Storytelling am Beispiel

Ein Angestellter einer Lebensmittelkette wird gekündigt. Er hat keinen Schulabschluss. Jetzt geht er in seinem seit der Scheidung hochverschuldeten Haus auf und ab und kann nicht mehr schlafen. Als er ausgerufen wurde, ins Büro zu kommen, hat ein anderer Angestellter noch gescherzt: Wahrscheinlich machen sie dich wieder zum Mitarbeiter des Monats. Das hat er wirklich angenommen. Er wurde zwar nie befördert, aber schon des Öfteren zum Mitarbeiter des Monats gekürt. Dieser Mann wird als jemand eingeführt, der nicht nur seine Arbeit macht, sondern auch noch nach Ladenschluss weit über gesetzlich vorgeschriebene Reinigungs- und Instandsetzungsarbeiten hinaus unbezahlte Tätigkeiten verrichtet. Der Mann ist niemand geringerer als Tom Hanks. Zumindest wird er von ihm gespielt. Er hat also gutes Recht anzunehmen, dass sie ihn wieder auszeichnen wollen. Er sitzt im Büro seinem Boss und drei Männern in Anzügen gegenüber und wird gefragt, warum er glaube, dass er gerufen wurde. Noch bevor er sagen kann, dass er davon ausgehe, ihn wieder als Mitarbeiter des Monats auszuzeichnen, eröffnen sie ihm unverblümt, dass er wegen seines unabgeschlossenen Collagestudiums gekündigt wird. Natürlich fällt er aus allen Wolken und wendet sich ungläubig an seinen Boss: Wie können Sie mir das antun? Sie wissen doch, wie hart ich seit Jahren arbeite, um über die Runden zu kommen. Sie wissen doch auch, dass ich mich nie über die die vielen unbezahlten Stunden beklagt habe, in denen ich nach Ladenschluss im Geschäft geblieben bin und auch darüber hab ich mich nie beklagt, dass ich nie befördert worden bin. Eigentlich hab ich angenommen, dass sie mich wieder mit dem Customer’s Choice Award auszeichnen wollen.
In einem gewissen Sinne, antwortet einer der ihm gegenübersitzenden Manager, indem er die seinen Hals würgende Krawatte lockert, haben wir das eben getan. Wow, das hat gesessen.
In der Wohnung auf und abgehend fragt er sich, wie er überleben soll, wenn er nicht schleunigst eine Arbeit findet. Die Heldenreise beginnt. Er telefoniert viel. Ohne Erfolg. Er will schon aufgeben, da … wir sind bei Minute 9:00. – jetzt geht er vor den Spiegel. Dann kauft er sich einen Anzug, aber es hilft nichts. Er verkauft alles nicht Niet- und Nagelfeste, um das Haus zu halten. Gemäß den Gesetzen des Storytellings muss er jetzt etliche Prüfungen bestehen, bis er – nach vielem Scheitern schon in den Abgrund existenzieller Not schauend – begleitet von Helfern – gerettet wird. Er hat bei einem Trödler einen riesigen Flachbildschirm gegen einen Roller getauscht und wird Mitglied einer Gang von auch weiblichen Mopedfahrern, die ihm eine enganliegende schwarze Motorradkluft und einen neuen Haarschnitt verpassen. Von jetzt an ist er kein Looser mehr. Die Gang hat ihn unter ihre Fittiche genommen. Vor allem die weiblichen Mitglieder. Eine – sie ist der Sozius vom Boss, eine richtige Rückenwärmerin – übertreibt dabei so, dass sogar der Gangboss – ein fescher Latino – eifersüchtig wird. Wer’s glaubt, wird selig.
Tom hat sich bei Kursen für eine Collegeabschlussprüfung eingeschrieben. Einer dieser Kurse, in denen es um Körpersprache und Selbstbewusstsein bei Bewerbungsgesprächen geht, wird von einer Frau gehalten, die von Julia Roberts gespielt wird. Sofort wissen wir, dass sich zwischen den beiden was anbahnen wird, das nach Komplikationen und Verwerfungen vermutlich in einer Ehe mündet. Aber noch ist es nicht soweit. Der von Julia geführte Kurs kann oft nicht stattfinden, weil es mindestens 10 sein müssen, die ihn besuchen. Auch hier braucht es Hindernisse, die eine Entwicklung zum Positiven möglich machen. Der Zuseher kann jetzt schon annehmen, dass ihr Kurs bald dem Ansturm derer, die sich für ihn angemeldet haben, nicht mehr gewachsen sein wird  und sie in riesige Vorlesungssäle ausweichen wird müssen. Wir sind bei Minute 49:30.

Julia ist in einer schwierigen Beziehung gefangen. Ihr Lebenspartner ist Schriftsteller, gibt ihrer Ansicht nach aber nur vor, an einem Roman zu arbeiten, während er in Wirklichkeit sich Pornoseiten reinzieht. Er verteidigt sich. Jeder richtige Mann tue das und außerdem stehe er auf große Titten, über die sie leider nicht verfüge. Der Streit spielt sich auf der Heimfahrt im Auto ab. Sie will aussteigen. Er sagt, dass er es so nicht gemeint habe. Außerdem sei er betrunken. Der Streit eskaliert. Er lässt sie mitten auf einer mindestens achtspurigen Autobahn aussteigen. Diese Trennung war dramaturgisch notwendig. Es regnet. Vollkommen durchnässt und verzweifelt, weil sie nicht weiß, wie sie nach Hause kommen soll, sitzt sie unter dem Dach einer Bushaltestelle. Was passiert? Genau. Wer kommt, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien? Na wer? Tom Hanks natürlich. Aus unerfindlichen Gründen ist er nächtens mit seinem Roller unterwegs auf den Highways von LA. Mit seinem Motorradoutfit schindet er Eindruck bei den Frauen. Er bringt Julia nach Hause. Sie küssen sich. Wir halten bei 1:02:36. Dann sperrt er sie in ihrem Schlafzimmer ein, damit sie am nächsten Morgen nicht behaupten kann, dass er sich ihr in einer bestimmten Absicht genähert habe. So ein Mann ist das, der Tom. Verzichtet auf die Gelegenheit mit ihr zu schlafen, obwohl sie sich ihm angeboten hat.
Vor Kursbeginn am nächsten Tag erklärt sie ihm, dass sie wegen Trunkenheit nicht sie selbst gewesen sei und er vergessen möge, was zwischen ihm und ihr vorgefallen ist.
Julia sagt: Vergiss mich! Und wir wissen, dass sie das bereuen wird. Jetzt liegt sie allein im Bett. Dann steht sie auf und geht ans Fenster und schaut hinaus. Sie hat herausgefunden, dass er in einem Restaurant als Koch arbeitet. Wie das? Er war bei der Navy. Thank you for your service. Ein Koch also. Ein Guter. Hat niemanden umgebracht.
Das reicht nicht. Er muss noch mehr soziales Engagement zeigen, damit Julia weiß, dass sie endlich den Richtigen an der Angel hat. Sie sieht, wie er Unrat von der Straße klaubt und ihn in einen Mülleimer wirft. Sie sieht, wie er  einem Pizzaverkäufer das Wechselgeld schenkt, obwohl er selbst an der Armutsgrenze lebt. Vor ihren staunenden und feuchtwerdenden Augen hält er einen fulminanten Abschlussvortrag über die schöne Zeit, wo er bei der Navy war und viel in der Welt herumgekommen ist. Ihm wird frenetisch applaudiert. Kurzum: Er besteht alle Prüfungen mit Bravour. Julia schmilzt dahin. Hüttenkäse, Obst, Hühnersteak. Es ist soweit. Julia überwindet ihren Stolz. Sie kommt ihn am Arbeitsplatz besuchen. Er riecht nach Röstzwiebeln. Griechischer Salat, Pommes Frites, Ketchup: French Toast.
Hast du Hunger?
Großen.
Close up. (Unerwartetes) Happyend mit Kuss, innigem Kuss von Julia Roberts auf den ketchupverschmierten Mund von Tom Hanks, und das war’s.
Ende bei 1:21:25 ohne Abspann.

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