18 Feb Die Fahndung läuft
Die Fahndung läuft
I
Von diesem schon etwas fortgeschrittenen Morgen erwartet er sich genauso wenig, wie von dem, der ihm folgen sollte, falls er ihn überlebt. Siegfried Samsa leidet zwar nicht unter dem Asperger-Syndrom, aber er hat mit zunehmendem Alter ein immer größer werdendes Problem damit, soziale Empathie zu entwickeln.
Während sich die globale Berichterstattung mit der Pandemie beschäftigt, versucht er ein Gedächtnisprotokoll der Geschehnisse, wie Siegfried Samsa glaubt, sie erlebt zu haben. An manchen Stellen – zum Beispiel dort, wo er sich nicht ganz sicher ist, ob es sich so oder anders zugetragen hat, verlässt er sich auf seine Fabulierlust. Das Auf- und Niederschreiben hilft ihm, die Zeit zu vertreiben. Es ist keine Klosterzelle mit karger Einrichtung für einen Menschen, der im Glauben den Sinn für sein In- und Aufderweltsein gefunden hat; es scheint eine Zelle in einem Gefängnis zu sein, mit Insassen, die mehrheitlich ihren Glauben an den Sinn ihres Aufderweltseins verloren haben und ausnahmslos davon ausgehen, zu Unrecht in dieser Einrichtung festgehalten zu werden. Er kann für sie nicht die Hand ins Feuer legen. Er für sich weiß, dass er unschuldig ist, aber es will ihm nicht und nicht gelingen, den Beweis dafür zu erbringen. Fight-Flight-Freeze? Im Augenblick hat er aus schierer Notwendigkeit sich für die letzte Variante entschieden.
II
In Ermangelung eines menschlichen Wesens, mit dem er sich über Belanglosigkeiten austauschen könnte, hat er einen Androiden erfunden, ein Roboterkind, das als Platzhalter für das in ihm abgestorbene programmiert ist. Mit diesem will er gerade Erinnerungen austauschen, als ihn die Müdigkeit übermannt und er in ein traumähnliches Setting gerät. Die Zeit verrinnt im Loop. Tik Tok. Tik. Tok. Wahrscheinlich wegen der immer gleichen Abläufe: Zähneputzen, Fernsehen, Rauchen, Schlafen – unterbrochen von Versuchen, Zukunftspläne zu schmieden, die Siegfried Samsa von jetzt auf Morgen verschiebt. Wofür es übrigens ein Wort gibt, das ihm auf der Zunge liegt, aber nicht und nicht einfallen will. Doch. Jetzt ist es da: Prokrastination. Heute kein Tik Tok. Tik Tok. Soweit ich ihn kenne, würde er viel dafür geben, er hätte sein ereignisloses Leben wieder zurück, das mit dem Ruhestand begonnen hatte. Aber ich kann mich auch irren. Er hat die Ereignislosigkeit mit Kopfkino überwinden wollen, was ihm manchmal auch gelungen war. Jetzt aber wird es von einer Wirklichkeit eingeholt, die ihm keine Antwort auf die Frage geben will, ob er das alles vielleicht auch nur geträumt hat.
Kurzgeschichte
Es hatte mit einem Anruf begonnen: „Dir gehören Mitsubishi Colt? Rot? Komm in Werkstatt. Sturzgasse. Chef sagt, du brauchen Pickerl. Wir machen dir Pickerl.“ Zuerst hab ich mir gedacht: Wie aufmerksam. Erinnern mich daran, dass die Prüfplakette bald ablaufen wird. Eigentlich nicht die Aufgabe von Automechanikern, ihre Kunden über Telefonate darauf aufmerksam zu machen. Ich weiß nicht, wie alt ich noch werden muss, um das Vertrauen in meine Mitmenschen zu verlieren. Ich hätte erst gar nicht abheben sollen. Eine unterdrückte Nummer. Und warum Sturzgasse? Das hätte mich stutzig machen müssen. Meine Werkstatt ist nicht in der Sturzgasse. Seid ihr umgezogen? Das hätte ich fragen müssen. Dann wär‘ ich nicht in diesen Schlamassel geraten. Oder doch? Hätte. Wäre.
Cola Charly will mit dir reden, sagt der Typ mit dem Schlagring, an dem Fetzen meiner Kopfhaut kleben. Sein Atem stinkt nach abgestandenem Bier. Wo ist Mitsubishi?
Was habt ihr nur mit meinem Mitsubishi, lalle ich. Aus meinem Mund rinnt Blut. Ich weiß nicht, wie viel Zähne mir fehlen. Es waren meine letzten. Das weiß ich.
Auf seinem durchtrainierten Oberarm rechts ist ein Sturzkampfbomber zu sehen, auf dem anderen kann ich „Blut, Ehre, Treue“ entziffern; auf die Zahlenbuchstabenkombination aber kann ich mir keinen Reim machen.
„Aber wer ist Charly. Was für ein Charly? Ich kenn‘ keinen Charly. Auch keinen Cola Charly. Aber eines weiß ich: Früher, da haben die Dons noch elegante Armani Anzüge getragen und sich selbst die Hände noch schmutzig gemacht. Ist lange her. Das weiß ich aus dem Kino. Ob ich das gesagt oder nur gedacht habe, ich kann’s nicht mehr sagen. Ich wusste nur Eines: Ich musste ihn aufs Blut reizen. Auch das wusste ich aus Kono und Netflixserien. Das ist das einzige Mittel, das martialisch auftretende Gegenüber aus der Reserve zu locken.
Ist das alles? lalle ich. Ist das das Pickerl, das ihr mir machen wollt? Ich spucke Blut auf seine Nike Air force1 und hoffe, dass er seine Deckung aufgibt und mir nahe genug kommt. Dann kann ich ihm einen Hammerschlag verpassen…
Siegfried Samsa weiß um seine Widerstandskraft. Worin das Geheimnis seiner einzigartigen Panzerung besteht? Er hat sie einem kleinen Käfer abgeschaut, der weder von Insektenliebhabern aufgespießt, noch von solchen, die sie hassen, zertreten werden kann. Siegfried Samsa hat einen Panzer aus Chitin und einer Proteinmatrix, ein belastungsresistentes Kompositmaterial, das sich – mit 3D-Drucker hergestellt – durch optimale Kombination aus Festigkeit und Biegsamkeit auszeichnet.
Jetzt sitzt er in einem Liegestuhl nahe dem Pool, das zum Anwesen von Cola Charly gehört, knallt sich ein Hopfentorpedo nach dem anderen in die Synapsen, rülpst und wirft Streichhölzer ins Wasser. Für jedes gelebte Jahr zündet er eines an, schaut in seine Flamme, schnippt es ins Wasser und kann von dem Zischen nicht genug kriegen. Dann erhebt er sich. Mit dem letzten Streichholz wird alles in Flammen aufgehen und mit ihm das ganze beschissene Jahr, das Siegfried Samsa in einem Zustand verbracht hat, für den Experten, die sich mit der Psyche des Menschen in Ausnahmesituationen befassen, den Begriff „Languishing“ erfunden haben: Nicht krank und nicht gesund. Halb im Kampf und halb auf der Flucht.
Mit sich selbst im Gespräch – Träumen wird man ja wohl noch dürfen – versucht er sich davon zu überzeugen, dass es sich so zugetragen haben könnte. Mit dem Kino im Kopf nämlich ließ sich fast alles ertragen. Auch die Tatsache, dass sein Mitsubishi Colt nicht mehr auffindbar war. Er hatte ihn trotz Bedenken seiner Freundin Amanda bei einer grenznahen Auktion günstig erworben. Beschlagnahmte Fahrzeuge können nämlich von Interessierten gekauft werden. Drogenspürhunde – so wurde ihm versichert – seien bei einer Kontrolle nicht angesprungen. Der Wagen war clean. Dass er eine Geschichte hatte, die Siegfried Samsa, aber auch seine Freundin Amanda nicht nur in Bedrängnis, sondern in Lebensgefahr bringen würde, konnte er sich beim Kauf weder träumen lassen, noch sich mit bemühtestem Kopfkino ausdenken, da es jede Genregrenzen gesprengt hätte. Semi-fiction vielleicht? Nein: Man hätte eine neue Gattung erfinden müssen.
IV
Siegfried Samsa reibt sich die Augen. Sie sind nach einer Staroperation trocken. Genauso trocken wie die Ansage seines ihn behandelnden Augenarztes. Auf die Frage, ob ihm das nun bis zum Lebensende bleibe, bekommt er zur tröstenden Antwort: „Sie sind ja nicht mehr der Jüngste.“ Was für ein Trost. Er ist nur schlecht zu verstehen, da er mit dem Rücken zum Patienten sitzt und in seinen Monitor starrt, von dem er die von den Assistentinnen erhobenen diagnostischen Daten abliest.
Im Wartezimmer ein riesiger Monitor mit Werbung für Bepanthen-Tropfen, aber auch für ein Bestattungsunternehmen mit dem Namen Himmelblau, das den Patienten eine stimmungsvolle Beerdigung verspricht.
Er schaut in einen Refraktometer. Noch ist das Bild unscharf, aber er weiß, was er sehen wird: Eine Landstraße mit einem Mittelstreifen. Es ist nicht das erste Mal, dass ihm dieses Bild auf den Augenhintergrund projiziert wird, und jedes Mal fragt er sich, wohin die Straße führt. Ein Highway mit weißen Mittelstreifen, der im Horizont auf einen Punkt zuläuft; links und rechts monochromes Grün. An ihrem Ende jedenfalls wartet kein bunter Ballon mit einer Gondel, in die er sich setzen und vom Boden abheben kann, um in einem Land seiner Wahl in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden, sondern eine Zelle in seiner Heimatstadt.
V
Jetzt nämlich – nachdem seine Augen betäubt worden sind, und er noch immer Stirn und Kinn auf die gepolsterte Vorrichtung stützt, hört er einen spitzen Schrei. Er kommt aus dem Vorraum, wo hinter einer Plexiglasscheibe eine andere Assistentin die Daten der Patienten aufnimmt. Es ist eine Exschülerin von Siegfried Samsa, der in einem anderen Leben Lehrer war. Was für ein Zufall. Nein. Wer beinahe 40 Jahre lang Heerscharen von Schülern unterrichtet hat, begegnet ihnen bei allen möglichen und selbst unmöglichen Anlässen. Ob es ein Geschäft für Betten ist, in welcher sich eine Dame beim Bezahlvorgang als Exschülerin outet und erzählt, wie sehr sie es geschätzt habe, von Siegfried Samsa für das Kaugummikauen nicht bestraft, sondern sogar gelobt worden zu sein, weil das Kauen die Hirntätigkeit anrege; auch wenn es die einzige Erinnerung ist, die sie nach 4 Jahren Geschichtsunterricht abrufen kann, allein dafür ist ein Rabatt mehr als gerechtfertigt, oder? Bei einer anderen Gelegenheit wird er mit seinem Sohn und dessen Freund bei der Fahrt mit der U-Bahn von einem Schwarzkappler gestellt. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass schwarz von shvarts kommt und im Jiddischen so viel wie arm heißt. Wie dem auch sei. Den Fahrschein jedenfalls kann Siegfried Samsa nicht und nicht finden. Vielleicht hat er drauf vergessen, einen zu kaufen? Vielleicht aber hat er es drauf ankommen lassen wollen? Er kramt verlegen in seinen Taschen und tut, als würde er ihn suchen; sinnlos verschwendete Zeit; nein: ganz und gar nicht, denn sie gibt dem Mann Gelegenheit, sein Gegenüber zu mustern, um festzustellen, dass … na, dass er seinen ehemaligen Lehrer vor sich hat. Wieder einmal davongekommen. Da soll noch einer sagen, dass sich die Ausübung dieses Berufes nicht bis in die Pension hinein auszahlt.
VI
Siegfried Samsa nimmt den Kopf aus der Vorrichtung. Da seine Linsen durch die Tropfen getrübt sind, nimmt er nur schemenhaft wahr, wie zwei Männer mit Kapuzen, getönten Sonnenbrillen und Masken um Mund und Nase die Exschülerin am Schalter und die Patienten im Warteraum mit Pistolen in Schach halten.
Wo ist er? knurrt der, der vor dem Schalter mit dem Plexiglas steht.
Wer? fragt die Exschülerin in schrillem Falsett.
Siegfried Samsa, zischt er und droht: Ich frag nur einmal.
Sie starrt ihn an. Siegfried Samsa? Hier gibt’s keinen Samsa. Wer soll das sein? fragt sie. Und das ist ganz schön mutig.
Samsa, sagt der Mann, fuchtelt mit der Pistole und wiederholt, jede Silbe betonend. Ich. Such. Einen. Siegfried. Samsa. Er muss hier sein.
Siegfried? Wie der aus dem Nibelungenlied? fragt die Assistentin.
Ja, und Samsa. Wie der von Kafka! ergänzt Cola Charly.
Aber das war doch ein Gregor, versucht es die Sprechstundenhilfe, die sich jetzt weniger beeindruckt von der Pistole, aber desto überraschter von des Mannes literarischer Belesenheit zeigt. Der Dialog der beiden bleibt auch nicht ohne Eindruck auf Siegfried Samsa, dessen Eltern bei seiner Namensgebung seine Verletzlichkeit im Sinn gehabt haben müssen, nicht aber die Lächerlichkeit, der er ausgesetzt sein würde – ein Leben lang. Im Augenblick aber hatten beide Namen ihre Wahl trefflich unter Beweis gestellt. Er lag auf dem Rücken oder stand mit diesem zur Wand, und seine Gegner wussten um die Stelle, wo er verwundbar war: Amanda, seine Freundin. Was, wenn sie …?
VII
Mittlerweile hat sich das Geschehen in den Warteraum verlagert. Dort nämlich sitzt ein Mann, der dem Double mit der Pistole keine Beachtung schenkt, sondern in einem Gratismagazin blättert, von dessen Cover der Bundeskanzler eines Kleinstaates grinst, in welchem im vorletzten Jahrhundert wegen der Heiratspolitik des Hofes die Sonne nicht untergegangen war und sich nach 2 Weltkriegen aber noch immer als Kleinbühne versteht, „in welcher die große Welt ihre Probe hält“. Der junge Kanzler – noch im Stimmbruch – grinst über beide Tumbo-Ohren und verspricht: Nächsten Sommer ist alles wieder normal. Das Ende des Tunnels ist in Sicht. Alle wissen, dass das Gegenteil eintreten wird, und das Licht am Ende des Tunnels nur von einem Zug kommen kann oder vom Licht des nächsten Tunnels. Von den 24 griechischen Buchstaben für die Corona-Varianten sind erst 5 aufgebraucht.
He. Du da.
Der Mann schaut kurz auf.
Ja, dich mein ich. Steh auf! Seine Artikulation ist das, was man bei Motorrädern einen Spruch nennt. Dazu kommt, dass er die kurzen Sätze mit spitzen Lippen, ja fast mit einem Schmollmund formuliert.
Was soll i?, fragt der Mann verdutzt.
Hast was in den Ohren?
Na, mit di Ohren nix, aber mit di Augen, sunst warat i net do.
Alle Augen, die mit grauem oder grünem Star, mit Netzhautablösung oder altersbedingter Makuladegeneration, sind jetzt auf die beiden Männer gerichtet. Selbst sein Kumpel ist abgelenkt und ruft ihm zu:
Boris. Lass ihn. Des is er net.
Boris heißt er also. Boris ist aber nicht ansprechbar für seinen Partner. Sicher der Bruder und beide in ihrer Gegensätzlichkeit so familiär verbunden wie Kain und Abel. So eine Provokation darf er sich nicht gefallen lassen. Er hat immerhin eine Glock 17 in seinen Händen; die Waffe der Wahl von Gangstern, Amokläufern und Kriegsverbrechern, hergestellt in seinem Heimatland.
Is di g’laden? fragt der Mann. Er steht jetzt. Ein Schrank von einem Mann. Er hat was von Van Disel.
Hast was in der Trommel? setzt er nach und deutet dabei auf das Hirn seines Gegenübers, der Boris heißt.
Na, Boris, was is? Schieß! Na, wird’s bald?
Boris hyperventiliert, weiß nicht, was er tun soll, will ihm mit der Pistole eins überziehen. Da ist er aber an den Falschen geraten. In einer den Anwesenden unbekannten Kampfsportart geschult – wahrscheinlich das Shaolin Kempo: Ein Kung Fu Stil aus Nordchina, der aber seine Wurzeln in philosophischen & meditativen Karate-Systemen aus Japan hat. Mit seiner Rechten setzt er jetzt eine Hebeltechnik an und verpasst ihm mit der Linken einen Schlag in die Magengrube. Ein Schuss löst sich, durchschlägt die Decke, von der der Verputz bröckelt.
Es ist still. In diese Stille hinein brüllt eine Stimme: Seid’s es alle wahnsinnig? Es ist die Stimme des Augenarztes, den der Tumult auf den Plan gerufen hat. Er hat einen weißen Kittel und trägt einen Vollbart, der rechts, links und unten am Hals über eine 3M Mehrweg-Halbmaske 6002c mit Wechselfilter quillt, die auch für Lackierarbeiten geeignet ist.
Siegfried Samsa hält den Augenblick für gekommen, seinen potenziellen Peinigern zu entfliehen, indem er sich an der Wand entlangschleicht und – beide Hände im Schritt – tut, als müsse er dringend aufs Klo.
Während noch über den entstandenen Schaden an der Stuckdecke verhandelt wird, – habsburgischer Neobarock vermutlich – gelingt es ihm, bis zum Vorraum zu gelangen. Dort wirft er der Exschülerin, die mit ihrem mutigen Einsatz sein Inkognito gewahrt hat, zuerst einen verschwörerischen Blick, dann eine Kusshand zu, und begibt sich unbemerkt nach draußen. Unglaublich, denkt er, die Lebenswege meiner Exschülerinnen: von ignoranten Semianalphabeten zu literarisch belesenen Sprechstundenhelferinnen.
VIII
Kaum auf der Straße hört Siegfried Samsa, wie jemand lautstartk „Oarschloch“ schimpft; aber das gilt nicht ihm, wie er nach einem hektischen Rundumblick feststellt. Während Siegfried Samsa noch rätselt, wem die Stimme gehört, biegt eine Frau mit High Heels ums Eck und stelzt – mit sich selbst redend – an ihm vorbei. Sie hat eine weiße Ledertasche, auf der eine goldgestickte Rose im Relief abgebildet ist. Mit weit ausholenden Gesten und ohne Wahrnehmung für das Jetzt und Hier schimpft sie vor sich hin: Bis halb vier war ich unterwegs und jetzt is es scho wieder, als ob Abend wär‘: Scheiße, scheiße, scheiße. Auch das noch. Sie zieht ihren linken Schuh mit dem 10 cm hohen Absatz aus und versucht das Stoffwechselprodukt eines Hundes am Randstein abzustreifen.
Siegfried Samsa vermutet, dass sie kein Headset braucht, weil sie eine Funkverbindung über Bluetooth nutzt: Oarschloch, schimpft sie, immer, wenn i di brauch, bist net do.
„Was hat sie so aufgebracht?“, fragt sich Siegfried Samsa, obwohl er sich eigentlich ausschließlich damit beschäftigen müsste, welche Fluchtwege ihm noch offenbleiben, nachdem sie sogar um seinen Termin beim Augenarzt gewusst hatten. Wer außer…? Ein furchtbarer Verdacht drängt sich ihm auf. Sie werden doch nicht…
Siegfried Samsa wird von jäher Panik überfallen, fischt sein Handy aus der Jackentasche und wählt die Nummer seiner Freundin:
„Geh ran!“, murmelt er.“ Jetzt geh schon ran!“ Er könnte jetzt auf Band sprechen, aber was sollte er sagen? Es wird alles gut? Mach dir keine Sorgen? Plötzlich eine Stimme. Eine männliche Stimme:
„Wen homma denn do? Is des vielleicht a gewisser Sigi Samsa, der si um sei Freundin sorgen tut? Es geht ihr gut, soweit i des beurteil‘n kann. Noch, muss i allerdings dazuasag‘n. No geht’s ihr gut. Entweda du… hör auf mi anschreien. Hier hast es: „Schatz!“, stammelt SS. Was haben sie dir getan?
Sigi Samsa hört nur ein ersticktes Wimmern, dann wieder die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung:
Sie kann net sprech‘n, musst wiss‘n. Sie hot an Mundschutz. Aber der is aus am Klebebandl. Des brade braune. Für die Packerln bei da Post. Kennst di aus? Kriegst a SMS und jetzt’n Tschüss.
Siegfried Samsa ist stehengeblieben. Er nimmt das Handy vom Ohr, starrt es an, wählt wieder die Nummer. Nichts. Nur die Ansage: Hier ist der automatische Anrufbeantworter …
Er weiß, dass es der Boss war, mit dem er eben gesprochen hat. Der Bleiche Peppi. Der Boss vom Kafkalesenden Strizzi namens Cola Charly. Der, der ihm gerade in der Praxis des Augenarztes mit seinem Komplizen aufgelauert hatte. Mit dem war nicht zu spaßen. Erst 30 – hat er eine beachtliche Karriere hingelegt: 5 Jahre in Stein, 3 Jahre U-Haft; ihm fehlen also nur noch 2 Jahre auf den Zehner, wie es im Wiener Rotwelsch heißt; der Zehner ist die Aufnahmebedingung in der Wiener Unterwelt. Das am Rande.
IX
Der Bleiche Peppi, ein kleiner Strizzi? Sicher nicht. Einmal, – so geht das Gerücht – soll er statt eines Geldautomaten einen Kontoauszugsautomaten mit einem Drahtseil aus der Verankerung gerissen und mit einem LKW abgeschleppt haben. Unabsichtlich war ihm damit ein Coup gelungen, der ihn mit einem Schlag zum unbestrittenen King der Unter-, aber auch der Geschäftswelt gemacht hat. Das Wissen nämlich um den Kontostand tausender Bürger – auch Politiker sollen diesem Stand angehören – befreite ihn durch Schutzgelderpressung auf Dauer von möglichen Gefängnisaufenthalten und ersparten ihm so den berüchtigten Zehner. Woher Siegfried Samsa das weiß? Aus den Medien natürlich. Aus der Veröffentlichung von Chatprotokollen diverser Politiker, die sich als Familie verstehen und in der Parallelwelt, in welcher der Bleiche Peppi daheim ist, ihresgleichen sucht und auch findet.
Was unternimmt Siegfried Samsa, sich und seine Freundin aus der Schlinge zu ziehen? Gute Frage. Er steckt in einem schönen Schlamassel. Was er jetzt nämlich braucht, ist ein Plan. Ein guter Plan.
Um einen solchen auszuhecken, braucht er eine Dusche. Duschen ist nämlich wie in ein Kaminfeuer starren. Geht es dir auch so? Ich jedenfalls erreiche dabei einen fast hypnotischen Zustand und in diesem liefert mir mein Unterbewusstsein, während der Duft der Seife sich durch die Nase einen Weg in die Amygdala bahnt, Antworten auf Fragen oder Lösungen, die vorher nicht greifbar waren. Duschen? Wo? Daheim? Dort, wo der Cola Charly auf ihn wartet oder gar der Bleiche Peppi? Ins Kaminfeuer starren? Mitten in einem Sommer mit einer nie dagewesenen Hitze, seit es Aufzeichnungen über Temperaturen in diesem Breiten- und Längengrad gibt? Wer keinen Plan hat, kann nicht scheitern. Auch so ein Kalenderspruch. Aus einem Film? Aus einem Buch? Aus einem Film, der in Korea spielt. Jetzt hab ich’s wieder. Meine Gehirnzellen funktionieren noch.
X
Er braucht jetzt dringend Zigaretten. Die besten Ideen sind ihm schon immer beim Duschen oder Rauchen gekommen. Duschen fällt flach. Seit er mit dem Rauchen aufgehört hat, um die vielen Vorteile zu genießen, die Rauchfreiheit versprechen, ist er allerdings nur noch damit beschäftigt, sein Begehren nach einer Zigarette zu unterdrücken. Am besten gelingt das, solange er schläft. Auch jetzt würde er am liebsten seinem Schlafbedürfnis nachgeben, um nicht rückfällig zu werden. Wer aber will es ihm verübeln, dass er in dieser schier ausweglosen Situation seinen Widerstand aufgibt und in eine Trafik geht.
Siegfried Samsa geht also in eine Trafik. Nicht eine. Seine Trafik, die er noch vor 3 Monaten täglich aufgesucht hatte, um sich mit Nachschub zu versorgen. Eigentlich war der Trafikant der Grund, warum er mit dem Rauchen aufgehört hatte. Daran wird er jetzt wieder erinnert.
Von Beginn an wurden Kriegsinvaliden, Soldatenwitwen und schuldlos verarmten Beamten Trafikantenstellen zu ihrer Versorgung zugestanden. Sein Trafikant allerdings ist weder invalid noch schuldlos verarmt; er scheint nur eine Gefühlsregung zu kennen. Diese besteht darin, jedem, der sein Lokal betritt, in der alles, auch die sonst zirkulierende Luft zum Stillstand gekommen ist, mit einem Grant zu begegnen, der Kunden wie eine Watsch’n empfängt, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, für welches Vergehen er bestraft wird. Will man jetzt auch noch eine Kleinware, wie zum Beispiel eine Marie, also ein Papier zum Drehen von Zigaretten, kann es schon geschehen, dass der Trafikant, dessen Geduld schon durch dein Erscheinen überstrapaziert zu werden droht, mit zur Decke gedrehten Augäpfeln und einer, wie eine Sprungfeder schnarrenden Stimme, fragt: Was für a Marie? In Wirklichkeit aber meint: Zuagrasta, depperta. Welche Marie jetz’n? Die brade, die dünne? Er fragt so gereizt, als würde der Käufer ihn zum Zuhälter machen wollen. Siegfried Samsa kauft gleich 5 auf einmal, nachdem er die richtige Marie gefunden hat, obwohl er sich mit jedem anderen Papier zufriedengegeben hätte, nur um des Trafikanten Geduld nicht auf noch härtere Probe zu stellen. Auf Wiedersehe‘n, sagt der Kunde, höflich, wie er es von seiner Mama gelernt hat. Wiedaseh’n! knurrt er, sein Trafikant, meint aber: Da’stess di und küss mi in Krakau.
XI
Bevor Siegfried Samsa seinen Plan verrät, von dem er nicht weiß, ob es überhaupt einer ist, hat er noch einmal Gelegenheit, die in Wien beheimateten Soziodialekte zu studieren; diesmal ist es eine Schülerin im 10A, einer Buslinie, die ihn zu Miranda bringen soll, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Die Schülerin ist zugestöpselt, hat eine Abschleppöse in der Nase und blonde Amateurlocken. Es ist eins von diesen Wohnzimmergesprächen, wie man sie seit Erfindung des mobilen Telefons überall mithören kann; diesmal aber aus einem ihm seit der Pensionierung fremdgewordenen, aber trotzdem noch immer vertrautem Biotop:
…Was, den kennst net? Des is der, der zum Ahmet g’sogt hot: Brot kann schimmeln. Was kannst du? Bei dem kriegen’s olle des Eierflattern. Aner, der Tacheles red’t mit dir. Bist no dran? Du, Ich muss aufhör’n, Spassi…
Schade. Er hätte gern mehr gehört, um sich ablenken zu lassen. Er muss in einem fort an den Bleichen Peppi und an seine Freundin denken. Er weiß zwar nicht, was sie von ihm wollen, aber solange sie glauben, dass er das hat, was sie von ihm wollen, wird ihr nichts geschehen. Ob Miranda ihm verzeihen wird, sie in solche Gefahr gebracht zu haben?
XII
Der 10A hält an der Station. Auf der Glaswand ist Werbung affichiert. Sie zeigt einen Repräsentanten der hohen Politik, der sich zu Vertretern des Volkes hinunterbeugt und damit prahlt, die Pandemie besiegt zu haben, während gleichzeitig die Lambda-Variante durch alle Kontinente und das Land rast. Eine Mutter mit quengelndem Kleinkind an der Hand, einem Baby im Kinderwagen, Tretroller und zwei großen Taschen braucht Zeit zum Aussteigen. Hinter ihr staut es sich, ein Mann mit Bierbauch hat’s besonders eilig: Geht’s a bissl schnölla? Da dreht sich eine ältere Frau resolut zu ihm um und herrscht ihn an: „Hean’S! Beruhigens earna! Des is a Frau und ka Oktopus! Sie wearn’s scho no dawoat’n. Er hätte auch ihr noch gerne länger zugehört, aber …
XIII
Sie mussten schon länger in der Wohnung gewesen sein. Anders konnte Miranda es sich nicht erklären, dass just in dem Augenblick, als sie aufgelegt hat, das Licht ausgeht und eine rattenscharfe Stimme aus Richtung der Türe, die zur Küche führt, ihr befiehlt, die Vorhänge zuzuziehen. Sie aber ist wie gelähmt, hält das Handy in der rechten Hand, bewegungslos. Erstarrt. Peppi, ruft er in leicht amüsiertem Ton, sie will die Vorhänge nicht zuziehen.
Die müssen aber zu sein, Schatzi, sagt der so Angesprochene, der hinter ihm aufgetaucht ist und jetzt auf sie zugeht. Für das, was wir vorhaben, sagt er sanft, sollten sie zu sein.
Sie hat verstanden. Zwar nicht, was genau sie vorhatten, aber es würde mit ihr zu tun haben. So viel stand fest. Als sie den Strick und dann die Leukoplast- Rolle in des Bleichen Peppi Händen sieht, weiß sie, dass jede Angst, die sie in ihrem Leben bis zu dieser Stunde kennengelernt hat, nicht mit jener vergleichbar ist, von der sie jetzt gepackt und in den Würgegriff genommen wird. Dabei hat sie schon Situationen erlebt, die eigentlich bei jeder Begegnung mit einem Mann eine Panikstörung auslösen müsste. Jahrelang hatte sie seither um das andere Geschlecht einen Bogen gemacht, da sie Männlichkeit immer nur als eine toxische erlebt hat. Da hat ihr Vater keine Ausnahme gemacht. Sie hatte sich eingebunkert. Siegfried Samsa war sehr stolz darauf, Miranda durch seine Geduld und Sanftmut verführt zu haben, nicht alle in einen Topf zu werfen. Wie immer aber bestätigen Ausnahmen wieder einmal die Regel. Sie kratzt, sie beißt, sie schreit, aber sie weiß, dass sie keine Chance hat.
Die zwei Männer haben jetzt alle Hände voll zu tun, die außer Kontrolle geratene Frau zu fesseln und zu knebeln. Sie verschnüren sie in fötaler Haltung, rollen sie in einen Teppich und tragen sie die Stufen hinunter auf die Straße, wo ein schwarzlackierter Carrera 4S steht. Das ist das letzte, was sie sieht. Sie hört noch, wie die Heckklappe des Kofferraums, dann die Seitentüren satt ins Schloss fallen, und hätte sich im Augenblick nichts sehnlicher gewünscht, als durch einen Schlag betäubt worden zu sein.
XIV
„Mann, sagst du mir, wie soll das gehen? Hast du Auto oder nicht? Wenn du hast das nicht du bist im arsch man.“
So lautet die SMS, die SS eben empfangen hat. Er will ein Taxi nehmen, wird aber von einer Demonstration von Corona-Leugnern aufgehalten, nachdem die Regierung das Land in den vierten Lockdown geschickt hat. Er muss schauen, dass er bis 20 Uhr in seiner Wohnung ist, da von dieser Uhrzeit an bis in den nächsten Morgen um 6 Uhr ein Zuwiderhandeln gegen die verordneten Ausgangsbeschränkungen mit harten Strafen sanktioniert wird. „Wer es darauf anlegt und sich den Maßnahmen bewusst widersetzt, darf nicht mit Toleranz rechnen. Ich habe den Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit angewiesen, jetzt gerade am Anfang der Maßnahmen stark zu kontrollieren.“ So der immer martialischer auftretende Innenminister, der, um die Dringlichkeit seiner Botschaften zu unterstreichen eine Hand zu einer Faust ballt, sie wie eine Kralle öffnet, dann wieder schließt. Neben ihm ein Generalmajor im Tarnanzug, der vom Feind spricht und von Impfpflicht als Waffe und … Ein kurzer Blick auf die Twitter Timeline bestätigt seine Vermutung, dass die Regierung mit dieser verordneten Grundrechtsbeschränkung diesmal zu weit gegangen ist: #Tuttifritti: Drehen die jetzt völlig durch? Machen auf Rambo. Treten auf mit einem General in Playmobiluniform. Geht’s vielleicht zivilisierter? Eure Maßnahmen retten höchstens Martinigänse, die noch nicht geschlachtet sind.
Auch die Restaurants nämlich sind vom Lockdown betroffen.
Das alles aber interessiert ihn jetzt nicht. Er liest noch einmal: „Mann, sagst du mir, wie soll das gehen? Hast du Auto oder nicht? Wenn du hast das nicht du bist im arsch mann.“
Die SMS war – trotz ihrer wenig elaborierten Sprache, die auf migrantischen Familienhintergrund schließen ließ – eindeutig. Am liebsten hätte er, da ihm als ehemaliger Deutschlehrer viel an Sprache, Grammatik und Orthografie liegt, die zwei Sätze korrigiert, wie er es bei den Hausübungen und Schularbeiten seiner Schülerinnen, aber auch bei einem Protokoll der Polizei getan hatte, die ihm noch vor seinem Gefängnisaufenthalt in Texas, Widerstand gegen Staatsgewalt unterstellen wollte. Bleiben wir aber im Hier und Jetzt. Die korrigierte Botschaft würde also so ausschauen: Lieber Freund. So geht das nicht. Entweder du hast das Geld und es kommt heute noch zwecks Übernahme zu einem Treffen, oder ich muss tun, was mir mein Auftraggeber zu tun geraten hat.
Warum sie noch mehr provozieren? Macht keinen Sinn, denke ich. Also lass ich es. Das war schon einmal schief gegangen. Damals, als ich von diensteifrigen Polizisten, – eine ganze Mannschaft war über mich hergefallen -, auf die Wache gebracht worden war. Mein Verbrechen?
XV
Die von einer Freundin ausgeborgte Vespa hatte zu stottern angefangen. Siegfried Samsa hat im Fahren nach dem Reserveschalter gesucht, was ein Schlingern zur Folge hatte, und eine Streife auf ihn aufmerksam machte. Es war Winter. Er trug einen schwarzen Hut, eine Lammfelljacke und Stiefel. Ein Outfit, dem auch ohne schlingerndes Fahren die Aufmerksamkeit der Ordnungskräfte sicher war. Während die Kollegen noch aufgehalten waren, die Richtigkeit seiner Angaben zur Identität zu kontrollieren, hat sich ein leicht angetrunkener Mann zu ihm gesellt, weil er wissen wollte, was die „Kieberer“ – immer auf die Kleinen (so sein empathischer Freund) – veranlasst habe, ihn bei seiner Mobilität aufzuhalten. Der Mann wurde wegen Störung einer Amtshandlung angewiesen sich fortzuscheren. Die entrüstete Frage von Siegfried Samsa wiederum, wie jemand eine Amtshandlung stören könne, wenn der amtshandelnde Kollege über Funk Erhebungen anstellt, hatte zur Folge, dass ein Mannschaftswagen angefordert wurde, der diesen Widerständischen den Übermut auszutreiben den Auftrag hatte. Binnen weniger Minuten war ein VW-Bus vor Ort, dem wie bei einem Terroreinsatz bis auf die Zähne bewaffnete Polizisten entsprangen: Wo is‘ er? Wo? Mit Schlagstöcken auf die beiden einprügelnd, wurden Sie in Gewahrsam genommen und innerhalb kürzester Zeit von unbescholtenen Bürgern zu Vorbestraften. Einer bekam bedingt auf 5 Jahre und konnte sich mit Ersparnissen freikaufen, der andere bekam ein halbes Jahr Stein. Aber zurück ins Heute.
XVI
Es hatte geheißen, dass er von ihm hören würde, wenn es so weit sei. Nun also war es so weit: Siegfried Samsa war im Arsch. Es war das erste Mal, dass er dieses Idiom in seinen Sprach- und Wortschatz aufnahm und musste zugeben, dass kein anderes seine Lage besser beschreiben hätte können. „Ich bin im Arsch“. Wie einen Squashball schlug er den Satz laut auf die Stirnwand seiner Hirnschale, bis er entsetzt feststellen musste, dass Leute auf der Straße stehen geblieben waren und ihm nachstarrten wie einem, der unter dem Tourette-Syndrom leidet. Das auf lautlos gestellte Handy in seiner Hosentasche vibriert und macht ihn so auf das Eintreffen einer neuen Nachricht aufmerksam: „Wie lange soll ich warten deine antwort mann? 11 Uhr heut, aber in Nacht auf Parkplatz, du schon wissen. Keine Trix nix mer. Du kommen mit Auto oder deine Freundin …“ Und wieder ertappt er sich dabei, den Satz in korrektes Deutsch umzuschreiben. Das Fehlen jeglicher Vorwörter, und die Tatsache, dass der Sender ohne verbale Klammer beim Einsatz von Modalverben auskommt, ließ darauf schließen, dass er ein Mensch mit Zuwanderungsgeschichte sein muss. Ein Ausländer also; hier heimisch in der vierten Generation nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie.
XVII
Schauplatz dieser von ihm noch eingebildeten oder vorgestellten Wirklichkeit ist ein Park & Ride am Stadtrand mitten im Lockdown und frühnächtlicher Ausgangssperre. Eine Art Hinterhof. Eine triste Kulisse aus verrammelten Läden, gesichtslosen Wohnhäusern und einem turmhohen Getreidesilo. Um die Ecke ein Supermarkt. Dort ein Autospengler, ein Kettensägenservice und ein grindiger Sexshop. Sonst nichts. Es ist zwar Sommer, aber die tropisch anmutende Luftfeuchtigkeit verursacht einen Nebel, der wie ein gebleichtes Leintuch über dem an manchen Stellen schon von Frost und Hitze gesprengten Asphalt hängt. Aus dem glutheißen Sommer war – dem Klimawandel geschuldet – über Nacht Herbst geworden. Zwei mit Fernlicht aufgedrehten Autoscheinwerfern gelingt es, einen Lichtkegel in die Milchsuppe zu schneiden. Siegfried Samsa sitzt in seinem Mitsubishi Colt, den er in Simmering hat auslösen müssen, nachdem er abgeschleppt worden war, weil er ihn auf einem Behindertenparkplatz abgestellt hatte, und wartet auf Anweisungen. Stille. Zuerst geschieht nichts. Gar nichts. Eine verirrte Krähe vielleicht, die etwas angeschlagen, dem Zug zu den Steingründen nicht mehr folgen konnte, und jetzt auf der Antenne sitzt, die auf das Hausdach schräg gegenüber montiert ist. Auch sie im Arsch, denkt er, was ihn erheitert, obwohl ihm danach nicht wirklich zumute ist. Als sie auffliegt, zittert die Antenne. Auf einer Mauer mit abgeschlagenem Putz ist zu lesen: „Und wenn es auch niemand sieht, ich war doch hier, habe nach nichts gesucht und es auch nicht gefunden…“ Gleich darunter ein Spruch, den er sich merken will: Hilf dir selbst, sonst hilft dir Gott!
XVIII
Siegfried Samsa. Warum hat mich niemand vor ihm gewarnt. Eigentlich hätten meine Alarmglocken schon beim ersten Kontakt läuten müssen. Ich hab’s nicht anders verdient, denkt Miranda. Bin ein Leben lang an die Falschen geraten. Und das mit untrüglichem Instinkt. Ich hab‘ nämlich das Helfersyndrom. Nur mir selbst kann ich nicht helfen. Auch jetzt nicht. Was könnten die Gangster von Siegi wollen? Geld? Woher sollte er Geld haben? Die paar Kröten, die er sich für den Kauf eines Gebrauchtwagens angespart hat, sind weg. Mehr hat er nicht. Das wüsste ich. Dass er in der Wiener Unterwelt verkehrt und der Boss ihn zu kennen scheint, wusste ich zwar auch nicht. Eigentlich kenn‘ ich den Mann gar nicht. Heut in der Früh haben wir noch gestritten. Es war zwar nur ein Traum, aber in diesem Traum hat er zugeschaut, wie sie mich abgeschleppt haben, ohne etwas zu unternehmen…
XIX
Die protzigen Autos, zwei Carrera 4S, die man an den fülligen Hinterbacken erkennt, hatten verdunkelte Scheiben, was neben ihren 400 PS, die sie von der Leine lassen können, zum Tuningzubehör von Mafiaautos gehört. Die Insassen, die wegen der verdunkelten Scheiben nicht zu erkennen sind, scheinen ebenso ratlos zu sein, wie Samsa selbst, der wie angewurzelt stehen geblieben ist und sich jetzt darum bemüht, eine für einen möglicherweise tödlichen Ausgang der in Schwebe gehaltenen Handlung geziemende Haltung zu zeigen. Das heißt im Klartext: Er schaut in eine unbestimmte nachtdunkle Ferne und kann sich mit dem Gedanken nicht trösten, dass die Erde 6 Milliarden Jahre dafür gebraucht hat, ihn als einen vernunftbegabten Menschen ohne ersichtlichen Daseinsgrund hervorzubringen, um ihn in einer Lichtsekunde von Kugeln aus einer abgesägten Schrotflinte der Marke Lupara durchsieben zu lassen. Eigentlich müsste er jetzt, das weiß Siegfried Samsa aus Büchern und Filmen, – in so unmittelbarer Todesgefahr – einen Film sehen, der im Zeitraffer die Stationen seines Lebens zeigt: dramatische Szenen, Erinnerungen an ähnliche Situationen, geträumte, eingebildete, tatsächlich erlebte Todesgefahren. Dazwischen Standbilder in wirrer Abfolge, keineswegs chronologisch, die ihn als einen Mann vorstellen, der so gelebt hat, wie er sterben würde: Sich selbst treu geblieben.
Vielleicht sieht er seine Eltern wie vergilbte, in Sepiafarbe getauchte Fotos, die sie als verliebtes Paar zeigen. Sein Vater, wie er seine Mutter über eine Schwelle trägt; ein Bild, mit dem der Film hätte beginnen sollen, aber nicht zu sehen ist, weil die Spule, – kaum eingelegt -, schon im Vorspann abreißt. Das Geräusch eines Projektors, eine Spule im Leerlauf, Geruch nach durchge-brannter Schmelzsicherung…
Vielleicht sieht er sich als tragischen Helden, seinen beiden Namen und ihrem literarischem Schicksal verpflichtet. Als hilflosen Käfer, der auf dem Rücken liegt, zwar nicht Gregor, aber Samsa heißt und mit den Beinen strampelt, wissend, dass er ohne fremde Hilfe sich nicht aus dieser Lage befreien würde können. Vielleicht als Siegfried, der von der Arglist seines besten Freundes überrascht wird? Wir wissen es nicht.
XX
Verlegenheit auf beiden Seiten. Die beiden Fahrzeuge noch immer mit Aufblendlicht, aber abgestelltem Motor. Einer der Lenker hat einen Anruf bekommen. Wahrscheinlich vom Boss höchst selbst, da er unbewusst Haltung annimmt und brummt, was sich wie okay anhört. Er ist bis zum Hals hinauf tätowiert mit Kampfbombern und Nazirunen. Wo hat er ihn das letzte Mal gesehen? Dicke Ketten und Ringe an jedem Finger der beiden Hände lassen vermuten, dass sich seine kriminellen Neigungen rechnen. Er macht den Kofferraum auf. Wer liegt da mit einem Leukoplast über dem Mund, die Hände auf den Rücken gefesselt, die Füße zusammengeschnürt wie ein Paket? Sie hat die Augen geschlossen. Sie ist nicht tot, denn sie öffnet sie; versucht sich zu orientieren. Was sieht sie? Was hört sie?
Du aussteigen!, bellt der Kryptonazi. Das ist der mit der Glock. Forscher einer Universität in Kalifornien haben nachgewiesen, dass ein Textpool von 250 Wörtern in jeder Sprache genügt, um sich den Mitmenschen verständlich zu machen.
Und sie, die an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt eben die Augen geöffnet hat? Sie heißt Miranda, ist 45 Jahre alt, und im Brotberuf Krankenschwester; eine also, die in pandemischen Zeiten ohnehin schon im Dauerstress ist, aber in den letzten Stunden gelernt hat, dass nur Eines ihr Überleben sichert, und zwar: Einen kühlen Kopf zu bewahren. Nein: Sie hatte sich in der Zwischenzeit schon längst mit dem Bleichen Peppi arrangiert und spielt, dass sie in Geiselhaft genommen worden ist. Sie will ihren Siegi auf die Probe stellen. Auch dieses Szenario wäre denkbar.
XXIII
Heute Morgen hatte er mit ihr einen Streit gehabt. Einen absolut sinnlosen Streit.
„Glaubst du etwa, dass das wirklich ich war? Das glaubst du nicht im Ernst, oder?“
Er hatte sich eben eine Zigarette angezündet. Er sah sein Vorhaben, nicht mehr rauchen zu wollen, um seine Gesundheit zu schonen, als gescheitert an. Nicht einmal dazu hat seine Disziplin gereicht. Es war demütigend. Miranda hatte allen Grund, ihn als einen schwachen Mann zu sehen. Es war seine erste an diesem Morgen, und wie immer nach der ersten Zigarette schwindelte ihm so, dass er sich setzen musste.
Wer sonst soll es gewesen sein? hat sie den Faden wieder aufgenommen. Lassen wir es dabei!
„Was lassen? Dieses Bild, das du von mir hast, so stehen lassen? Das könnte dir so passen“, sagt er jetzt, obwohl er das eigentlich gar nicht sagen hat wollen. Aber er hatte es gesagt. Und schon war er da, der Streit, den er heute unbedingt vermeiden hat wollen. S hatte anderes um die Ohren, von dem sie nichts wusste; nichts wissen durfte.
Dabei hat dieser Morgen friedlich begonnen. Sie war wie immer vor ihm aufgestanden, hatte den Kaffee zubereitet und einen üppigen Tisch gedeckt. Ihre blonden Haare waren noch nass von der Dusche und kringelten sich um ihre Stirn, was ihr ein keckes, beinahe jugendliches Aussehen schenkte. Beim Frühstücken hatte sie ihm ihren Traum erzählt und ihn gefragt, ob er für diese Bilder eine Deutung wüsste.
Ihr Traum handelte vom gleichen Traum, in welchem auch SS gefangen war.
Stell dir vor, mich haben zwei Männer gekidnappt, mir ein Leukoplast über den Mund gepickt und mich wie ein Paket zusammengeschnürt. Dann haben sie mich die Stiege hinuntergetragen, und du bist danebengestanden und hast mir nach gewunken wie einer von den Teletubbies.
„Was habe ich? Gewinkt?“, fragt SS.
„Wie man jemandem zum Abschied winkt“, hat sie gesagt. „Seelenruhig hast zug’schaut, wie’s mich abschleppen.“ Ja, da gab es eigentlich nicht viel zu deuten. SS hat sie im Stich gelassen. Wieder einmal. Ihr droht Gefahr und ihm ist nichts Besseres eingefallen, als zu winken. Sieht ihm ähnlich.
„Wie hab‘ ich denn dreing‘schaut?“, wagt er einen letzten Versuch. Es hätte ja sein können, dass sie auf seinem Gesicht so etwas wie Schrecken oder gar Entsetzen hat ablesen können. Das hätte das Bild von einem lediglich winkenden Mann etwas entschärft.
„Vielleicht habe ich auch nur wild gestikuliert, weil ich dir helfen wollte, aber nicht wusste wie“, versucht es SS noch einmal. „Vielleicht wollte ich dir ein Zeichen geben. Nein?“
„Teilnahmslos gewinkt hast du. Doch, das hast du“, sagt sie kauend. „Seelenruhig zug’schaut, wie’s mich abschleppen.“, wiederholt sie. „Du warst absolut teilnahmslos. Gleichgültig. Gleichgültig für fast alles. Wie immer, wenn es nicht gerade um dich geht.“
„Das war doch nur ein Traum. Siehst du mich wirklich so?“
Sie schwieg.
Zustimmung also.
Eine hauchdünne Membran ist es, die das, was wir für Wirklichkeit halten von dem trennt, was einen Traum zu einem Traum macht oder eingebildet ist und nur in unsrer Vorstellung möglich. Wie es zu dieser Verzerrung der Wahrnehmung gekommen ist, bleibt beiden ein Rätsel.
XXIV
Jetzt – nachdem ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse des Park § Ride gewöhnt hatten, hört sie, wie der Typ, der sie gefesselt hatte, ruft: Du machen, was Boss sagen, und sie nicht tot.
Und er? Was macht er? Anscheinend nichts. Bleibt einfach im Auto sitzen.
Das Seitenfenster des zweiten Carrera wird heruntergekurbelt und eine Stimme, zu der es noch kein Gesicht gibt, befiehlt, – diesmal in lupenreinem Deutsch: Zuerst den Wagen starten, dann die Heckscheibenheizung anstellen und dann mit einem metallischen Gegenstand unter dem Armaturenbrett den Stromkreislauf schließen! Verstanden? Siegfried Samsa tut, was und wie ihm geheißen. Im Kofferraum macht es Klick. Der bleiche Peppi – und es konnte nur der bleiche Peppi sein – befiehlt: Jetzt aussteigen. Ganz langsam. Hände hochhalten. Ja, so ist es richtig. Jetzt den Kofferraum aufmachen. Siehst du die Mulde unter dem Reserverad? Gut. Das Auto verfügt serienmäßig nicht über eine Mulde für ein Reserverad, musst du wissen. Die habe ich nachträglich einbauen lassen. Hat viel Holz gekostet. Die Absperrung ist offen. Was siehst du?
Er sieht Amanda. Cola Charly hat sie von den Kabelbindern befreit und ihr das Leukoplast vom Mund gerissen. Sie drischt auf ihn ein. Cola Charly lacht. Die Mulde unter dem Reserverad ist randvoll mit 100€ Scheinen.
XXV
Der Traum schien kein Ende zu nehmen. Ein luzider Traum vielleicht, wo man mit einem Auge schläft und träumt und mit dem andern wachbleibt? Oder eine Halluzination als toxische Nebenwirkung von Macusan, Atorvastatin, Clapidogel und Trombo Ass und dem ganzen Mix aus Tabletten, die Siegfried Samsa mit dem Kaffee am Morgen einnimmt, um einen Bypass zu verhindern … In seinem Traum nämlich hört er einen Schuss. Zuerst einen und dann mehrere. Mitten in die Schüsse hinein brüllt eine durch Megaphon verstärkte Stimme: Aufhören! Aufhören! Nicht schießen! Verdammt noch mal. Wer hat gesagt, dass jetzt schon geschossen wird? Geschossen wird, wenn ich es sage, und nicht früher. Verstanden? Die ganze Aufnahme im Arsch. Und du? sagt er aufgebracht zum Bleichen Peppi, der in seinem Brotberuf Installateur ist, aber aufgrund seiner Visage als Protagonist eine Hauptrolle bekommen hatte. Hast du das Drehbuch nicht gelesen?
Zu Silvia, die Miranda spielt: Wer hat dir gesagt, dass du dem Samsa alias Gernot eine schmieren sollst?
Silvia: Wo steht im Drehbuch, dass ich an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt und mit einem Leukoplast über dem Mund in einem Kofferraum liegen soll? Ich sitz doch eigentlich im Auto vom Hermann, dem Bleichen Peppi, weil ich mir mit ihm die Beute teil. Der Siegi weiß nichts von dem Deal.
Regisseur: Ich weiß nicht, welches Skript du gelesen hast, aber meines ist es nicht. Aber meinetwegen. Du sitzt im Wagen vom Hermann. Siegi fragt, wo du bist, und was sie mit dir angestellt haben. Dann steigst du aus und sagst, was er tun soll. Am Schluss steigt der Hermann, der Bleiche Peppi aus und ihr küsst euch. Kamera auf das Gesicht von Gernot. Ich mein, von Siegfried Samsa. O.K? Von dort weg noch einmal. Aufstellung. Jeder auf seine Position. Und zu Gernot: War gut. Ich meine, wie du dich dummgestellt und so getan hast, als wüsstest du um das raffinierte Versteck nicht. Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Genauso eins musst du jetzt wieder machen, wenn Silvia den Bleichen Peppi küsst, ja?
XXVI
So oder ähnlich würde das Geschehen in einem Drehbuch abgehandelt und dann, nachdem Location-Scouts die Drehorte festgelegt haben, in Szene gesetzt werden. Aber es ist kein Film. Das wird ihm spätestens jetzt klar, als er die Klinke in die Hand nehmen, sie niederdrücken und die Kraft aufwenden will, die es braucht, eine sichtbar schwere Tür mit in die Mauerlaibung versenkter Zarge aufzumachen; aber es ist keine Tür; er steht vor einer Wand aus lichtdurchlässigem, aber zentimeterdickem Klarglas und kann nichts tun außer Warten, bis sie sich von selbst öffnet.
Auf der rechten Wandseite ist noch eine Glastür. Dahinter ein Stiegenaufgang. Auch sie hat wie die Eingangstür keine Klinke, öffnet aber nicht, wenn er sich vor sie stellt. Auf Kniehöhe eine Klingel mit eingebauter Vorrichtung zur elektromagnetischen Schlossfallen-Entriegelung. Er drückt die Klingel. Nach kurzem Schweigen ertönt über Lautsprecher eine weibliche Stimme, die ihn nach seinem Begehr fragt.
„Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben!“, sagt er nach einer Schrecksekunde. Da die Gegensprechanlage in den auf Kniehöhe angebrachten Türöffner eingebaut ist, bückt er sich, um gehört zu werden.
Zweiter Stock, Tür 13, ist die kurze Antwort. Es ist eine Stimme ohne jede Modulation, wie sie von Sprechpuppen oder computergenerierten Stimmen in Bahnhofdurchsagen zu hören ist. Könnte das sein?
Er steht vor der Glastür und wartet. Nichts. „Hab‘ ich die Türöffnung versäumt? Das hätte ich aber hören müssen. Er betätigt also wieder die Klingel und bückt sich hinunter zur Gegensprechanlage. „Warum muss ich als Bürger mit einem eiligen Anliegen diese Demutshaltung einnehmen? Genügt es nicht schon, mich warten zu lassen?“ In diesem Augenblick fragt eine Polizistin hinter der Glaswand im Vorbeigehen:
„Bekommen Sie’s schon?“
Sigi Samsa dreht sich um. Ja. Nein!“ stammelt er.
Dann ist es wieder still. Eine Fliege kriecht über das Glas, hält inne, kriecht weiter. Sie ist das einzig Lebendige in diesem Raum.
XXVII
Als er die Schleuse im Hochsicherheitstrakt verlassen will, nachdem er vergeblich versucht hatte, seine Anzeige aufzugeben, geht die Tür nicht auf. Auch ein seitlich angebrachter Türöffner reagiert nicht.
Dann geht alles sehr schnell. Schneller als er denken kann. Gernot wird – eskortiert von 2 Robocops mit Vollvisierhelmen – in den Verhörraum gebracht.
Gesichtserkennungssoftware hat ihn als international gesuchten Verbrecher identifiziert – so die Begründung seiner Festnahme. Vorbeugehaft. Seit Monaten wartet er auf eine Verhandlung. Die für solche Verfahren zuständige MA 735 aber – erfuhr er von mit ihm einsitzenden Kolleg:innen, um einmal dort zu gendern, wo es vollkommen unsinnig ist, da es ausschließlich Männer sind, denen solch ein Schicksal zugemutet wird – die MA735 nämlich hatte dichtgemacht. Zu viele Anträge! heißt es. Zu wenig Beamte. Die wenigen, die nicht einmal mehr zu einem Dienst nach Vorschrift imstande waren, in einen hundertjährigen Schlaf geflüchtet. Zentimeterhoher Staub auf den Ordnern, auf den Screens, auch auf den Telefonen. Seit Monaten hatte niemand mehr abgehoben. Nach und nach wurde das Warten etwas, das immer schon zu seinem Leben gehört hatte. Fast war er versucht zu glauben, es sei das Leben selbst. Er erledigte seine täglichen Aufgaben. Seine Schilderungen wirkten auf mich, wie die eines Vertreters einer Zukunft, der eine bessere Vergangenheit kannte, weil er älter war als die nachfolgende Generation, die keine mehr zu haben scheint. Das lenkte ihn ab, während das, worauf er wartete, nicht eintrat. Dann eines Tages war es so weit, dass er nicht mehr wusste, worauf er gewartet hatte.
Er hatte endlich Gewissheit. Nicht er war der Architekt seiner Wirklichkeit. Er war nur der Polier. Zuständig für alle Pannen, verantwortlich gegenüber einem Auftraggeber, der sich nie blicken ließ. Aber das erste Mal nicht mehr bereit, die Schuld auf sich zu laden oder zu glauben, dass er in die Welt gekommen war, sie zu retten. Bis heute gilt er als vermisst. Er hatte sich selbst zur Fahndung ausgeschrieben und einen weiten Pass in die noch undefinierten Räume der Zukunft geschlagen.
XXVIII
Ps.: Meine Kaufentscheidung bei Büchern habe ich oft vom Inhalt der Klappentexte abhängig gemacht, oder, wenn die Bücher noch nicht foliert waren, von den ersten Sätzen. Folgende Sätze in einem Buch, das im Selbstverlag und ganz ohne ISDN erschienen ist, haben mich sofort in Bann geschlagen. Manchmal führt der Zufall mich an Orte, die zu betreten oder mich in ihnen aufzuhalten, ich eigentlich keine Absicht hatte. So auch heute Morgen. Es war das erste Mal, dass ich nicht die U-Bahn nahm. Ich hatte Zeit und ging zu Fuß. Obwohl ich den Weg zur Arbeit schon oft zu Fuß zurückgelegt hatte, war mir die Brücke nie aufgefallen. Sie führte über Geleise, die an ihrem Ende in einen Kopfbahnhof mündeten. Der Bahnhof war menschenleer. Das einzige Geschäft, das um diese Zeit offen hatte, war ein Buchladen. Vor ihm eine Wühlkiste. Ich griff hinein, nahm ein Buch und las den Klappentext:
„Von diesem schon etwas fortgeschrittenen Morgen erwartet er sich genauso wenig, wie von dem, der ihm folgen sollte, falls er ihn überlebt. Siegfried Samsa leidet zwar nicht unter dem Asperger-Syndrom, aber er hat mit zunehmendem Alter ein immer größer werdendes Problem damit, soziale Empathie zu entwickeln…“
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Dietrich von Bern
Posted at 19:12h, 20 FebruarSehr amüsant, besonders die Einsprengsel aus dem wirklichen Leben! Am Schluss ein bissl die Lesegeduld verloren, aber so ist es bei allen längeren Texten, die man am Bildschirm lesen muss – die Zeilenlänge ist einfach zu lang und die Augen mögen das Hin- und Herwandern nicht.
Grüße
GG
Helmut Hostnig
Posted at 12:41h, 21 FebruarDanke fürs Lesen und Kommentieren. Ja, kann ich gut verstehen, dass das Lesen auf dem Schirm anstrengend ist. Dass du es aber trotzdem versucht hast, freut mich ungemein.