
14 Juli Grenzgang mit Schnecke
Ein Mann mit einem schwarzen Mantel, dessen Kragen er hochgestellt hat, um der Kälte zu trotzen, trägt in der rechten Hand einen Koffer, die andere hält er in der Tasche vergraben. Obwohl er sich bemüht, ebenso schnell zu gehen, wie die anderen, kann er mit ihnen nicht mithalten. Eine hüfthohe Mauer rahmt die Straße. Auf der Mauer sitzt jemand, die Beine lässig übereinandergeschlagen, als gehöre ihm die Ewigkeit. Kaum nähert sich der Mann, schießt aus der Kapuze ein fahles Gesicht hervor, das eben noch im Schatten verborgen lag. Wohin so eilig?, fragt es.
Über die Grenze, wie die andern auch, antwortet der Mann und will seinen Weg fortsetzen.
Über die kommt jeder, früher oder später, ruft es ihm nach.
Ein Mönch? Sicher ein Mönch, denkt der Mann.
Wozu der Koffer?
Jetzt bleibt der Mann stehen, dreht sich um und stellt fest, dass es eine Schnecke ist, die ihm diese Fragen stellt. Eine Schnecke, die reden kann. Eine weibliche Schnecke, die reden kann. Das wundert ihn nicht weiter, da er es sich zur Angewohnheit gemacht hat, in jedem Menschen, dem er begegnet, ein Tier zu sehen. Es hat seinen Blick auf Menschen dauerhaft geprägt. Er kann gar nicht anders. Die eingezogenen Schultern, die ovale Öffnung der Kapuze, in die sich ihr Gesicht zurückziehen kann, die langsamen und bedächtigen Bewegungen, ihr nach unten geneigter Kopf, die abtastende Körperhaltung, all das erinnert ihn an eine Schnecke. Er stellt den Koffer ab. Plötzlich scheint Zeit keine Rolle mehr zu spielen. Die Schnecke hat Recht: Er kann gar nicht zu spät kommen. Alle werden auf seinen Vortrag warten. Ohne ihn, der ihn hält, kann die Lesung nicht stattfinden. Warum also sich hetzen und außer Atem bringen lassen.
Was in meinem Koffer ist, willst du wissen?
Wenn es dir keine Umstände macht?, fragt die Schnecke mit einem süffisanten Unterton in der Stimme.
Unterlagen zu einem Vortrag, den ich hinter der Grenze halten soll.
Einen Vortrag willst du halten? Darf ich fragen, zu welchem Thema?
Du darfst mich fragen, ja. Ich halte einen Vortrag über die neuen Bedingungen, unter denen es möglich ist, die Grenze ohne gröbere Hindernisse zu passieren.
Das ist interessant, meint die Schnecke. Bevor du deinen Weg fortsetzt, würdest du mir bitte verraten, was diese neuen Bedingungen sind oder welche Hindernisse es sein könnten, die einen Reisenden beim Überqueren der Grenze aufhalten?
Wenn du mitkommst, kannst du meinen Vortrag hören. Ich muss mich beeilen. Ich werde erwartet.
Soso. Du wirst erwartet? Meinst du von denen, die deinen Vortrag hören wollen, der nur in deinen Unterlagen zu existieren scheint, nachdem du so ausweichend antwortest?
Der Vortrag existiert nicht nur in meinen Unterlagen. Ich könnte ihn auch ohne die Unterlagen halten.
Wenn dem so ist, sagt die Schnecke, streift die Kapuze ab und zeigt ihren kahlrasierten Schädel. Ihre Augen sind grün. Sie hat einen stechenden Blick. Die Wangen sind eingefallen. Ihr Äußeres hat nichts Einnehmendes, aber sie scheint sich selbst zu mögen und das macht sie für den Mann anziehend. Wenn dem so ist, sagt sie, wüsste ich gerne, ob du nicht Angst hast. Immerhin verlässt du Vertrautes. Was glaubst du? Wenn du die Grenze überschritten hast, bleibst du dann, der du warst oder wirst du jemand Neues. Jemand, den du selbst noch nicht kennst? Was verlierst oder gewinnst du, wenn du sie überschritten hast?
Das sind berechtigte Fragen, antwortet der Mann, überrascht nicht von der Neugier der Schnecke, sondern von der philosophischen Tiefgründigkeit ihrer Fragen. Ein andermal. Ich muss jetzt weiter. Tut mir leid, sagt der Mann, nimmt den Koffer wieder in die Hand und winkt mit der anderen der Schnecke nach, die an der Weiterführung eines Gespräches ohnehin kein Interesse zeigt, weil sie sich nicht nur in ihr Haus zurückgezogen, den Schädel wieder mit der Kapuze bekleidet hat, sondern jetzt von der plötzlich hereingebrochenen Dunkelheit wie verschluckt worden ist.
Der Mann hält auf die Grenze zu. Lange ist er unterwegs, Jahre, und noch immer ist sie scheinbar außerhalb des Erreichbaren. Eines Tages aber hat er sie überschritten. Und das ohne sein Wissen. Keine Schranken, kein Zaun, kein Grenzstein, keine Kontrollen, nichts. Kein Vorher, kein Nachher. Keine Angst, keine Neugier, keine Befreiung. Nichts. Kein Koffer. Kein Vortrag. Kein ICH. Gedanken kommen und gehen, aber sie sind nicht mehr ‚seine‘ Gedanken. Gefühle tauchen auf, aber sie gehören nicht mehr ihm. Es gibt nur noch Erleben, aber niemanden, der erlebt. Kein Ich, das etwas als Verlust oder Gewinn erleben könnte.
Plötzlich taucht das Bild der Schnecke auf. Die Schnecke hat ihn über die Grenze begleitet, als stille Zeugin seiner Wandlung. Am Ende war es die Schnecke, die blieb – langsam, geduldig, unbeeindruckt vom Drang, irgendwo anzukommen. Und vielleicht, denkt das Nichts, war sie immer schon ein Teil von ihm.
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