Das Leben ist tödlich

Oma steht mit der Katze im Arm am Treppenaufgang. Sie stirbt, sagt sie. Sie liegt wirklich wie tot auf ihrem Arm. Nicht wie tot. Wie etwas, das sich alles gefallen lässt, weil es zu kraftlos ist sich zu wehren. Ratlos steht sie da. Sie hebt die Katze hoch, um mir zu zeigen, dass sie nur noch ein wehrloses Bündel ist. Auch ich bin ratlos.

Hier scheint alles zu sterben oder gestorben zu sein. Wenn sie die Zeitung aufschlägt, sind es die Todesanzeigen, die ihr ausschließliches Interesse finden. Wenn ich sie mit dem Auto mitnehme, kennt sie jede Kurve, wo jemand tödlich verunglückt ist. Und hier – sie zeigt auf ein Haus an einer Kreuzung – hat sich die Tochter vom Metzger ins Kühlhaus gesperrt. Am nächsten Morgen macht der Vater auf und findet sie erfroren. Ist das nicht schrecklich? Nach längerem Schweigen: Da vorne hat der Mann von der Hilde nicht mehr bremsen können und ist mit dem Fahrradpedal auf dem Gehsteigrand angekommen. Seither ist er querschnittgelähmt. Das ist für die Hilde ein ziemlicher Schlag gewesen. Wer ist Hilde? Du kennst die Hilde nicht? Ihr Vater ist wie meiner tot vom Stuhl gefallen. Hirnschlag. So schnell kann’s gehen.

Ich stelle mir Hilde vor, wie sie den querschnittgelähmten Mann im Rollstuhl durch die Wohnung schiebt, den Metzger, der seine kühl gefrorene Tochter schultert und aus dem Kühlhaus trägt und hoffe, dass dieses Bilderbuch bald zur letzten Seite findet. Aber weit gefehlt. Die kleine Stadt ein einziger Friedhof. Auf jeder Hauswand scheint ein nur für sie lesbares Schild angebracht, das darauf aufmerksam macht, wer alles und vor allem wie seine Bewohner umgekommen sind. Überall Gedenkstätten. Selbst dort, wo Häuser abgerissen und Flächenwidmungs-plänen zum Opfer gefallen sind.

Da drüben, dort wo das Haus gestanden ist, wo du immer die Milch geholt hast, hat der Bauer – den müsstest eigentlich noch kennen – sein Kind im Rückwärtsgang überfahren. Er hat’s einfach nicht gesehen. Auf so einem Traktor sitzt man so hoch, dass man ein Kind nicht sieht. Es hat gespielt und er hat’s nicht gesehen. Furchtbar ist das. Ich sehe den plattgedrückten Leichnam des Sohnes, auf dessen Haut sich das Profil der mächtigen Traktorreifen eingeprägt hat.

Eigentlich sollte ich das Auto einparken und mich von dem Film erholen, aber wir haben noch eine längere Strecke vor uns, und es gibt – wie ich befürchte – noch einige Marksteine ihrer von tödlichen Unfällen, Morden und Selbstmorden gepeinigten Erinnerungsfähigkeit.

Dort links, siehst du das kleine Haus neben dem Palais? Dort hat die Irmgard gewohnt. Du weißt schon. Die mit dem Baby, das du gewickelt hast. Warst selber ein Kind damals und wolltest es nicht mehr zurückgeben. Was? Du erinnerst dich nicht? Die Irmgard hat einen Herzschlag bekommen. Und das beim Orgasmus. Aber nicht im Beischlaf. Sie hat’s sich selber gemacht.

Ich kann nichts dafür, aber in das Schweigen hinein versuche ich mir auch diese kleine Szene vorzustellen: Eine Frau orgiastisch verrenkt mit dem Finger am Kitzler vom Tod überrascht Wie war das bei ihrer Beerdigung? Wenn es meine Oma weiß, weiß das die ganze Stadt. Trotzdem: Bis jetzt der schönste Tod, wenn dieser diese Eigenschaft verdient.

Meine abschweifenden Gedanken werden allerdings schnell wieder in neue Bahnen gelenkt. Links nämlich am Seeufer steht ein Hotel, das einmal bessere Zeiten gesehen hat. Der Besitzer allerdings wurde – kaum war es fertig – von der 1000 Marksperre überrascht, mit der Hitler damals Österreich in die Knie zwingen wollte – und hat sich im Turmstübchen aufgehängt. Wie lange ist das jetzt her?, frage ich mich. Das muss 1938 gewesen sein. Kurz bevor die deutsche Wehrmacht auch hier einmarschiert ist.

Oma, sag ich genervt, schau, wie schön sich heute die Sonne im See spiegelt. Die Berge zum Greifen nah und kein einziges Wölkchen am Himmel. Das ist nicht gut, sagt sie. Das heißt, dass bald schlechtes Wetter ist. Aber Oma, sag ich, fast schon verzweifelt: Jetzt aber ist es schön. Hast du nicht auch manchmal schöne Erinnerungen? Gibt’s hier denn gar nichts, was dich an was Schönes erinnert? Immer nur Tote, wo ich hinschau’. Aber Bub, sagt sie, So ist das Leben!

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