
05 Mai Bronzestatuen und Bergamotte
Reggio di Calabria und Lamezia T. Nicastro waren die letzten Stationen unserer Reise, die uns den Kontrast von pulsender Urbanität, akademischem Aufbruch und Hinterland-Melancholie vor Augen führten, aber beide mit dem Flair des Vero Sud empfingen.
Der schönste Kilometer Italiens:
Gabriele D’Annunzio, Dichter des Fin de Siecle und später Anhänger Mussolinis, hat die Lungomare Falcomatà in Reggio di Calabria als „il più bel chilometro d’Italia“ bezeichnet. Dieser Ausspruch ist legendär – doch historisch nicht belegt. Ein klassischer Fall von „fake it,till you make it“. Aber diese Meile braucht keinen Fürsprecher, sie spricht für sich. Auf der von Palmen, die sich in der vom Meer kommenden Brise wiegen, riesigen Magnolienbäumen, die nicht von vier Händen umspannt werden können, und einer von Jugendstilvillen gesäumten Promenade, deren Fassaden vom Reichtum der Belle Epoque erzählen, flanieren die Einwohner – Nachfahren der Magna Grecia, des Imperium Romanum, muslimischer Piraten und Kreuzfahrer, stolze Söhne und Töchter Garibaldis und des Risorgimento – immer mit Blick auf die Straße von Messina, die vom Tyrrhenischen Meer ins Jonische mündet. Auch wir genießen neben der Aussicht auf das gegenüberliegende Ufer Siziliens und den schneebedeckten Ätna das hektikfreie Treiben, das lautstarke Passeggiata der Einheimischen, die sich – mit einer Vehemenz gestikulierend -, die uns anfänglich fürchten ließ, dass aus den so geführten Gesprächen Handgreiflichkeiten entstehen, auf das lange Osterwochenende freuen.
Ein Tauchgang schreibt Geschichte:
Da wir uns für zwei Tage in einer Unterkunft fast im Zentrum Reggio’s eingemietet haben, sind Ausflüge zu anderen Sehenswürdigkeiten nicht weit. Zu einem „Must see“ gehört vor allem das Archäologische Museum, beherbergt es doch neben anderen Fundstücken aus der geschichtsvollen Zeit dieser Stadt, die bis ins Neolithikum reicht, die Bronzi di Riace, 2500 Jahre alte Krieger, die 1972 von einem Hobbytaucher nicht weit von der Küste entdeckt worden sind. Was der 25 jährige Chemotechniker Sefano Mariottini bei diesem Schnorchelausflug in nur 8 m Tiefe im sandigen Meeresboden fand, war ein aus dem Sand herausragender Arm, den er zuerst für den Teil einer im Meeresboden begrabenen Leiche hielt. Die Bergung brachte zwei gut erhaltene Bronzefiguren von fast 2 m ans Tageslicht, Meisterwerke griechischer Skulpturenkunst mit atemraubenden Details wie Zähnen aus Silber, Lippen aus Kupfer und Elfenbeinaugen, die das Verständnis antiker Bronzetechnik revolutionierten und zum Symbol für die vergessene Größe der Magna Grecia wurde. Bis heute wird gerätselt, wen sie darstellen: Bodybuilder, Helden oder Götter? Und wie es dazu kam: Wurden sie über Bord geworfen? War ein Schiff in Seenot geraten? Nachdem wir in einer Schleuse dekontaminiert wurden, durften wir die beiden aus dem Meer geborgenen Bronzestatuen besichtigen. Lebensgroße Repräsentanten einer Zeit, in welcher die Bewohner der griechischen Stadtstaaten von Athen über Sparta bis Korinth und Rhegium das Perserreich besiegt und so das goldene Zeitalter Griechenlands eingeleitet haben.
Berühmte Griechen in Rhegium:
Ich habe zu erwähnen vergessen, dass in Rhegium, der ersten griechischen Siedlung auf süditalienischem Boden, Aischylos und Ibykus lebten und starben. Beide starben eines unnatürlichen Todes. Ibykus war ein lyrischer Dichter, der von Räubern ermordet wurde. Schiller hat ihm eine Ballade gewidmet:
„Zum Kampf der Wagen und Gesänge1,
Der auf Korinthus‘ Landesenge2
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibykus, der Götterfreund.
5Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
Der Lieder süßen Mund Apoll3,
So wandert‘ er, an leichtem Stabe,
Aus Rhegium4, des Gottes voll…“
Aischylos starb, weil angeblich ein Adler eine Schildkröte auf seinen Glatzkopf fallen ließ. Dieser makabre Unfalltod war Schiller keine Ballade wert.Castello Aragonese
Vom Museum ist es nicht allzu weit zur Aragonesischen Burg, dem Wahrzeichen Reggio’s, das Erdbeben, Bombardements im 2.Weltkrieg und jahrzehntelangen Verfall überlebte und so auch von der Widerstandskraft seiner Bewohner Zeugnis ablegt. Von der Aussichtsplattform hat man einen hervorragenden Blick auf den Isthmus. Hier also legten die griechischen Schiffe an und hier sammelten sich die Kreuzfahrer und rüsteten sich für den Krieg gegen die Muselmanen, um Jerusalem zu erobern. Reggio ist kein Freilichtmuseum mit Disneyland-Charme. Reggio ist ein offenes Geschichtsbuch. Ich halte es auf Reisen allerdings so, dass ich vor Antritt wenig recherchiere, dafür aber – sie dokumentierend – dann multiperspektivisch und mit Quellenangaben, (die unter dem Artikel zu finden sein werden). Manchmal verliere ich mich in Details. Wie jetzt zum Beispiel, oder interessiert dich die Geschichte dieser Burg? Leider war von der für uns abgestellten Führerin nichts zu erfahren. Sie brachte uns wortlos hinauf auf die Plattform und wartete – sich mit ihrem Smartphone beschäftigend – bis wir wieder zum Abstieg bereit waren. Die erste Befestigung war sicherlich unter Byzanz errichtet worden, um sich gegen arabische wie normannische Angriffe zu schützen. Friedrich II hat sie im 11. Jhdt. schon als strategischen Stützpunkt genutzt. Wer weiß, welche Reste aus welcher Zeit sich unter den Fundamenten der Burg befinden, da ja alle Hügel seit jeher sich für die Gründung von Siedlungen, von Siedlungen mit Burgen, später auch Kirchen oder Klöstern eigneten, da sie Schutz boten und der heranrückende Feind weithin sichtbar war. Angeblich soll Barbarossa sich auf der Burg aufgehalten haben. 1190 überwinterte der Kaiser mit seinem Kreuzfahrerheer in Reggio, bevor er nach Messina übersetzte, wo er kurz darauf in einem Fluss ertrank.
Reggio di Calabria ist kein Ort mit vielen Sehenswürdigkeiten, sondern eine Stadt, die sich langsam erschließt – durch ihre Menschen, ihre Küche und die magische Atmosphäre zwischen Meer, dem Hinterland des Aspromonte, und der Straße von Messina. Eigentlich war ein Ausflug in die Berge geplant. Vielleicht das nächste Mal. Erst im Abgang beginnt das Flair von Vero Sud zu wirken. Wer Italien abseits der ausgetretenen Pfade erleben will, wird hier belohnt: mit Authentizität, Gastfreundschaft und dem Gefühl, am Ende der italienischen Welt – und doch im Herzen des Mittelmeers – angekommen zu sein.
Kulinarik: Aromen des Südens
In den engen Gassen der Altstadt, die erst am Abend zum Leben erwachen, duftet es nach ‘Nduja, der pikanten Streichwurst aus Schweinefleisch und Chili, die hier ihren Ursprung hat und wie Nutella aufs Brot geschmiert wird. Wir finden eine Trattoria, die traditionelle kalabresische Küche serviert: Pasta alla Norma mit Auberginen, Pesce Spada (Schwertfisch) vom Grill und Cipolle Rosse di Tropea, die süßlichen roten Zwiebeln, die in der ganzen Region angebaut werden. Eine Recherche über die Köstlichkeiten aus Meer und Hinterland hätte gut getan. So hätten wir gewusst, dass ein Glas Cirò, der lokale Rotwein aus der Provinz Crotone, das gute Essen abgerundet hätte. Genauso wie der torrone (Nougat) oder gelato al bergamotto – eine Eissorte, die mit der duftenden Zitrusfrucht der Region zubereitet wird. Eigentlich aus dem osmanischen Anatolien importiert, entfaltet sie ihr spezielles Aroma nur in der Erde Kalabriens.
Bergamotte: Das Parfüm der Könige
Auf dem Weg zur Burg finden wir zufällig ein kleines Hinweisschild, das uns ins Museo del Bergamotte lockt. Eintritt gegen freiwillige Spende. Ein Audioguide erzählt die Geschichte des Bergamotte, eine Frucht, die als L’oro verde di Calabria die Region prägt und geprägt hat. Sie ist nicht nur Grundlage für Earl Grey Tee, das aus ihr gewonnene Öl wird mit Zertifizierungen an Chanel und Dior verkauft, was Korruption erschwert; sie gilt auch – was noch viel verwunderlicher ist – als Waffe im Kampf gegen die Mafia, da ihr kleinteiliger Anbau im Familienbetrieb im Vergleich zu Bauprojekten, dem Tourismus oder der Müllentsorgung Fachwissen, internationale Handelswege und Transparenz braucht. Kriminelle Zwischenhändler können so umgangen werden. Außerdem bietet der Bio-Boom EU-zertifizierte Bio Bergamotte für 80€/ kg Öl und somit Anreiz auch für die Jugend nicht abzuwandern. Papst Franziskus hat die Projekte unterstützt und 2023 aus Bergamotte vatikanische Seife herstellen lassen.
Nicastro oder die vergessene Zitronenaristokratie
Der Zug bringt uns am Ostersonntag von Reggio nach Lamezia. Wir aber wollen nach Lamezia Terme Nicastro, einer Stadt im Hinterland. Auch dorthin hätten wir mit einem Regionalzug gelangen können. Leider aber waren die Fahrpläne so, dass wir auf dem Weg dorthin viele Stunden verloren hätten. Nach einem Telefonat wurden wir vom Besitzer der gebuchten Unterkunft, der die Kosten für ein Taxi nur geringfügig unterbot, abgeholt. Wir waren froh. Immerhin war Ostersonntag. Außerdem Siesta. Die Stadt wie ausgestorben. Gleich neben der Unterkunft ein Lokal, aus dem vielstimmiger Gesang nach außen drang. Gesang? Nicht wirklich. Die Karaoke-Gemeinde, eine Geburtstags- oder Hochzeitsgesellschaft, schien sich nicht auf Tonhöhen einigen zu können. Hätte uns der Wirt nicht vorgeschlagen, uns auch auf der menschenleeren Straße zu bedienen, wäre das mit unüberhörbarer Begeisterung zum „Besten“ gegebene Liedgut kaum auszuhalten gewesen. Als der Wirt herausfand, dass mein Wortschatz im Italienischen über „Grazie!“, „Ciao!“, „Dove?“ hinausgeht, wurde er es nicht müde, mich dafür zu loben, ließ aber auch mein Essen kaltwerden, indem er mir im Zeitraffer sein Leben erzählte: Autoverkäufer für FIAT, (Akronym für „Fahr immer an Tankstellen vorbei“ oder „Fehler in allen Teilen“ – das weiß ich, da ich selbst einmal einen gefahren bin), dann Krebs, Chemo, geheilt, mit seiner Frau das Restaurant eröffnet, Ende gut, alles gut. Er überrascht uns mit einer Limoncello a Bergamotto und stößt auf uns an: Cin. Cin! Alla Vita!
Danach Spaziergang durch die am Ostermontag tote Stadt, wo die Häuser mit bröckelndem Charme wie Schwalbennester an den Hängen kleben und noch Spuren der Giudecca mit ihrer sephardischen Gemeinde zu finden sind. 1511 von den Spaniern vertrieben – wer blieb konvertierte oder rettete sich in die Berge. Wo die Synagoge stand ist heute die Kirche San Domenico – stumme Zeugin gewaltsamer Assimilisation. Über der Stadt – wie der Horst eines Adlers – die Burgruine der Staufer. Auf den engen Gassen hinauf finden wir ein Denkmal für Friedrich II, stupor mundi, Verfasser einer Schrift über die Falkenjagd, der seinen aufständigen Sohn auf dieser Burg gefangen hielt. Nicastro hat schon bessere Zeiten gesehen. Davon zeugen die verfallenden Palazzi mit stuckverzeirten Portalen. Im 19. Jhdt. boomte die Stadt vom Bergamotte-Export in die weite Welt. Die EU-Fördermittel für Kalabrien von über 12 Mrd. € versickern ungenutzt. Es gibt keine Industrie. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30%. Die Jugend flieht. Die Stadt beklagt einen steten Bevölkerungsrückgang. 2021 hat die Mafia die Bäume vergiftet und eine Brandanschlag auf eine Plantage verübt, weil der Besitzer sich geweigert hat, Schutzgeld zu zahlen. Und doch gibt es Hoffnung: Die Bewohner der Stadt leisten Widerstand. Bergamotte steht für kalabresischen Stolz.
Abschied von Kalabrien im Duty-Free-Shop, wo seine kulinarischen Köstlichkeiten als Mitbringsel für kurzfristig nachhaltige Erinnerung sorgen. Aber selbst, wenn die aus den roten Zwiebeln gefertigte Marmelade aufgebraucht und das Bergamotte Parfüm seinen Duft versprüht hat, werden wir uns oft und gerne an diesen Aufenthalt am Stiefel Italiens erinnern und Kalabrien als Urlaubsziel für Unentschlossene empfehlen.
Danke fürs Lesen
Links zu Kalabrien:
- Jüdische Spuren in Kalabrien (Centro Primo Levi)
- Friedrich II. in Süditalien (Stupor Mundi)
- Burg Nicastro (Comune Lamezia Terme)
- Armutsbericht Kalabrien (ISTAT 2023)
- Jüdisches Nicastro (Centro Primo Levi)
- Friedrich II. & Heinrich (VII.) (Stupor Mundi)
Hier sind einige seriöse Quellen zur Entdeckung der Bronzestatuen von Riace und zur Geschichte Kalabriens, die online zugänglich sind:
Zu den Bronzi di Riace & ihrer Entdeckung:
- Offizielle Seite des Museo Archeologico Nazionale di Reggio Calabria
- Museo Archeologico Reggio Calabria – Bronzi di Riace
(Englisch/Italienisch – Infos zu Fund, Restaurierung & Ausstellung)
- Museo Archeologico Reggio Calabria – Bronzi di Riace
- Bericht des The Guardian (2019) über Stefano Mariottini
- The Guardian: „The Diver Who Discovered Ancient Statues and Was Forgotten“
(Englisch – Hintergrund zum Finder und seiner späten Ehrung)
- The Guardian: „The Diver Who Discovered Ancient Statues and Was Forgotten“
- Wissenschaftliche Analyse der Bronzen (Smithsonian Magazine)
- Smithsonian: „The Mystery of the Riace Warriors“
(Englisch – Technische Details & archäologische Debatten)
- Smithsonian: „The Mystery of the Riace Warriors“
- Italienisches Kulturministerium (MiC) – Dossier zu den Bronzen
- MiC: Scheda tecnica Bronzi di Riace
(Italienisch – Offizielle Dokumentation mit Fundprotokollen)
- MiC: Scheda tecnica Bronzi di Riace
Zur Geschichte Kalabriens (Magna Graecia & Mittelalter):
- Ancient History Encyclopedia: „Magna Graecia“
- Magna Graecia – Greek Colonies in Italy
(Englisch – Griechische Kolonien, inkl. Reggio/Rhegion)
- Magna Graecia – Greek Colonies in Italy
- Bericht der BBC über Kalabriens antike Stätten
- BBC Travel: „Italy’s Least-Visited Region Hides Ancient Greek Treasures“
(Englisch – Archäologie & kulturelles Erbe)
- BBC Travel: „Italy’s Least-Visited Region Hides Ancient Greek Treasures“
- Forschungsprojekt zur Normannenzeit in Süditalien (Universität Zürich)
- Norman Sicily Project
(Englisch – Mittelalterliche Geschichte, inkl. Kalabrien)
- Norman Sicily Project
- Artikel zu Barbarossa & den Staufern in Süditalien (Deutsches Historisches Museum)
- DHM: Friedrich Barbarossa und Italien
(Deutsch – PDF mit Bezug zu Kalabrien)
- DHM: Friedrich Barbarossa und Italien
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