
02 Mai Kalabrien: Vero Sud
Beim Einchecken am Flughafen Wien wurde ich auf Sprengstoff abgetastet. Was an meinem Äußeren, hab ich mich gefragt, lässt einen solchen Verdacht aufkommen?
In 2 Stunden mit Ryanair (Lauda) von Wien nach Lametzia Terme. Kann mich noch erinnern, wie gut man früher selbst bei bei solch kurzen Flügen versorgt worden ist. Heute nicht einmal mehr Wasser – außer man kauft es. Nach Ankunft umsteigen in einen Bus zum Hauptbahnhof, um mit dem Zug nach Tropea zu gelangen, der ersten Stadt an der Küste des Thyrrenischen Meeres, von der aus wir wandernd von Tropea über Capo Vaticano bis nach Reggio di Calabria gelangen wollen.
So der Plan. 10 Unterkünfte in 12 Tagen von A nach B und C usw. Nie mehr als 7 bis 12 km täglich mit Gepäck am Rücken. Wenn es uns zuviel wird, gibt es ja Bus oder Bahn und, wenn alle Stricke reißen, ein Weiterkommen mit Autostopp. Ein durchaus ambitionierter Plan: erstellt – ich muss es leider zugeben von einer KI – und dabei die Warnung ignorierend, dass Fakten, Zahlen oder Ratschläge durch zuverlässige Quellen bestätigt werden sollten. Der KI blind vertrauend, hat sich bald herausgestellt, dass es weder die beschriebenen Götterwege gab, noch die Entfernungen stimmten und einmal sogar die Richtung nicht. Aus A nach B und nach C und weiter nach D wurde ein A nach B nach C und D und wieder zurück nach einem Ort zwischen A und B. und am nächsten Tag weiter nach D. Die schon vorgenommene Buchung ließ ich sausen. Nicht wieder zurück. Auf keinen Fall. Warum hab ich mir das nicht auf der Karte angeschaut. Doch hab ich. Ließ mir sogar eine anfertigen, damit ich’s schön vor mir habe die linear fortschreitende Wanderung von A nach Z. Dass Palmi nicht zwischen Scilla und Reggio di Calabria, sondern zwischen Nicotera und Scilla liegt, war mir so entgangen.
Soviel dazu. Die KI hat mich ganz schön blamiert. Selbst schuld. Da die KI Modelle, wie ich gelesen habe, an ihre Grenzen gestoßen sind, nachdem sie die verfügbaren Daten im Netz geplündert haben, müssen sie sich mit ihren eigenen Ergebnissen trainieren. Wenigstens hat sie mich mit Hintergrundwissen über diese Region Italiens versorgt.
Es waren weniger die Palmen, die uns wissen ließen, dass wir uns im Süden Europas befinden, sondern die Tatsache, dass der Bus-Chauffeur, weil er es eilig hatte und den Fahrplan einhalten wollte, plötzlich keine Tickets mehr ausstellte und mit wilden Gesten alle noch Wartenden aufforderte, im Bus Platz zu nehmen. Wäre in nördlicheren Gefilden undenkbar. Trenitalia ist verglichen mit der Deutschen Bahn an Pünktlichkeit nicht einmal von der Schweiz zu unterbieten. Ganz zu schweigen von den Preisen.
Die einstündige Zugfahrt nach Tropea erlaubt uns, uns auf Meer und Vegetation, aber auch auf die Einheimischen einzustimmen. Oliven-, Zitronen- und Orangenhaine links und rechts in Ufernähe ein smaragdgrünes Meer. Weit draußen der Vulkankegel des Stromboli – in der Entfernung so blau wie das Meer selbst, als würde sich am Horizont ein Wellenberg auftürmen, mythische Kulisse der homerischen Irrfahrt zwischen den Äolischen Inseln, behaust von Riesen und Sirenen. Kaum diesen entronnen drohte die Gefahr, am Eingang der Straße von Messina von Carybdis oder Skylla (Scilla) verschlungen zu werden. Odysseus hat sich für das kleinere der beiden Übel entschieden und einen Teil seiner Mannschaft geopfert.
So beginnt der 10. Gesang:
Und wir kamen zur Insel Äolia. Diese bewohnte
Äolos, Hippotes‘ Sohn, ein Freund der unsterblichen Götter.
Undurchdringlich erhebt sich rings um das schwimmende Eiland
Eine Mauer von Erz, und ein glattes Felsengestade.
Tropea, das die Einheimischen wie Tropeia aussprechen, empfing uns mit herrlichem Wetter. Es ist eine kleine auf Sandsteinklippen erbaute Stadt mit einer Geschichte, die noch vor der griechischen Antike begann. Sie spiegelt mit ihren engen Gassen, die sich immer wieder zu kleinen Plätzen öffnen, ihren Palästen und Kirchen die Einflüsse aus griechischer, römischer, byzantinischer, normannischer und später spanischer Herrschaft, die aufgrund der Ausbeutung durch feudale Großgrundbesitzer, aber auch durch See- und Erdbeben den Niedergang der Region herbeiführten, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Nicht nur Tropea, die ganze Region liegt an der afrikanisch-europäischen Plattengrenze mit hohen Spannungen. Das Erdbeben von 1905 zB. kostete 5000 Menschen das Leben und hat große Schäden an der mittelalterlichen Bausubstanz in der ganzen Region bis hinunter nach Reggio di Calabria angerichtet.
Tropea ist eine Stadt, die es den sarazenischen Piraten, die zwischen dem 9. und 11. Jhdt. die Küstensiedlungen terrorisierten, schwer gemacht haben, sie vom Meer aus wegen der 40 Meter hohen Steilküste und den wehrhaften Anlagen einzunehmen. Trotz ihrer Wehrhaftigkeit wurde aber auch sie von den muslimischen Korsaren überrannt und ihre Bewohner versklavt. So kam es, dass die Küstenbewohner ins gebirgige Landesinnere flohen, um sich dort in Höhenlage in den sogenannten Borghis niederzulassen, die heute mit ihren schmalen Gassen, dem Verfall preisgegebenen Steinhäusern, alten Kirchen, Burgen und Stadttoren wie eingefroren in der Zeit wirken. Erst die Normannen mit Kaiser Friedrich II brachten im 11 Jhdt. relativen Frieden in die Region. Kaiser Friedrich II nahm an den Kreuzzügen nicht teil. Verbündete sich sogar mit dem muslimischen Byzanz. Sehr zum Missfallen seines Sohnes, den er deswegen auf der mittlerweile verfallenen Burg in Lamezia T. Nicastro gefangen hielt. In den Ortsnamen, der normannisch-staufischen Architektur, aber auch in den lokalen Gerichten (rote Zwiebelmarmelade oder Pasta) lassen sich noch Spuren der arabisch-byzanthinischen Kultur finden. In diesen „malerischen“ Bergdörfern – schmückendes Beiwort für die dem Vergessen anheimfallenden Siedlungen – gibt es solche, in denen noch das Grecanica, das Altgriechisch aus der Zeit der Magna Grecia vor 2500 Jahren gesprochen wird.
Bei einem Spaziergang durch die Stadt, bei dem wir immer wieder zu Aussichtsplattformen gelangen, die am Abend spektaktuläre Sonnenuntergänge bieten, aber auch einen Blick über die im Sommer vermutlich überlaufenen Sandstände mit der auf einer Klippe errichteten normannischen Chiesa degli Isola freigeben, dem Wahrzeichen der Küstenstadt, wird klar, dass der Tourismus als Wirtschaftszweig die Abwanderung und Landflucht aufgrund von Rückständigkeit, Korruption und Mafia (Ndrangeta) zwar nicht rückgängig, aber zumindest aufhalten hat können. Die Menschen, die hier noch leben und nicht ihre Wohnungen als AirBnb für die Touristen aufgegeben haben, sind sehr freundlich. 400 solcher Unterkünfte und 160 Hotels lassen erahnen, wie es hier im Sommer zugehen muss. Morgen wollen wir uns zu Fuß nach Capo Vatikano und zur Unterkunft auf dem Weg dorthin aufmachen. Sind schon neugierig, wie weit wir kommen. Es sind immerhin 11 km mit Gepäck auf dem Rücken. Eigentlich war es die Aussicht auf ähnlich schöne Wandertouren, wie wir sie letztes Jahr an der Amalfiküste auf dem Sentiero degli dei unternommen haben, die uns zur Reise nach Kalabrien ans Ende des Stiefels verleiten ließ.
Wie sich schnell herausgestellt hat, gibt es viele als Götterwege markierte Wanderrouten, die aber an die von Bomerano nach Positano in Kampagnien nicht herankommen. Ohne GPS und gute Karten sind die sogenannten Götterwege nicht zu empfehlen. Auf den Landstraßen, für deren Instandsetzung das Geld zu fehlen scheint, gibt es kaum Ausweichmöglichkeiten, wenn Autos im hohen Tempo an dir vorbeirasen. Über die Sandstrände und den schmalen, felsigen Pfaden entlang der Küstenlinie mit Gepäck unterwegs zu sein, verlangt eine körperliche Verfasstheit, auf die zu Fuß Gehende sich in wochenlangem Training vorbereiten müssten. Sich die Rucksäcke von Unterkunft zu Unterkunft mit einem Gepäckservice transportieren zu lassen, war uns das Geld zu schade. So beschlossen wir – auch, weil wir gesundheitlich angeschlagen waren, es lieber für gutes Essen auszugeben, auf die von mir schlecht geplanten Touren zu verzichten und dafür den Zug zu nehmen. In den Küstenstädten gibt es genug zu sehen. Da sie meistens auf Klippen gebaut sind, sorgen die nach oben führenden engen Gassen und Treppenwege für genügend Bewegung und ersetzen so das geplante Wandern mit Rucksack.
Pizzo erschloss sich uns erst am zweiten Tag. Das aragonesische Schloss, das senkrecht zur Klippe abfällt und in der zweiten Hälfte des 15. Jhdts erbaut wurde, wirbt mit der Geschichte eines Mannes, der Murat hieß, König von Neapel und ein Schwager Napoleons war. Nach einem misslungenen Putschversuch und einer fünftägigen Haft, in welcher er zum Tode verurteilt wurde, befehligte er selbst das Erschießungskommando. Mein Gesicht zu retten, zielt auf das Herz! sollen seine letzen Worte gewesen sein. Er wusste, wie man gewinnt, er wusste, wie man Herrschaft ausübt und er wusste, wie man stirbt, erinnnert eine Gedenktafel an diesen „mutigen“ Mann. Die szenografische Darstellung seines Prozesses und seiner Hinrichtung mit Schaufensterpuppen in Lebensgröße haben wir ausgelassen. Stattdessen haben wir den mühevollen Aufstieg vom Meer die steilen Treppen hinauf in die Stadt gewagt und von dort aus den Blick über die Dächer und das Meer schweifen lassen. Weil sich das Wetter eingetrübt hat und das Sitzen in einem Straßencafe, von dem aus das Treiben der vornehmlich Einheimischen zu beobachten war, die mindestens schon 20 Mal an uns vorbeiflaniert sind, um selbst zu schauen und gesehen zu werden, keine Tagesbeschäftigung sein kann, haben wir uns mit Nahrung eingedeckt und haben uns in unsere leider weit von der Stadt entfernte Unterkunft begeben.
Wenn Pizzo als Perle Kalabriens gilt, was erst müsste dann über Scilla gesagt werden. Scilla ist ein malerisches Fischerdorf, das sich in drei Zonen die Touristenströme teilt. Da ist zum Einen Chianela, das mit seinen direkt ins Meer gebauten Häusern und engen Gassen, über die sich Wäscheleinen spannen, an Venedig erinnert. Dort und am Spiaggia di Scilla mit seinem elfenbeinweißen Sand und dem kristallklaren Wasser mit Blick auf die Liparischen Inseln wird flaniert, ein Espresso getrunken, den Fischern zugeschaut, die ihre Boote kalfatern, oder man legt sich in den Sand, um den anrollenden Wellen zu lauschen oder sich zu dieser Jahreszeit schon ins Wasser zu wagen. Am Abend dann im höher gelegenen Scilla Centrale mit seiner normannischen Burg in einer der Trattorias sich eine Spada alla ghiotta (Schwertfisch in Tomaten-Kapern-Sauce) leisten. Ein Muss, wenn man sich nicht vegan oder vegetarisch ernährt. In einer Strandbar nicht zu empfehlen. Überteuert und selbst mit Beilagen nur appetitanregend. Lieber ein Cordon Bleu. Das grüne Hinterland des Aspromonte mit seinen archaischen Bergdörfern, noch vor wenigen Jahren so unerforscht, dass die Ndringheta sich dort mit den Geiseln unauffindbar zurückziehen konnte, wäre auch noch reizvoll gewesen. Aber ohne Auto nicht zu machen. Das Dorf an der Tyrrhenischen Küste ist kein Ort für Hektik, ein Stück unverfälschtes Italien, das wir – noch hat die Saison nicht begonnen – mit allen Sinnen genossen haben.
Un luogo dove il tempo si dimentica di correre…“ (Ein Ort, an dem die Zeit vergisst zu rennen…) So wird für Nicotera geworben, das auf der zweiten Silbe betont ausgesprochen wird. Das historische Herz der Altstadt mit den kopfsteingepflasterten Gassen, versteckten Innenhöfen, seiner in der Nähe des Castello Ruffo gelegenen Giudecca, seinem jüdischen Viertel, das wie in allen Küstenstädten Kalabriens zwischen dem 10. und 16.Jhdt. voller Leben war, auch, weil die Juden zB. vom Stauferkaiser Friedrich II als Vermittler zwichen arabischer, griechischer und lateinischer Kultur gefördert und mit Schutzbriefen ausgestattet wurden. Die Küste Kalabriens verband Sizilien, Neapel und den Orient – jüdische Netzwerke waren für die Feudalherren wertvoll.
Die Spiaggia di Nicotera Marina hat zwar lange Sandstrände, ist aber in der Vorsaison so wenig attraktiv wie die Skiressorts in den Alpen im Sommer. Der Unterkunftbetreiber – nicht nur hier – hat uns nicht nur angeboten, uns in die Stadt zu bringen, sondern am Tag der Abfahrt auch auf den Bahnhof – alles Strecken, die nur in beschwerlichen Fußmärschen zurückzulegen sind.
Auch in Nicotera spürt man das Vero Sud – das wahre Italien.
Oft haben wir uns gefragt, warum in den Hauseingängen Plastikflaschen angefüllt mit Wasser stehen oder an Hauswände angelehnt. Wir nahmen an, dass damit die Pflanzen gewässert werden, die in Töpfen gezogen die Straßen schmücken. Komplett daneben. Nein, nein, klärte uns eine Hotelbesitzerin auf: Das geschieht wegen der Katzen, die die Hauseingänge und Hauswände markieren. Die Einwohner glauben, dass es hilft.
Über die letzte Station Reggio di Calabria werde ich einen von dieser Schilderung getrennten Blogeintrag machen. Danke fürs Lesen. I’ll keep you updatet.
Views: 16
No Comments