Die Geburt

Ich war damals drei Jahre alt. In unserer ebenerdigen 2 Zimmer Wohnung in der Preislgasse, die dann 3 Jahre später samt Haus den Bomben zum Opfer fiel, war hektischer Betrieb. Mein Vater, ein Straßenbahnschaffner, war in der Arbeit. Ich erinnere mich an jede Einzelheit.

Ludmila spricht langsam, wählt und sucht Wörter, um ihre Geschichte mit Details zu schmücken, und das so, dass Ludwig wie gebannt zuhört, und sie nicht unterbrechen will, selbst wenn ihm viele Fragen auf der Zunge liegen. Ludwig ist jetzt mit ihr in der Küche, in der es noch nach Kohl riecht von der letzten Mahlzeit; die aber ist schon länger her, weil die Mutter seit Stunden in den Wehen liegt. Die Tür zum Schlafzimmer bleibt für sie verschlossen. Was immer dahinter passiert, dort geht es um Leben und Tod. Immer wieder wird heißes Wasser aufgesetzt, Leintücher, rot von Blut, werden in den Wäschekorb gestopft. Drei ihr wildfremde Menschen wuseln ununterbrochen zwischen Schlafzimmer und Küche hin und her.

Ich höre das pressende Atmen, die unterdrückten und erstickten Schreie meiner Mutter. Ich höre die Befehle, die aufmunternden Worte. Aber ich verstehe nichts und würde zu gern einen Blick in das Zimmer werfen. Das gelingt mir auch. Es gelingt mir, unbeobachtet von den Erwachsenen, die zu beschäftigt sind, auch noch auf mich zu achten, zwischen ihren Füßen hindurch wenigstens bis zur Türschwelle zu kommen; und genau in dem Augenblick sehe ich, wie das schwarze Köpfchen meiner Schwester aus dem Schoß kommt. Gleich darauf wurde ich von hinten gepackt und in die Küche geschubst. Viele sagen ja, dass man mit drei Jahren solche Erinnerungen nicht haben kann. Weil sie es nicht glauben können, sagen sie: Das hast du dir erzählen lassen und es hat sich dir so eingebrannt, dass du heute glaubst, dabei gewesen zu sein.

Aber ich schwöre. Es war genauso, wie ich es dir jetzt erzählt habe. Ich war mit drei Jahren Zeuge der Geburt meiner Schwester.

Du hast mir nie etwas von einer Schwester erzählt, sagt Ludwig. Warum?
Weil ich sie mir erfunden habe, um als Kind nicht so allein sein zu müssen
, sagt Ludmila nach längerem Schweigen.

Dann hast du das alles erfunden?

Ja, alles erfunden, sagt Ludmila und schaut in die Ferne, als hätte es eine Vergangenheit mit einer Schwester gegeben.

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