Florian

Es wird ein Sonntag sein und ich werde – wie immer – mir selbst überlassen sein. Ich werde eine Schachtel Streichhölzer gefunden und sie auf die Tenne mitgenommen haben. Schon beim ersten Versuch wird das Zündhölzchen zerbrechen. Um mich nicht zu verbrennen, werd‘ ich es weit von mir werfen, ohne zu bedenken, dass trockenes Stroh sich schnell entzündet, wenn es mit einer Flamme in Berührung kommt. Innerhalb kurzer Zeit wird der ganze Stadl ein Raub der Flammen sein. Ein günstiger Wind wird die Funken so lange auf den nebenliegenden Stall niederregnen lassen, bis auch dieser Feuer fängt. Ich werde sieben. Sieben Jahre alt werde ich sein, wenn das geschieht.
Wie jeder Wirt in einem kleinen Dorf, wird mein Vater ein wichtiger Mann sein oder sich dafür halten. Seine ganze Leidenschaft wird der Feuerwehr gelten. Das war und wird schon seit Generationen so gewesen sein. Schon sein Vater war Landesfeuerwehrinspektor einer ganzen Region gewesen. Er wird es immerhin zum Hauptfeuerwehrmann der örtlichen Feuerwehr gebracht haben. Da bin ich mir sicher. Sein Ziel wird es sein, denselben Dienstgrad zu erreichen, den sein Vater gehabt hat, und dafür wird er all seinen Ehrgeiz einsetzen. Noch trennen ihn allerdings elf Ränge von diesem Dienstgrad. Um das schnell aufzuholen, was schon sein Vater erreicht hat, wird er jede freie Stunde beim Fuhrpark verbringen, wird die Zielzeit beim Ankleiden der Schutzausrüstung zu unterbieten versuchen oder die Gerätschaften prüfen, die bei einem Brand zum Einsatz kommen werden. Kommen sollten. Denn es wird schon lange nicht mehr gebrannt haben.
Sie werden mich Florian taufen. Mein Vater wird sich gewünscht haben, selbst auf diesen Namen getauft worden zu sein. Nie werde ich wissen, woran ich mit ihm sein werde. Wochenlang wird er mich mit Nichtachtung strafen und dann wieder grundlos sich daran erinnern, dass er einen Sohn hat. So wird er auch mit meiner Mutter umgehen: Erst sie wie Luft behandeln, sie keiner Antwort würdigen, aus dem Haus gehen und nach Tagen zurückkommen mit einem Strauß Blumen und einem Spielzeug für mich und immer in der Erwartung, mit großer Freude empfangen zu werden.
Zwischen Hass und Liebe wird es mich zerreißen. Als Kind gibt es nichts dazwischen. Ich werde ihn hassen, wenn er meine Mutter demütigt, und ich werde ihn hassen, wenn er mich zu Leistungen anspornen will, die ich nicht erbringen können werde. Was immer ich unternehmen werde, es wird zu wenig sein. Nie wird etwas gut genug sein. Seine Enttäuschung, so einen Sohn zu haben, wird mich zermürben, der Entzug und die plötzliche Zuwendung werden ihr Übriges tun, mein labiles Gleichgewicht empfindlich zu zerstören. Ich werde ohne jedes Selbstvertrauen aufgewachsen und großgeworden sein und einer, der sich in sich selbst zurückgezogen hat.
Aber es wird auch Momente geben, in denen das alles vergessen sein wird und ich stolz auf meinen Vater sein werde. So stolz, wie ich hätte wollen, dass er es auf mich ist. Ich werde stolz auf ihn sein, wenn er mich in der Uniform der Feuerwehr auf den Schoß nimmt und meine Freude wird riesig sein, wenn ich die Hände auf das Lenkrad legen darf und er so tun wird, als würde ich das große rote Auto steuern.
Auch wenn es schon lange her ist, immer wieder wird er mir von dem Feuer erzählen müssen, bei dem er einen Bauernhof samt Ställen gerettet und auch das Übergreifen des Feuers auf die Nachbarhäuser verhindert hat. Er allein, weil sein Kumpel die Schutzmaske nicht tragen hätte können aus lauter Angst zu ersticken. Ich bin hineingegangen, mitten hinein in die Flammen, weil vermutet wurde, dass es die alte Resi nicht mehr geschafft hat hinaus. So wird er es auch mir erzählen. Wer wird nicht wollen, dass er so einen Vater gehabt haben wird.
Leider wird das – wie ich schnell herausgefunden haben werde – gelogen sein. Ich bin es nicht, der es herausgefunden haben wird. Das wird leider so nicht stattgefunden haben. Die Buben im Dorf, deren Väter auch bei der Feuerwehr sind, werden mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit auflauern und mich verspotten: Der Florian, der Florian hat Schiss vorm roten Hahn, vorm roten Hahn. Alle im Dorf werden wissen, dass die Geschichte mit der Resi gelogen sein wird.
Nach der Scheidung wird er sich kaum mehr blicken lassen. Meine Mutter wird behaupten, dass er sich eine Neue gefunden habe. Ich werde ihn mit der gleichen Inbrunst hassen, wie ich ihn vermissen werde. Und noch immer wird es Ewigkeiten her sein, dass es wieder gebrannt hat im Dorf und die Feuerwehr hat ausrücken müssen mit meinem Vater im roten Auto.
Vielleicht wird das der Grund sein. Vielleicht wird das der Grund sein. Einen Grund wird es gegeben haben. Es wird immer einen Grund geben. Einer Wirkung wird immer eine Ursache vorausgehen.

Ich werde vor den Flammen stehen, gelähmt, wie in einem Traum, in welchem einer fliehen will, aber die Beine ihm ihren Dienst versagen. Noch nie werde ich so ein Feuer gesehen haben, das mit solcher Wut brennt und immer neue Nahrung zu finden scheint. Ich werde die Augen schließen, nicht etwa wegen des Rauches, – nein, das Feuer wird wüten rauchlos, weil es so gute Nahrung finden wird im trockenen Heu, das noch vom letzten Winter in der Scheune liegt – ich werde die Augen schließen, weil mich meine Sinne zum Narren zu halten scheinen, mir mit geschlossenen Augen prasselnden Regen vorgaukeln, ein Element gegen das andere tauschend. Erst, als die ersten Balken krachend zu Boden fallen werden und die Funken in alle Richtungen stieben, das Dach des angrenzenden Stalles Feuer gefangen haben wird und ich die Kühe brüllen werde hören, wird der Bann gebrochen sein und mit ihm die Lähmung, die mich angesichts der Flammen erfasst haben wird.
Diesmal jedenfalls werden beide: die Feuerwehr und mein Vater zu spät kommen. Da wird nichts mehr zu retten sein. Überhaupt ist nichts zu retten, wenn ein Feuer um sich gegriffen hat und die Wirkung einer Ursache eintritt, selbst wenn diese weit zurückliegt und nicht mehr auszumachen sein wird.
Tage werde ich warten. Wochen. Das Warten wird schlimmer sein als jede Strafe, die ich mir ausgedacht habe. Das Warten wird mich krank machen. Wochen werde ich in meinem Zimmer liegen, auf die Decke starren und nicht mehr auf der Welt sein wollen, die Nahrungsaufnahme verweigern, weil ich das zugelassen habe.
In einem meiner Fieberträume aber wird mein Vater an der Bettkante sitzen und sagen: Ich weiß, warum du das getan hast. Dann wird er mir die klatschnassen Haare aus der Stirn streichen und bleiben wird er, bis ich wieder eingeschlafen bin.
Am nächsten Morgen werde ich wieder gesund sein, weil ich mir das alles nur eingebildet habe, auch, dass ich noch nicht geboren bin und dieser Sonntag in einer fernen Vergangenheit spielt.

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