Vereitelte Rachenahme

Ich werde sie wieder sehen. Spätestens zum Weihnachtsessen im geselligen Kreis meiner ehemaligen Arbeitskollegen. Ich werde mich irgendwann im Lauf des fortschreitenden Abends neben sie setzen und es ihr dann ins Gesicht sagen. Nein: Ich werde sie in eine Falle locken. Oder soll ich es ihr ganz unverblümt schon bei der Begrüßung ins Ohr flüstern? Du, ich weiß mittlerweile, wer es war, der damals das Gerücht gestreut hat! Das sage ich mit einem Lächeln, während ich ihr aus dem Mantel helfe. Sie wird mich überrascht, nein, hoffentlich bestürzt ansehen. Überführt. Natürlich könnte sie auch so tun, als wüsste sie nicht, worum es geht. Das aber verlangte von ihr eine Kunst, die sie nicht beherrscht. Da sie es damals mit mir als einem Menschen zu tun hatte, der noch vollkommen unbelehrt durch schlechte Erfahrungen, die sein Vertrauen hätten erschüttern müssen, davon ausging, dass niemand aus seiner näheren Umgebung zu einer solchen Infamie fähig ist, hatte sie leichtes Spiel. Es ärgert mich maßlos, sie nicht durchschaut zu haben und so vertrauensselig gewesen zu sein. Es macht mich wütend. Es ist eine gegen mich selbst gerichtete Wut auf meine Arglosigkeit. Die Informationen, die sie weitergab, legten den Grundstein für das Gebäude an Lügen, die bald über mich im Umlauf waren und mich unter ihrer Last begraben wollten, da sich viele von mir abzuwenden begannen und mir die Rolle eines gesellschaftlich Geächteten aufbürdeten. Natürlich frage ich mich, ob ich das Ganze nicht einfach ruhen lassen und vergessen soll, oder so schnell wie möglich wieder vergessen muss, wenn ich meinen inneren Frieden finden will.
Vergiss es! ist ein paradoxer Imperativ und bewirkt ja das Gegenteil. Du hörst nicht auf, dich daran zu erinnern, was du vergessen willst.
Auch wenn meine Lebensumstände von heute mit denen damals nicht zu vergleichen sind; ich heute in einem Umfeld lebe, das – wie nach einem Gang ins Exil – kaum noch etwas kennt, was an das früher geführte Leben erinnert, ist alles noch da, abrufbar wie eine Datei, die nicht gelöscht, aber mit einem Passwort verschlüsselt ist: Ein Schläfer, den ein Codewort weckt.
Beim Weihnachtsessen, zu dem die Chefin die Belegschaft der kleinen Firma einlädt, darf ich nicht fehlen, obwohl ich schon in Pension bin. Dort wird sich eine gute Gelegenheit ergeben, mich für den Rufmord zu rächen. Da bin ich mir sicher. Ich male mir diese Begegnung in allen Einzelheiten aus: Ich werde auf sie zugehen, ihr aus dem Mantel helfen und ihr ins Ohr flüstern: Ich weiß jetzt, dass du es gewesen bist. Ich werde ihrem Blick nicht ausweichen und langsam, ganz langsam wird mein Lächeln einfrieren und sie wird unschwer erkennen, dass mein Blick ihr so weh tun will, wie sie es mir zugemutet hatte. Das kann ein Blick vielleicht nicht leisten. Ich weiß. Aber sie soll meine abgrundtiefe Verachtung spüren und sie wissen lassen, dass ich ihr nie und nimmer verzeihe. Ein schnelles Zurseitewenden des Kopfes, – die Suche nach einem Ausweg signalisierend -, wird sie verraten. Der abrupte Themenwechsel wird mir Recht geben. Dann ziehe ich mich wie beiläufig zurück und wende mich von ihr ab und meiner Sitznachbarin zu, wissend, dass für sie der Abend gelaufen ist und ich mich zurücklehnen und ihr dabei zusehen kann, wie ihr der Boden unter den Füßen wegrutscht, sie wie auf Nadeln sitzt und vorläufig noch sitzen bleibt, obwohl sie am liebsten hinaus in die Nacht stürzen will.
Was aber, wenn sie für richtig halten sollte, was sie getan hat? Dann würde meine Rache ins Leere laufen. Mit meiner Verachtung kann sie leben. Sie hat ja mit mir nichts mehr zu tun. Vielleicht plagt sie kein schlechtes Gewissen. Vielleicht war sie es auch gar nicht. Vielleicht sollte ich einfach einen Schlussstrich ziehen und die Sache auf sich beruhen lassen, oder, – um es noch metaphorischer oder lyrisch zu formulieren -, die alten Schatten nicht mit ins Licht nehmen.

Außerdem zeigen Studien, dass das Verlangen nach Rache nur kurzfristig Erleichterung bringt, Verzeihung aber als wesentlich gesünder für das emotionale Wohlbefinden angesehen wird.
Gut. Ich werde ihr also verzeihen. Noch besser: Ich werde nicht nur auf Vorwurf und Groll und Schadenfreude verzichten, sondern ihr vergeben, da ich das, was ich ihr verzeihen wollte, vergessen habe. Einfach vergessen. Ich habe vergessen, woran ich mich erinnern wollte. Ich glaube, ich habe den Unterschied zwischen Vergeben und Verzeihen nicht wirklich verstanden und auch den zwischen Vergessen und Erinnern nicht.  Ist aber nicht schlimm. Oder?

Views: 1

No Comments

Post A Comment

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.