12 Aug Ushguli: Kulisse einer geträumten Wirklichkeit
Es ist schwer etwas zu beschreiben, das so überwältigend schön ist, dass man im ersten Augenblick nur stammeln kann: Wow. Ist das wirklich oder träume ich? Nicht einmal Adishi hat uns auf diesen spektakulären Anblick vorbereitet: Ein Tal eingeschlossen von hohen Bergen mit einem tosenden Wildbach über den eine steinerne Rundbogenbrücke führt. Das könnte in den Alpen Norditaliens, Frankreichs, der Schweiz oder in Österreich sein. Dörfer aber auf 2.200 m Meereshöhe – seit der Bronzezeit durchgehend bewohnt – findet man in Europa vermutlich nur noch in Georgien, und wir würden jede/n seiner Landsleute beleidigen, wenn wir es zu Asien zählten. Das aber ist es nicht, was meine von vielen Reisen verwöhnten Augen sehen. Sie sehen eine Kette von mittelalterlichen Bergdörfern mit steinalten Häusern, umgürtet von einem Wald aus tausendjährigen Türmen, eingebettet zwischen einer Schlucht, durch die sich der Enguri schlängelt und steilen Almwiesen; im Hintergrund der von Wolken und Nebel eingehüllte Shkharagletscher, einer der höchsten Gipfel des Hohen Kaukasus, den wir heute nur vermuten können Nicht umsonst wurde eines der 4 Dörfer zum Weltkulturerbe erklärt. Ushguli (furchtloses Herz): Wir sind am eigentlichen Ziel unserer Reise angekommen.
Drei Tage streifen wir durch die Gegend und lassen uns trotz WIFI vom noch immer zivilisationsfernen und vom Mittelalter geprägten Ambiente gefangen nehmen. 200 Türme sollen es einst gewesen sein. Heute stehen noch 30.
Hier in diesem entlegenen Tal schlug König Tamara ihre Sommerresidenz auf. Ja, ihre. In Wirklichkeit nämlich war sie eine Frau. Königin geht gar nicht. Nicht in Georgien. Tamara aber muss eine erstaunlich emanzipierte, überaus kluge und wehrhafte Frau gewesen sein. Ihre erste Ehe war unglücklich. Der russische Ehemann war ständig betrunken. Deshalb schickte sie ihn in die Wüste. Er lief zum Feind in Konstantinopel über und kam mit einem Heer zurück, das aber von ihrer Svanenarmee geschlagen wurde. Sie regierte 29 Jahre und bescherte Georgien im 12.Jhdt. ein goldenes Zeitalter. So schuf sie die Todesstrafe ab, reformierte das Strafrecht, – Urteile konnten vor einem Obersten Gerichtshof angefochten werden -, entmachtete den Kleinadel, band Künstler und Wissenschaftler an ihren Hof, ließ Klöster und Kirchen errichten und verkündete als ihren letzten Willen, dass ganz Georgien ihr Grab sein solle. Vier verschlossene Särge seien der Legende zufolge in die vier Himmelsrichtungen gebracht worden. Damit niemand die Grablegung bezeugen konnte, hätten die Sargträger Selbstmord begangen. Selbstverständlich wurde sie von der orthodoxen Kirche heiliggesprochen.
Um mehr über die Geschichte des Ortes zu erfahren, besuchen wir zwei ethnografische Museen, von denen nur eines den Namen verdient. Das erste ist eine kuriose Sammlung von ausgestopften Gämsen (oder sind es Steinböcke?) mit gebrochenen Augen, ein Zeitungsausschnitt mit Fotos und einem Artikel über ihre Eltern, verrostete Steigeisen und Pickel, ein Brett mit eingelegten Steinen, auf dem das Getreide gedroschen wurde. Die Dame lässt es sich nicht nehmen, uns auch noch ein Ständchen zu singen, indem sie sich auf den letzten noch verbliebenen Tasten einer uralten, verstimmten Ziehharmonika begleitet. Dafür will sie von uns 10 Lari. Sie hätte gerne noch ein Lied zum Besten gegeben, aber bei allem Verständnis für lokale Folklore wollen wir uns das nicht mehr anhören.
Unser Gästehaus hat überraschend viele Zimmer, wenn durch Bretterwände mit aufgeklebten Tapeten abgeteilte Schlafkojen als Zimmer bezeichnet werden können; unseres ist so klein, dass gerade mal zwei Betten hineinpassen. Unsere Holzwand schmückt eine Tapete mit Rosenmuster. Svanetischer (svanischer?) Almhüttenkomfort. Der Strom fällt aus. Die Großfamilie wird von der Wirtin aus dem Wohnzimmer in die Küche geschickt. Die Männer murren. Wir, die Gäste, haben Vorrang. Abendessen im Licht einer „Tranfunzel“. Atmosphäre wie in Shining. Die Betten – auch die der Nachbarn – knarren und knarzen, wenn die Gäste in den zu kurzen Betten eine andere Schlafstellung einzunehmen versuchen. Flüstern. Glucksen. Ein Schaben und Kratzen. Mäuse? Dann wieder ist es still. Die Bettdecke kratzt. Das Leintuch kratzt. Es ist stickig. Draußen heult der Wind. Regen klatscht ans Fenster. Am Gang eine Katze. Sie sitzt vor dem Klo und faucht. Endlich Schlaf. Am frühen Morgen weckt mich eine Kakophonie synchroner Naturlaute: Ein Hahn, Hunde, die anschlagen, eine rollige Katze, Pferdegewieher, eine hungrige Kuh.
Froh, auch diese Nacht überstanden zu haben, gehe ich hinaus auf die Veranda. Der Himmel ist strahlend blau und das erste Mal zeigt sich im Hintergrund der Wehrtürme, die aus dem Dorf wie die Eckzähne aus dem Gebiss eines Säbelzahntigers herausragen, der Shkharagletscher in seiner vollen Pracht und Größe. Zwei Schweizerinnen, mit denen wir beim gemeinsamen Abendessen ins Gespräch gekommen sind, sitzen auf der Veranda und warten auf das Frühstück. Ich sage: Ist das nicht herrlich? „Jo, mein Gott“, sagt eine und drückt ihre Zigarette am Balkongeländer aus: „Solche Berg gibt`s bei üs dahoam oh.“
Das hat mich nicht wirklich ernüchtert. Auch wenn es Gletscher in unseren Alpen gibt, so ist doch keiner weder so hoch, noch habe ich dort Wehrtürme gesehen, die über tausend Jahre alt sind; schon gar nicht Dörfer in dieser Höhe, in welchen Menschen noch fast wie im Mittelalter leben.
Ein Schild mit dem Hinweis „Cafe“ lockt uns auf eine Wanderung bis fast zur Gletscherzunge. Das Cafe ist aber selbst nach drei Stunden nicht in Sicht. Dafür aber mitten auf dem Weg eine politische Botschaft rot auf einen Findling gestempelt. Die Besetzung Abchasiens und Ossetiens sitzt den Georgiern tief in den Knochen. Die Sowjetzeit hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Viele Türme – auch wegen der Blutfehden zwischen den Familien und nicht nur gegen Feinde von außen errichtet, – sind von Rotarmisten gesprengt worden, um mit ihren Steinen Farmhäuser zu bauen.
Wir genießen die herrliche Luft, das angenehme Klima, immer den Gletscher vor Augen, der sich wie eine weiße Mauer vor uns auftürmt und lassen im Schatten eines Riesenbärenklau`s die Seele baumeln. Meine Lebensgefährtin ist ganz hin und weg, weil sie hier – wie selten oder nirgendwo in freier Natur – die Blumen wiederfindet, die in ihrem Gärtlein wachsen: Glockenblumen, Frauenmantel, Enzian und Storchschnabel. Ich beneide sie um ihr botanisches Wissen.
Auf dem Rückweg in unser svanetisches (svanisches?) San Gimignano, besuchen wir ein anderes Museum, das uns das Leben in diesen uralten Steinhäusern, wie es war, wesentlich anschaulicher vor Augen führt, wie das gestern besuchte. Ein junger Svane, der in Kutaissi studiert und Englisch spricht, erklärt uns die Gegenstände des täglichen Bedarfs, die noch von seinen Großeltern und deren Großeltern aus Holz geschnitzt und hergestellt worden sind: Ein Webstuhl, eine Kinderwiege, Holzteller und Löffel, eine Feuerstelle mit einer von der Decke hängenden kupfergetriebenen Haube, welche den Funkenflug und mit ihm die Brandgefahr bannte, die Bettstatt über dem Stall der Kühe, die im Winter Wärme spendete. Er ist stolz auf seine Herkunft, auf die Geschichte des Ortes, dem er verbunden bleibt. Das merkt man an der Art, wie er über all das spricht und sich sorgt, dass – „spätestens, wenn einmal die Straße fertig sein wird, die Mestia mit Ushguli verbinden soll und Touristen die Dörfer überschwemmen, das, weswegen alle hierher kommen, für immer verloren sein wird.“
Schon jetzt zeigt sich, dass die zusätzliche Einnahmequelle durch den Tourismus nicht notwendig zur Sanierung und Instandhaltung der historischen Gebäude führt. Das notwendige Wissen um die Bauweise, insbesondere der Wehrtürme, scheint schon jetzt verloren zu sein, das zumindest befürchtet dieser junge Svane. Soziale und ökologische Verwerfungen werden auch hier nicht zu vermeiden sein. Wie viel Tourismus aber kann eine lokale Umgebung und Kultur vertragen ohne zu kollabieren? Es bleibt zu hoffen, dass sich keine ausländischen Investoren finden, die hier ein Hotel bauen wollen. Dann ist es um den Zauber von Ushguli geschehen.
Morgen zurück. Wir wollen nach Telavi, einer kleinen Provinzstadt in der Weinregion von Georgien. Das hat uns ein Freund empfohlen.
Danke fürs Lesen.
Views: 23
Anonymous
Posted at 09:45h, 04 OktoberBald mehr