
12 März Proxemik
Gestern traf ich einen Freund. Nein: ich will mit dem Begriff nicht so leichtfertig umgehen. Kein Freund. Ein guter Bekannter. Das trifft es eher. Eigentlich will ich nach diesem Treffen auch nicht mehr wirklich etwas mit ihm zu tun haben. Er kann die Distanz nicht wahren. Ist mir auf die Pelle gerückt. Je weiter ich mich zurückgelehnt habe, umso mehr hat er sich zu mir hingebeugt mit Kopf und Schultern, mit seinem ungepflegten Bart und seinen rotunterlaufenen Hamsteraugen. Unlängst hab‘ ich einen Freund getroffen. Er war Bäcker, eröffnet er das Gespräch, ohne auf meine Frage einzugehen. Ich wollte ihn nämlich einladen, mit mir ein Hörspiel zu entwickeln, das nur bis zur ersten Szene gereift ist: Ich war gerade dabei, die Wohnung meines Vaters aufzulösen, klingelt es an der Tür, wollte ich ihm erzählen. Niemand konnte wissen, dass ich mich in seiner Wohnung aufhalte, die am Stadtrand liegt. Mit der Wohnungsinhaberin hatte ich schon gesprochen und ihr verspochen, den Transport für die Möbel zu organisieren und die Wohnung meines Vaters innerhalb weniger Tage besenrein zu übergeben. Es war auch nicht die Wohnungsinhaberin, hätte ich ihm sagen wollen. Um die Dramatik zu erhöhen, hätte ich die Gegenwart gewählt:
Soweit aber kam ich nicht, nicht einmal im Ansatz, weil er gleich von seinem Freund aus Jugendtagen zu erzählen begann, den er unlängst getroffen hatte. Ein Bäcker, der seinen Beruf gewechselt habe, nachdem einem Mann vom psychosozialen Dienst ein Messer in den Bauch gerammt worden sei. Und das mit nur kurzer Einschulung. Von einem Tag auf den andern. Einfach, weil er da gewesen und abkömmlich gewesen sei, als es um die Nachbesetzung der Stelle gegangen ist. Er käme aus einem kleinen Dorf am Land, wo das möglich sei, weil jeder jeden dort kenne. Gut, hab‘ ich mir gedacht, ist auch eine interessante Geschichte. Was aber will er mir erzählen?
Mein Freund vom psychosozialen Dienst, flüsterte er jetzt – und dabei unterschritt er die nach der von Edward T. Hall definierten Intimzone von 45 cm, die nur für ganz nahestehende Personen gilt – hat zwei Töchter im Alter von 17 und 18 und lebt mit seiner Frau schon seit Jahren in einer Josefsehe. Obwohl ich ihm durch nonverbale Kommunikation – mir blieb nach hinten kein Platz mehr, um ihm auszuweichen – zu verstehen geben versuchte, dass der Abstand zu gering ist und es mir Unbehagen bereitet – machte er keine Anstalten, sich den Regeln der Distanzzonen in der Proxemik-Forschung anzupassen:
Die ältere von den beiden Töchtern hat sich im Internet nach einem Mann umgeschaut, weil sie defloriert werden wollte. Sie hat auch einen gefunden. Das wollte ihr die Jüngere auch gleich nachmachen und ist auch fündig geworden. Das ist nicht so, wie wir es noch aus der Zeit kennen, in der wir Jugendliche waren, hat mein Bekannter gemeint. Da habe ich ein Mädchen kennengelernt, das von mir wollte, dass ich sie beim nächsten Treffen küsse. Ein ganze Woche hab‘ ich mir überlegt, was passiert, wenn wir gleichzeitig die gleiche Kopfhaltung einnehmen und mit den Nasen aufeinanderstoßen. Das würde doch gleich zum Abbruch führen und wäre an Peinlichkeit kaum mehr zu übertreffen. Das waren meine Bedenken damals. Und jetzt? Jetzt suchen sich die Mädels Männer im Netz, um sachgerecht defloriert zu werden, und mein Freund vom psychosozialen Dienst weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Die Ältere habe Bulimie und die Jüngere sei ein bisschen fester, was zu einem handfesten Streit mit ihrer Mutter geführt habe, die nach zwei Schwangerschaften auch „auseinandergegangen“ sei und von ihrer jüngeren Tochter verlangt habe, dass sie sich einer Diät unterwerfe. Daraufhin habe die Jüngere zu ihrer Mutter gesagt – und dabei rückte er mir schon wieder so nah auf die Pelle, dass ich seinen Atem riechen konnte – süßlich vom Almdudler, den er sich bestellt hatte – Friss du zuerst einmal weniger, du fette Sau! Da hätte ihn sein Freund vom psychosozialen Dienst gefragt, ob das noch zu tolerieren sei. Er wäre gerne eingeschritten, aber seine Frau hätte nur gelacht. Wie ich darüber dächte, wollte er jetzt von mir wissen. Ich weiß nicht, habe ich ausweichend geantwortet, dein Freund vom psychosozialen Dienst scheint nicht zu beneiden zu sein.
Was hast du ihm geantwortet? habe ich ihn gefragt, indem ich aufgestanden bin, um mich über die soziale Zone in die öffentliche zu begeben. Seine Antwort, die ich mit Staunen quittierte, war: Ich bin arbeitslos, musst du wissen, und lass mich gerade in der Aktion 50 plus zum Kaufmann umschulen. Morgen hab‘ ich einen Termin, wo mir, einem 62-Jährigen, jemand vom WAFF oder VAB erklärt, wie ich ein Bewerbungsschreiben abfassen muss, damit der Adressat nach 5 Sekunden weiß, ob er mich zu einem Gespräch einladen soll oder nicht. Die wollen mich auf Trab halten, denn ich bin in Wirklichkeit nicht mehr vermittelbar. Das hat mir der vom VAB gesagt.
Auf dem Weg zur U-Bahn, auf dem er mich unbedingt begleiten wollte, beantwortete er mir die ihm, dann mir und jetzt wieder ihm gestellte Frage doch noch. Er war schon im Einsteigen und die Türen vor dem Schließen, als er mir nachrief: Ich hab ihm geraten, wieder Bäcker zu werden. Da würde er in der Nacht arbeiten und am Tag schlafen und von all dem nichts mitkriegen.
Würde er die Intimzone einhalten, und müsste ich ihm nicht ständig ausweichen, würde ich ihn vielleicht doch wieder einmal treffen wollen. Schon der Geschichten wegen, die er zu erzählen hat. Vielleicht wüsste auch er mir einmal einen weisen Rat. Zum Beispiel, wie ich von der ersten in die zweite Szene komme, wenn ich an mein Hörspiel denke. Alle, die ich treffe, frage ich, wie es weitergehen könnte. Viele winken ab und sagen, da ist Fantasie gefragt. Oder: Das musst du schon selber wissen. Tut mir leid, aber da kann ich dir nicht helfen. Alle aber, ohne Ausnahme, finden den Hook gut für einen ersten Plot, wie es in der Fachsprache heißt.
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Ruth Thurnher
Posted at 11:33h, 29 MärzDie Geschichte gefällt mir! Ich kenne das mit den leichtfertig eingestuften Freunden. Auch das Problem „Proxemik“ stört mich bei manchen Leuten sehr. Einige davon sind einfach nur Bekannte. Warum kennen manche keine Distanz? Sie wollen vielleicht einfach nur wahrgenommen werden, Nähe einfordern, die ihnen fehlt? Den Rat deines „fast Freundes“ an den Bäcker finde ich gut.