21 Dez Der Verdingbub: Eine Weihnachtsgeschichte
Der Verdingbub
Mein Vater war ein Verdingbub. Weißt, was das ist? Als Kind, hat er erzählt, hat er mit seinen Geschwistern im Stall bei den Tieren geschlafen im Heu, und im Winter, wenn die Kälte kaum mehr zu ertragen war, und weil sie keine Schuhe hatten, sind sie barfuß in die Scheiße der Kühe hineingetreten, um sich zu wärmen. Er war Analphabet. Schule hat es für Verdingbuben keine gegeben, nur Arbeit. Arbeit von früh bis spät.
Wir sitzen auf der zu einem Wintergarten ausgebauten Veranda mit Terrakottafliesen. Es ist Herbst und die Bäume im Garten sind abgeerntet. Wenn der Wind in sie greift, reißt er ihnen ganze Büschel von Blättern aus den Ästen und Zweigen. Das ist es, unterbricht Michael seine Geschichte, warum ich jedes Jahr einmal hierher komme; Im Delta des Amazonas gibt es keine Jahreszeiten. Das ist das einzige, was mir abgeht dort.
In den Garten hinausschauend setzt er übergangslos fort: Sein Bruder, der älter war, hat gehört, dass die rote Armee in Spanien Soldaten sucht, und jeden aufnimmt, der ein Gewehr in die Hand nehmen kann. Das hört sich gut an, hat sich mein Vater gedacht, und sich, stell dir das einmal vor, mit dreizehn zu Fuß auf den Weg nach Spanien gemacht. In Südfrankreich – wie er das vom Waldviertel bis dorthin geschafft hat, weiß ich nicht, vielleicht habe ich ihn auch gar nicht danach gefragt, und jetzt ist es zu spät -, aber das allein schon ist eine Leistung, findest nicht auch? In Südfrankreich ist er dann von der Polizei aufgegriffen und wegen Landstreicherei verhaftet worden. Nach der ersten Nacht im Kotter, hat man ihn vor die Wahl gestellt: Entweder du gehst für längere Zeit ins Gefängnis oder zur Fremdenlegion. Für meinen Vater war es klar wie Rindsuppe, dass er lieber zur Fremdenlegion geht als eingesperrt werden. Am nächsten Tag war er schon auf dem Schiff von Marseille nach Algier. Gefragt, wie alt er sei, hat er 20 angegeben. Er hätte auch 40 sagen können, oder dass er Amadeus heißt, Amadeus Mozart, es wäre egal gewesen. Die haben jeden genommen. Ein zäher Knochen war er, groß gewachsen, ein schneidiger junger Mann, wie man damals gesagt hat. Er war vom Leben als Verdingbub abgehärtet. Hornhaut auf den Sohlen und Händen und sicher auch auf dem Herz, wenn es sowas gibt. 13 Jahre war er alt, und geht in die Welt hinaus. Gib dir das.
Ich bin zwar auch viel in der Welt herum gekommen, – ich war ja lange Zeit Brunnenbauer, wie du weißt -, aber barfuß und ohne Bargeld über einen halben Kontinent gehen, das muss ihm einer erst einmal nachmachen. Ob sein Vater auch so stolz auf seinen Sohn war, frage ich mich, während er weiter erzählt. Grund genug hätte er gehabt, denn auch er ist ein harter Knochen. Ein Stahlseil hat ihm bei einer Rohrverlegung den Daumen und zwei Finger wegrasiert. Hätte er losgelassen, wäre einer seiner Mitarbeiter von dem tonnenschweren Betonrohr zermalmt worden. Das weiß ich nicht von ihm, sondern von einem seiner Freunde; aber ich will mich jetzt nicht ablenken lassen und die Geschichte seines Vaters hören:
Gleich nach der Ankunft kriegt er eine Uniform, erzählt Michael, ein Gewehr und einen 50kg schweren Tornister auf den Rücken geschnallt, und dann wird er auf einen Gewaltmarsch von 50km geschickt. Wer nicht mehr hat können, ist liegen geblieben. Der war so gut wie tot. Das hat jeder gewusst. Mit Fremdenlegionären haben die nicht viel Federlesens gemacht. Natürliche Auslese war das. Wer’s geschafft hat, war dabei. Wer nicht mitgekommen ist, war ein toter Mann. Einen hat er bis ins Ziel getragen. Der war ihm ein Leben lang ein Freund. Ein eingeschworener Haufen, die Fremdenlegionäre, das kann ich dir sagen. Keine good guys, würde ich sagen: Arbeitslose, Kriegswaisen damals, aber auch Kleinkriminelle, die untertauchen und sich eine neue Identität geben wollten; Söldner im Dienst einer fremden Nation, die irgendwo in der Welt als schnelle Eingreifreserve für die Interessen Frankreichs in den Krieg gezogen sind und es heute noch tun. Wie er das mit dem Französisch hingekriegt hat, weiß ich nicht. Wird es aber schnell gelernt haben.
Übrigens gibt es Tonbandaufzeichnungen von ihm selbst. Wenn du willst, suche ich das Band. Das hat er kurz vor seinem Tod aufgenommen. Es ist so ziemlich die einzige Erinnerung, die ich an ihn habe. Was?, rufe ich begeistert, es gibt Tonbandaufzeichnungen? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Natürlich will ich das hören.
Mittlerweile ist die Nacht hereingebrochen, und Michael hat nach längerem Suchen ein Tonband gefunden, von dem er annimmt, dass es uns die Geschichte zu Ende erzählt. Gut, dass ich mich mit Tonbandmaschinen auskenne, und es ist sogar eines aus der gleichen Serie, nur etwas älter. Mit diesem Magnetophon aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, wie ich annehme, könntest du auf dem Flohmarkt einen tollen Preis erzielen, sage ich beiläufig, während ich mich daran mache, die Spule einzulegen. Das ist unverkäuflich, lieber Freund, sagt Michael. Wie gesagt, es ist eine Erinnerung an meinen Vater. Habe schon lange nicht mehr seine Stimme gehört. Hoffe nur, dass das Band keinen Schaden genommen hat. Weiß auch nicht, wie man sowas am besten aufhebt.
Das ist eine Halbspur-Monotechnik, sage ich. Ich hab‘ mir mit dem ersten Geld, das ich verdient habe, eine tragbare M207 gekauft. Das war ein Viertelspur-Gerät mit Lautsprecherboxen. Ich bereue es heute noch, dass ich sie verkauft habe. Jetzt red‘ nicht so g’scheit und bring das Ding zum Laufen, sagt Michael jetzt, und ich drücke auf Play, das Band rauscht und bleibt nicht in der Spur, aber die Stimme seines Vaters ist klar und deutlich: Ich war ein Verdingbub!, hebt er an, Ob das heut noch einer weiSZ, was das war, ein Verdingbub?, ich glaub nicht. Ich will’s dir sagen…
Wir sind dagesessen und haben der Stimme gelauscht, und ich habe ständig Angst gehabt, dass das Band mitten drin reißen könnt, und Michael keine Cutterbox hat und nichts zum Kleben. Ich habe es schon lange nicht mehr gemacht, aber ich weiß noch, dass man diagonal 45° zur Bandkante schneiden muss, und auf der Rückseite des Tonbandes geklebt wird, weil, wenn du sie auf der Magnetschicht klebst…
Das Band reißt tatsächlich, und das kaum nachdem ich begonnen hatte, Angst zu haben, dass es passieren könnte. Michael hat tatsächlich nichts zum Schneiden und nichts zum Kleben. Ich muss ihm versprechen, dass ich das nachholen werde, solange er noch da ist, nur dann unter dieser Bedingung will er mir die Geschichte zu Ende erzählen:
Wir waren bei der Fremdenpolizei, stimmt’s? Nach kurzen Einsätzen, fährt Michael fort, in denen er sich bewährt hat, ist er den Tuaregs zugeteilt worden; die sind von den Franzosen bewaffnet worden, damit sie helfen. die Grenzen ihrer Kolonien in Afrika zu sichern. Er bekommt ein Kamel, ein Zelt, eine Frau, und lebt mit und bei den Nomaden vier Jahre, bis der zweite Weltkrieg ausbricht, und alle Deutschen, die in der Fremdenlegion gedient haben, an die nordafrikanische Front abberufen werden. Rommel, der anfangs nur Siege einfährt, und den Alliierten empfindliche Niederlagen bereitet hat, ist dann allerdings immer mehr unter Druck geraten. El-Alamein: Das sagt dir doch was, oder? Mein Vater, dem Klima und Strapazen des Wüstenkrieges wenig anhaben hat können, soll hinter den englischen Linien einen Sabotageakt durchführen. Er verweigert den Befehl, weil er weiß, dass das ein Himmelfahrtskommando und nicht zu machen ist, weil, da kann er sich gleich die Kugel geben; er wird im Schnellverfahren zum Tod verurteilt, an Händen und Füßen gefesselt in einen Bunker geworfen und soll am nächsten Morgen hingerichtet werden. In der Nacht und in drei aufeinanderfolgenden Tagen ist das Lager der Deutschen von der Luft aus angegriffen worden. Der aufgewirbelte Sand macht den Tag zur Nacht, es ist stickig und heiß, und er kommt fast um vor Durst, dämmert dahin; aber der Bunker hält; nachdem die Angriffe aufgehört haben, und als sich der Staub gelegt hat, irrt ein Überlebender durch die Ruinen auf der Suche nach Wasser, und entdeckt meinen Vater, den man völlig vergessen gehabt hat. Sie finden zwar nichts zu essen, aber viele Kanister Wein, mit dem sie sich bis zum Umfallen betrinken, und feiern das Leben, weil es ja schon längst hätte aus sein können. Dann schlagen sie sich zu Fuß nach Tunis durch. Dort kriegt er Befehl, sofort nach Deutschland zu kommen, um an einer anderen Front eingesetzt zu werden. Noch im Zug wird er als Spion verhaftet und kommt in ein Gefängnis irgendwo in Deutschland. Wieder wird er zum Tode verurteilt und in eine Genickschusszelle gesperrt. Dort verbringt er etliche Wochen immer in der Angst, jeden Augenblick abgeholt und ohne jede Anhörung hingerichtet zu werden. Das allein schon würde mich in den Wahnsinn treiben. Jetzt stell dir das mal vor: Du bist in einer Zelle eingesperrt und jeden Augenblick kann wer die Tür aufsperren und sagen: Fertigmachen zur Hinrichtung oder so ähnlich. Da hätt‘ ich einen Knacks fürs Leben. Du nicht? Mein Vater verbringt 3 Wochen in dieser Zelle. Dann wird er eines Tages ohne Angabe von Gründen plötzlich entlassen, kommt dann an die Ostfront, wo‘s sicher auch nicht lustig war, und dann in russische Gefangenschaft. Noch weniger lustig, wie du dir vorstellen kannst. Er ist nur deswegen nicht verhungert, weil er so gut Geige spielen hat können. Wo und wie er das gelernt hat, hab ich ihn leider nie gefragt.
Übrigens: Hast du gewusst, dass ich meinen Vater erst mit 7 kennen gelernt hab? Bin nämlich bei einem Fronturlaub gezeugt worden. Dann war er verschollen. Meine Mutter hatte einen Freund, der bei uns ein und ausgegangen ist. Ich hab ihn ganz gut leiden können. Sie wollte ihn heiraten, hat aber immer gesagt: Bevor ich nicht die Todesurkunde von meinem Mann in der Hand hab, heirate ich nicht. Es war am Weihnachtstag. Ich erinnere mich noch genau. Ich hab gerade die Krippe aufgestellt. Am Tag vorher waren wir noch im Wald und haben Moos geholt, und ich stelle gerade die Krippe auf. Ich weiß sogar noch, dass ich einen Hirten in der Hand gehabt hab mit einem Schaf auf den Schultern. Den wollte ich vor die Krippe stellen; da läutet es, und ein Mann in einem grauen Uniformmantel steht vor der Tür. Das war ein ziemlicher Schock für uns alle. Das kannst du dir vorstellen. Der Freund ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen, und dann hat Mutter zu weinen begonnen, und dann hat sie gesagt: Michi, das ist dein Vater, von dem ich dir erzählt hab. Ernst, hat er geheißen, der Freund. Nie wieder hab ich ihn gesehen.
Dein Vater also ist zwei Mal zum Tod verurteilt worden und zwei Mal um Haaresbreite dem Tod von der Schaufel gesprungen, sage ich nach einer Pause, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Und dann? Wie ist es ausgegangen? Was ist passiert?
Was passiert ist, willst du wissen? Willst du das wirklich wissen? Ein Jahr später ist er an einem Lachanfall erstickt. Das ist passiert. Ja, so war das, sagte er, spuckt auf den Fliesenboden und fügt hinzu: Weißt du, wie der andere Mann, der den Untergang der Titanic überlebt hat, und dann in einer Pfütze ertrunken ist. Das war in New York und er war betrunken und ist hingefallen, genau in eine Pfütze und ist ertrunken. Gib dir das. Überlebt den Untergang der Titanic und ertrinkt in einer Pfütze. Ist das nicht zum Schreien komisch? Gut. Tragisch, wenn du willst.
Mittlerweile war ein neuer Tag angebrochen. Auf dem Heimweg habe ich mir vorgenommen, die Geschichte schnell aufzuschreiben, damit sie nicht verloren geht, und denke mir: Wenn’s nicht wahr wäre, könnte man sie nicht erfinden. Aber, was ist schon wahr?
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