenüber herausfordernd:
Wenn Sie nicht gestört werden wollen, sagen Sie es. Ich nehme Ihr Schweigen aber als Zustimmung. Jeder ist heutzutage mit seinem Handy beschäftigt, keiner schaut einem mehr in die Augen. Also sagen Sie mir, ob es Sie stört, wenn ich mit Ihnen ein Gespräch suchen will, eins, das über Small-Talk hinausgeht, da Sie nicht nur ein guter Zuhörer, sondern auch sehr belesen zu sein scheinen. Ein Meinungsaustausch schwebt mir vor. Wie ich sehe, lesen Sie die gleiche Zeitung, die auch ich lese. Ich hab sie sogar abonniert, weil sie in ihrer Berichterstattung sehr ausgewogen ist. Ist auch selten geworden, finden Sie nicht? Es gibt kaum noch ernstzunehmende Journalisten. Ich meine solche, die beide Seiten zu Wort kommen lassen und wenn sie Informationen haben, auch deren Quellen angeben. Ich will Fakten lesen und keine Meinungen. Wer nicht unparteiisch berichten kann, verstößt gegen das Berufsethos, finden Sie nicht auch? Haben Journalisten nicht die Pflicht, die Öffentlichkeit …Ich zumindest fühle mich emotional manipuliert, wenn …
X, der das alles nur in Gedanken zu Y sagt, weiß auch, was dieser ihm antworten würde, falls er die Zeitungslektüre aufgeben könnte und sich ihm zuwenden. Er lässt ihn also – auch das kann nur vermutet werden – sagen:
Y: Darf ich Sie in aller Höflichkeit darauf aufmerksam machen, dass ich mich von Ihnen nicht als guter Zuhörer vereinnahmen lassen will. Deuten Sie mein Schweigen, wie Sie wollen, aber nehmen Sie es nicht als Zustimmung. Wie Ihnen ja nicht entgangen sein dürfte, lese ich eine Zeitung und der Artikel, den ich gerade lese, erfordert meine ganze Aufmerksamkeit. Also lassen Sie mich in Ruhe und verschonen mich mit Ihren Belehrungen über objektiv berichtenden Journalismus. Auch ein Meinungsaustausch, wie Sie sich ihn wünschen, wird nicht stattfinden. Haben wir uns verstanden? Ich möchte nicht noch deutlicher werden müssen.
Noch lässt sich X nicht aus der Ruhe bringen, weiß er doch, dass er es selbst war, der ihn so hat antworten lassen.
Sie müssen nicht deutlicher werden, hört er sich – noch immer nicht wirklich – also mit seinem Munde redend – sagen. Ich habe schon verstanden. Sie wollen ihre Ruhe. Sollen Sie sie haben. Auch wenn ich ein bisschen enttäuscht bin. Das muss ich gestehen.
Enttäuscht? Lässt er Y sagen – auch dieser, ohne dass er seinen Mund auftut; Wenn einer enttäuscht sein darf, dann bin ich es. Ich bin davon ausgegangen, dass ich hier in aller Ruhe die Zeitung lesen würde können und niemand mich mit seinen Erwartungen überfällt. Da Sie meiner noch in aller Ruhe vorgebrachten Bitte nicht nachkommen wollen oder können, werde ich – was bleibt mir schon anderes übrig – meine Zeitung einpacken und gehen… Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht, mich um meine Ruhe zu bringen.
Ich bin ja schon still, schreit X plötzlich. Diesmal aber wirklich und jedes Wort auf allen seinen Silben betonend: Was glauben Sie, wer Sie sind? Halten sich wohl für etwas Besseres? Gehen Sie ruhig. Mit Ihnen will ich ohnehin nicht reden.
Y hat die Zeitung fallen lassen und starrt ihn entgeistert an. Er macht eine Geste, die nicht missverstanden werden kann, indem er sich mit dem Zeigefinger zwei Mal auf die Stirne tippt. Er steht auf, faltet die Zeitung, steckt sie in seine Manteltasche, wirft sie über den rechten Arm, holt den Koffer aus der Gepäckablage und verlässt fluchtartig das Abteil.
In Gedenken an Paul Watzlawick und weil ich seine Reaktion verstehen kann, rufe ich ihm – auch nur in Gedanken – nach: „Wer als Sender nur einen Hammer hat, sieht in jedem Empfänger einen Nagel.“
Fahrkarten bitte! schreckt mich ein Schaffner aus meinen erfundenen Dialogen auf.
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