Fenzlgasse

Vor mir an der kassa eines pennymarktes bückt sich eine frau hinunter zu einem kind und fragt es: wie heißt du? Der mutter ist das peinlich, da eben jene frau, die ihre farblosen haare zu einem rossschwanz aufgebunden hat, so schrill gelacht hat, dass es mir durch mark und bein ging. Der mann an der nebenkasse, die endlich eröffnet wird, nachdem sich schon eine lange schlange gebildet hatte, nestelt einen zerschlissenen fünfer aus seiner hosentasche und wird von der kassierin höflich aber bestimmt darauf aufmerksam gemacht, dass dies zu wenig sei. Zuerst schaut er hilfesuchend um sich, da ihm aber niemand aus seiner misslichen lage helfen will, steckt er den fünfer wieder ein, zuckt mit den schultern, lässt das in plastik eingeschweißte bier auf dem schwarzen rollband stehen und schlürft davon. Die Kassierin löst ihre arme, die sie im nacken verschränkt hielt, und bedient ohne einen verständisinnigen blick mit den menschen in der schlange zu suchen, die preise der waren einzuscannen, die wie ein ewiger mahlstrom vor ihr liegen.
Vorstadt.  Wie bin ich dort hingeraten? Wem außer mir selbst – soll ich dafür die schuld geben? Und außerdem: ist es so schlimm in der vorstadt zuhause zu sein? Was für ein dünkel zu glauben, ich verdiente besseres. Es ist bodenständig, weniger abgehoben, weniger verlogen oder auf eine art verlogen, die auch davor nicht zurückschreckt, sofort als lüge erkannt zu werden. Alles ist viel zu dick aufgetragen und damit meine ich nicht nur die dicke schicht der schminke von frauen, die so glauben, ihren verfall aufhalten zu können. Selbst die fassaden der häuser, die nie bessere zeiten gesehen haben, scheuen sich mit ihrem abbröckelnden verputz nicht, sich von ihrer hässlichsten seite zu zeigen. Gerade diese hinfälligkeit aber macht ihren charme aus. Darum also möchte ich es nicht als einen abstieg ansehen, dass ich nun in der vorstadt wohne, auch nicht als einen fall, der mich auf den boden brachte, um das leben endlich auch aus dieser perspektive kennenzulernen, sondern vielmehr als eine heimkehr aus einem geträumten exil, in das ich mich selbst verbannt hatte. Drum kann ich es den leuten auch nicht verübeln, dass sie es mir so schwer wie möglich machen, mich wieder heimisch zu fühlen. Sie fühlten sich im stich gelassen, verraten. Auch wenn sie es nie sagen würden, höre ich ihren vorhalt: wo warst du? Nicht nur dir, uns allen ging es dreckig und auch heute nicht besser. Du aber bist geflohen.
Wenn sie nur wüssten. Wenn sie wüssten, dass ich die vorstadt nie verlassen und sie mit mir herumgetragen hatte überall hin, wohin immer es mich verschlug, würde es sie vielleicht versöhnlicher stimmen, aber ich werde ihnen immer fremd bleiben und sie mir, und ich kann heute gut verstehen, dass sie mich mit einer verachtung strafen, die sie als herzlichkeit tarnen, denn ich habe ihre sprache nie gelernt. Was gäbe ich alles darum, von ihnen als einer der ihren erkannt und wie ein verloren gegangener sohn wieder aufgenommen zu werden. Aber ich habe nie dazu gehört, damals nicht und heute noch weniger, nie.
Eben komme ich von einem gartenfest zurück. Nichts hätte mir besser vor augen führen können, dass ich hier fehl am platze war. Fehl am platze. Nicht nur, dass ich niemandem gefehlt und niemand mich auch nur für augenblicke vermisst hätte, wäre ich nicht erschienen: ich wurde darüber hinaus das gefühl nicht los, in eine sphäre eingedrungen zu sein, die betuchtere leute als die, die uns eingeladen hatten, mit dem schild „privatgrund. Betreten verboten!“ zu schützen suchen. Aber das war es anfänglich gar nicht, was mich so erschüttert hat, dass niemand auch nur den geringsten versuch unternahm, mit einem vielleicht nur angedeuteten lächeln ein wiedererkennen zu signalisieren. Es war schließlich nur ein jahr her, dass wir uns das letzte Mal trafen. Was mehr noch als diese ausbleibende verbindlichkeit, die ich damals herzustellen so bemüht war, mich wie ein keulenschlag traf, war der anblick des gartens oder dessen, was von ihm übriggeblieben war.
Vielleicht traf es mich deshalb so wuchtig, weil sein zustand das spiegelte, was mir von den anderen entgegenschlug oder sich in mein denken eingeschlichen hatte. Dieses gefühl eines plötzlichen ausgeliefertseins und der schon im ansatz zum scheitern verfluchte versuch so zu tun, als sei nichts geschehen. Der ganze hintere gartenteil war weggerissen. Dort, wo die riesigen Nadelbäume und das dichte Unterholz des benachbarten Gartens gestanden hatten, gähnten jetzt riesige von einem bagger ausgegrabene löcher, als wären es erst kürzlich gerissene backenzähne, die aus unerfindlichen gründen entfernt werden mussten. Die gastgeberin schien meine erschütterung bemerkt zu haben. Während sie hühnerbrüste und würstel auf den grill legte und mit einer zange wendete, was schon auf dem grill lag, meinte sie, als würde sie auf eine leiche schauen: „Wird zeit, dass wir hier wegkommen.“ Ich konnte ihr nur zustimmen. Denn schlimmer noch als das aufgerissene brachland im rücken des in der nachkriegszeit mit billigstem material aufgestellte, mittlerweile hinfällige, aber mitleiderregende ebenerdige haus, war die babellike aufgetürmte Architektur von monte laa. Die drohte nämlich aus der perspektive dessen, der jetzt im garten saß und das ungewürzte hühnerbrüstchen zu verschlingen begann, jeden augenblick einzustürzen und das häuschen samt dem bisschen grün zwischen all dem beton unter sich zu begraben.
Verloren strich – wie die am band durch den garten geführte siamkatze – eine philippinin um die eingeladenen gäste. Erst als sie sich ohne je das wort mit einem der anwesenden gewechselt zu haben, in eine hängematte legte, wusste ich, dass sie wer mitgebracht hatte. Er saß vor mir. In der linken hielt er ein würstchen, von dem er immer wieder abbiss und selbst im kauen das gespräch – oder war es ein monolog? –  nicht abreißen ließ, während er mit der rechten lässig, als wäre es ein zu wiegendes baby, mit der hundeleine die hängematte in schaukelnde bewegung brachte. Ich weiß nicht, ob ich solche männer beneiden oder bemitleiden soll, die sich aus enttäuschungen mit einheimischen frauen eine zulegen, die nicht so zickig sei, wie die meisten nicht müde werden mit einem nach solidarität heischendem lächeln dir zu versichern. Als die gespräche zu stocken begannen, wurde angekündigt, dass nun ein karaokewettbewerb stattfinde. Auf diesen augenblick hatte ich gewartet, um mich verdrücken zu können.
Ich will also gehen. Da kommt mir norbert entgegen, den ich das letzte mal während der sandinistischen revolution in nicaragua gesehen hatte. Von ihm sollte ich erfahren, wie die gasse, in welcher ich wohne, zu ihrem namen gekommen ist. Ein Name, der mit seinen Vorfahren zu tun hatte. Die Geschichten, die er zu erzählen wusste, hätten es mich sehr bereuen lassen, vorzeitig aufgebrochen zu sein. Ich will sie dir nicht vorenthalten.

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