Aber so aus der Zeit gefallen ist Franz nicht. Er ist mit mir gleich alt; und dass er jetzt so tut, als hätte er mich nicht erkannt, will ich als Scherz abtun, obwohl Franz zu solchen Späßen in der Vergangenheit kaum eine Neigung gezeigt hat. Er ist ein eher verschlossener Typ, misstrauisch und scheu; lebt sehr abgeschieden und allein in seiner kleinen Gemeindebauwohnung, die schon seine Eltern bewohnt hatten.
Mensch, Franz, lass mich rein. Was soll der Quatsch? sag ich also, weil mir das jetzt schon zu lange dauert. Er macht die Tür einen Spalt weit auf, sieht mich ohne ein Zeichen von Wiedersehensfreude an, dreht sich um und schlürft zurück in die Wohnung.
Andersartigkeit, wenn sie nicht mit Autorität einhergeht, ist für einen Lehrenden ein Charaktermerkmal, das jeden Versuch im Keim erstickt, Disziplin herstellen zu wollen, um unterrichten zu können. Die zu Unterweisenden – die meisten schon selbst durch die Schule der Konformität gegangen – haben ein feines Gespür für jede Normabweichung und ahnden sie gnadenlos und geradezu grausam. Nicht anders war es Franz ergangen, Professor für Geschichte. Sein Schutz vor Zudringlichkeit und sein Stolz hatten ihn aber regelrecht unempfindlich gegen alle Mobbingversuche gemacht. Nicht nur das. Es schien ihm Vergnügen zu bereiten, seine Schüler herauszufordern, erfindungsreicher werden zu müssen, um ihn den Schuldienst quittieren zu lassen. An ihm bissen sie sich die Zähne aus, bis die Schulbehörde einschritt und ihm, der unkündbar war, ein bedingungsloses Grundeinkommen anbot, um den Ruf der Schule nicht weiter zu gefährden. Seither widmete er sich ganz dem Studium der Habsburg-Monarchie, genauer: ihrem Zerfall und dessen Gründe. Das letzte, was ich von ihm wusste und mich eigentlich schon damals hätte nachdenklich machen müssen, war, dass er sich einen Bart hatte wachsen lassen, wie ihn der letzte Kaiser getragen hat. Das war kurz vor meiner Abreise. Ich hielt es für eine Marotte. Für eine vorübergehende Überidentifikation mit dem Gegenstand seiner Forschungsarbeit. Gegenstand? Mit Kaiser Franz Josef, mit dem er zuerst nur den Vornamen gemein hatte. Ich traute ihm aber zu, dass er diesen Identitätsdiebstahl als Kommunikationsstrategie betrieb, um seinen Büchern einen größeren Verkaufserfolg zu bescheren. Auch um durch diese Inszenierung die bis heute herrschenden und durch institutionelle Einrichtungen und Medien tradierten Denkmuster, Werte und Normen in all ihren Konsequenzen ins Absurde und Lächerliche zu ziehen? Ja, alles das habe ich ihm unterstellt. Und ich bewunderte seinen Mut, der Unterwürfigkeit als Nationalcharakter in Form einer parodistischen Ausfüllung der Konformität einen Spiegel vorzuhalten.
Ich muss zugeben: Ich war gewarnt worden. Aber ich habe es einfach nicht glauben wollen. Was, du willst zum Kaiser? Nein, zum Franz, hab‘ ich gesagt; und mein Freund, der ihn auch gut gekannt hat – um uns das Studium zu verdienen, sind wir in den Ferien immer nach Norwegen getrampt -, hat gemeint: Der Franz heißt jetzt Kaiser. Kaiser Franz sagen wir jetzt zu ihm. Wirst selber sehen, warum.
Was soll der Blödsinn? hab‘ ich gesagt. Kaiser Franz. Wohnt er im Schloss Schönbrunn oder hat er jetzt ein Zimmer in der Hofburg oder was? Außerdem ist heutzutage jede Identität konstruiert. Ja, es gibt sogar eine Kontroverse darüber, ob Männer, die sich als Frauen fühlen, Frauen sind. Warum also soll sich Franz nicht auch eine Identität geben dürfen, in welcher er sich wohlfühlt.
Seit wann so sarkastisch?, unterbrach er mich: Hast du schon einmal etwas vom Korsakowschen Syndrom gehört? Definiert wird es als Verlegenheits-konfabulation, wenn die Scham über das Vergessene sofort durch eine erstaunliche Lebenserfindung abgelöst und vom Betroffenen selbst absolut geglaubt wird. Erinnerungslücken werden mit reinen Phantasieinhalten ausgefüllt. Konfabulation nennt man das. Woher ich das weiß? Ich habe mich schlau gemacht. Unser Freund hat es in der Zeit deiner Abwesenheit zu einer lokalen Berühmtheit gebracht. Hier. Überzeug‘ dich selbst! Wenn du mir nicht glauben willst, da steht es schwarz auf weiß. Es gibt Artikel sowohl in Tageszeitungen als auch in Fachzeitungen, dem Fortbildungsorgan der Gesellschaft für Neurologie zum Beispiel. Ich hab‘ sie gesammelt. Da.
Obwohl ich eigentlich im Begriff war zu gehen, las ich noch im Stehen und setzte mich dann hin, weil ich es einfach nicht glauben wollte:
„Franz B., ein ehemaliger Gymnasiallehrer, der Geschichte unterrichtet hat und jetzt in Pension ist, glaubt, dass er der Kaiser ist. Er geht als Bettler auf die Straße, und das, um herauszufinden, was das Volk, wie er sagt, über ihn, seinen Herrscher, denke. Am Bahnsteig der U-Bahnstationen hält er die Leute, die auf einen Zug warten, mit der immer gleichen Frage auf: Was haltet Ihr vom Kaiser? Was darauf erwidert wird, hält er mit einem Bleistift, den er alle Augenblicke nachspitzt, akribisch fest. Da er die Bleistiftmine immer mit der Zunge anfeuchtet, bevor er zu schreiben beginnt, ist sie schwarz. Das ist sicher das erste, was den Leuten auffällt, wenn er sie anspricht. Er verhält sich bei seinen Umfragen professionell. Selbst wenn die Leute, die ja nur ihren Spaß mit ihm treiben wollen, auf die Frage eingehen, oder das Ganze für ein Spiel mit verdeckter Kamera halten wollen, allerdings ohne einer Auflösung – der Mann verzieht keine Miene. Wenn sie meinen, der Kaiser sei schon lange tot, versucht er sie darüber aufzuklären, dass das mit dem Tod eine himmelschreiende Lüge und auch sein Bruder Maximilian noch immer am Leben seien. Er spricht von sich im Pluralis majestaticus, wie es seinem eingebildeten Stand gebührt. “
Ist mit ihm wirklich Franz gemeint, unser Freund? frage ich – noch immer ungläubig – und lese weiter…
„Dass er noch nicht in einer psychiatrischen Anstalt eingewiesen und entmündigt worden ist, hat er nur dem Einfluss seines Vaters zu verdanken. Solange sein Sohn sich selbst versorgen könne, und niemand an der Charade Schaden nehme, sähe er keine Veranlassung für eine Einweisung noch für eine Entmündigung…“
Hier lies, was ich unterstrichen habe!
„…nicht das erinnernde Gedächtnis, sondern das Vergessen macht schöpferische Prozesse möglich, da der Erinnerungsverlust durch fantastische Erfindungen ausgeglichen wird. Das Jahr zum Beispiel hat für Franz B. fünf Monate. Die übrigen Monate gehören nicht zum Jahr, sie sind dem ehrwürdigen Fürsten Süssel zum Geschenk gemacht worden. Den Einwand, dass Süssel kein Fürst, sondern Parteiobmann gewesen sei, wischt Franz B., der sich für den Kaiser der untergegangenen Donaumonarchie hält, mit dem Hinweis vom Tisch, dass er ihn demnächst wegen seiner Verdienste in den Adelsstand erheben wolle. Auf die Frage, was Fürst Süssel mit den Monaten tun soll, gibt er zur Antwort: Er wird sie in meinem Auftrag an verdiente Bürger verleihen…. Im Übrigen müsse ich ihm doch beipflichten, dass sich die parlamentarische Demokratie überlebt, und die Monarchie als einziges Modell einer tragfähigen Gesellschaftsordnung über Jahrhunderte bewährt habe. Er jedenfalls werde weiterhin seine Aufgabe darin sehen, …“
Ich hatte genug gelesen. Dass er im Fachportal für Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Rehabilitation als Fallbeispiel für das Korsakowsche Syndrom dient, wollte mir trotzdem nicht in den Kopf. Ich wollte mir selbst ein Bild über seinen Gemütszustand machen.
Und da stand ich nun zwischen Tür und Angel. Meinen Freund hatte das Dunkel der Wohnung verschluckt.
Im Wohnzimmer stapelten sich Zeitungen und Bücher nicht nur auf seinem ausladenden Schreibtisch, der nicht einmal Platz für einen Notizblock bot, sondern auch auf dem Parkettboden, der in Würfeln und Sternen angelegt war und schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Regale, welche an allen vier Wänden bis zur stuckverzierten Decke reichten, quollen über vor Bücher; sogar in den Zwischenräumen der Fächer hatten sie querliegend Platz gefunden: Ein unglaubliches Durcheinander, aber ein geordnetes Chaos, das von einem bildungshungrigen und belesenen Bewohner Zeugnis ablegte, der sich mit Geschichte, aber auch mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzt. Ein kurzer Blick über die Buchrücken und deren Titel nämlich ließen auf fast einseitiges Interesse schließen. Das Fenster war von einem blickdichten Vorhang abgedunkelt, der nur ahnen ließ, dass immer noch Tag war. Franz war barfuß und trug einen Bademantel über einer weißen Unterhose, die bis zu seinen Knöcheln reichte. Der Gürtel war über der Taille festgeknotet und schien nicht nur die Unterhose an seinen ausgemergelten Körper, sondern diesen selbst zusammenzuhalten. Auf dem Tisch war ein Schachbrett. Um das Schachbrett herum lagen die eroberten Figuren. Weiße und Schwarze. Zwei Könige und jeweils zwei Bauern, die ihn beschützten, standen auf dem Brett. Mit im Rücken verschränkten Armen ging er ruhelos auf und ab und stanzte dabei eine unsichtbare Achterschlinge in den Raum, ohne mir einen Platz anzuweisen oder mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Der arme Franz, dachte ich. Wie kann es sein, dass jede Erinnerung an gemeinsam Erlebtes gelöscht und er in die Rolle, nein in die Haut eines verstorbenen Monarchen geschlüpft ist? Welche Rolle hat er mir, seinem ehemaligen Gefährten und Freund zugeschrieben? Ich wollte und konnte nicht glauben, dass Franz mit mir, mit uns allen ein Spiel trieb. Während ich diesem Gedanken nachhing, dürfte bei Franz ein Entschluss gereift sein. Er hatte sein ruheloses Auf- und Abgehen aufgegeben und musterte mich nun wie einen Schüler, von dem er nicht weiß, ob er der Aufgabe gewachsen sein würde, die er ihm zu stellen beabsichtigt. Wir möchten, sagte er, indem er sich wieder des majestätischen Plurals bediente, dass ihr unverzüglich nach El Salvador aufbrecht und meinen Bruder aufsucht. Ihr müsst über all das, was ich ihnen jetzt anvertraue, absolutes Stillschweigen bewahren.
Von welchem Bruder spricht er? dachte ich noch, als er mir unaufgefordert einen Brief zu lesen gab, der allen Anschein nach aus der Feder dessen stammen musste, der als Kaiser von Mexiko hingerichtet worden war: Wie war Franz an dieses Schreiben gelangt? Es war keine Kopie. Das Siegel das des Hauses Habsburg. Die Schrift fast kalligrafisch. Blaue Tinte auf teurem Büttenpapier. Die Unterschrift schwungvoll.
„Ich schreibe dir als Privatperson und nicht mehr in meiner Eigenschaft als Kaiser von Mexiko. Das mit der Hinrichtung ist ein Gerücht. Benito ist wie ich ein Freimaurer. Er hat einen Franzosen, der große Ähnlichkeit mit mir hatte, füsilieren und es für die nationale und internationale Presse so aussehen lassen, als hätte er mich, den Kaiser von Mexiko, hingerichtet. Es hat uns sehr leidgetan, dass meine Frau – nachdem ihr die Nachricht von meiner Hinrichtung übermittelt worden war -, in den Wahnsinn geflohen ist. Sie muss uns sehr geliebt haben. Gleichzeitig waren wir froh, dass es so gekommen ist, da sie uns sonst vielleicht auf die Schliche gekommen wäre. Nur Sophie, meine Mutter, hätte erkannt, dass es sich bei der überstellten Leiche nicht um uns, ihren Sohn handeln könne. Darum habe ich den Bleisarg verschweißen lassen. Jetzt lebe ich als Justo Armas in El Salvador, tafle aus den Beständen unseres monarchischen Geschirrs, das mir mein Freund Benito heimlich per Schiff zugesendet hat, und erfreue mich großer Beliebtheit. Seien Sie versichert, Bruder, dass ich Ihnen nichts nachtrage, aber ich brauche Geld, um mein Leben weiterhin standesgemäß führen zu können, wie sie sicher verstehen. Oder soll ich vielleicht wieder zurück nach Österreich kommen?“
Franz hat mir nichts angeboten, wie er es sonst immer getan hatte, bevor wir uns an den Tisch setzten, um ein Schach zu spielen. Weder Kaffee noch einen Stuhl. Noch immer ging er in einer abgezirkelten Achterschleife mit auf dem Rücken verschränkten Armen durch das Zimmer. Tatsächlich waren seine Lippen und seine Zunge schwarz von Tinte. Die tief eingefallenen Augen und die hervorstehenden Wangenknochen taten ihr Übriges ihm das Aussehen eines Todgeweihten oder zu Tode Gehetzten zu verleihen: Ihr versteht sicher, sagte er, indem er das erste Mal im Gehen innehielt und mich im Sprechen musterte, dass dieser Brief und die darin enthaltene Information vertraulich behandelt werden muss. Mein Bruder kann die Schecks in jeder beliebigen Bank einlösen. Hauptsache ist, dass er nicht nach Österreich kommt. Wir haben hier keine Verwendung für ihn. Es ist im internationalen Interesse, dass davon nichts an die Öffentlichkeit kommt. Wir wissen, dass sie oft in Südamerika waren und die Landessprache sprechen. Wir wollen, dass sie meinem Bruder diese Nachricht zukommen lassen.
Er umkreiste mich jetzt schon zum zweiten Mal, blieb stehen und nahm gleich darauf seinen Gang wieder auf. Es gab keine Zweifel mehr: Franz war aus der alten Haut in eine neue geschlüpft. Er wollte partout als Kaiser Franz wahrgenommen werden und parodierte damit die Parodie einer Parodie, in welcher es ein Schauspieler zu nationaler Berühmtheit gebracht hat, seit er als Kaiser auftritt und prominenten Bürger:innen im Fernsehen Audienz gewährt.
Es tat mir leid um ihn. Er hatte die Fähigkeit zur selbstkritischen Reflexion verloren, die ihn einmal ausgezeichnet hat. Wo war er, der einst angesehene, streitbare Professor für Geschichte, der mit seinen öffentlichen Auftritten in nationalen Sendern und Zeitungen der noch nicht gekauften Presse vor einer schleichenden Machtübernahme der Autokraten gewarnt hatte? Was war aus dem Mann geworden, der so unermüdlich und engagiert dafür gekämpft hatte, dass sich in unserem Land keine illiberale Demokratie etablieren konnte, und mit ihr kein System, in welchem nicht die Fähigsten, sondern die Treuesten mit Ämtern belohnt wurden? Ganz abgesehen von der Verwahrlosung und seiner körperlichen Verfasstheit, war es ein Schock, ihm jetzt als einem Repräsentanten einer anderen autoritären Staatsform gegenüberzustehen, die er einst als historischen Nährboden für die desaströse Entwicklung in unserem Land angesehen hatte.
War es Mitleid? Empathie? Wollte ich einem Konflikt aus dem Weg gehen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls tat ich so, als würde ich mitspielen, gab aber zu bedenken, dass ich eben erst von einer Reise aus Südamerika zurückgekommen sei, und ich deshalb seiner Bitte nicht nachkommen könne. So leid es mir auch tut, fügte ich hinzu.
So leid es euch auch tut, äffte er meine Stimme nach, und fixierte mich mit einem Blick, der mir den kalten Schauer über den Rücken jagte. Euch wird es sehr leidtun, fauchte er jetzt und spuckte mir das „t“ von „tut“ ins Gesicht, während er mir den Brieföffner in den Bauch stieß. Wir dulden keine Widerrede, schrie er jetzt, und steigerte sich in eine Wut, die mich so in Angst und Schrecken versetzte, dass mir – wie das in Albträumen geschieht – die Füße ihren Dienst versagten, mit deren Hilfe ich das Weite suchen wollte. Plötzlich aber erstickte seine Stimme, seine linke Hand griff in den Raum, wie um Halt zu suchen, die rechte fasste sein Herz, die Augen – als würden sie einen Geist schauen – bohrten sich einen Weg durch meine, dann taumelte er, rang nach Luft, stolperte mir entgegen und versuchte sich – mich am Kragen packend – an mir wieder hochzuziehen, um wieder Halt zu gewinnen… Dann ließ er mich los, wandte sich von mir ab und lachte dabei dermaßen schrill und dazwischen um Atem ringend, dass es mir durch Mark und Bein ging.
Ich hörte ihn noch, als ich schon auf der Straße war.
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