Verschollen

Es ist wie auseinanderfallen oder in stücke zerbrechen: ein puzzle aus tausend ich, die gar nicht wieder zusammen gesetzt sein wollen. Nein, bitte, nur das nicht. Aber es macht dich unfähig etwas anderes als trauer über einen verlust zu spüren, der sich im selben augenblick ereignet, in welchem du dich darüber zu freuen versuchst. Das klingt komplizierter als es ist. Möglicherweise beschreibe ich einen zustand, den jeder kennt oder zumindest einmal schon erlebt hat. Ein zustand der auflösung, wie man ihn in der fremde erfahren kann, wenn plötzlich alle dir vertrauten koordinaten verloren gegangen sind, und du nur noch deinem selbst ausgeliefert bist, das sich wundert, jemals in dieser welt zurecht gekommen zu sein. Nein: auch von dem, was du dein selbst nennen willst, bist du plötzlich abgeschnitten, als wären sämtliche brücken eingebrochen und kein weg mehr passierbar, der dich – und sei es über eine grüne grenze – wieder zu dir zurückbringt oder zu dem, von dem du glaubst einmal gewesen zu sein. Und das alles ohne irgendwelche drogen, die synapsen kurz schließen oder chemische zusammensetzungen schaffen, die gefühle hervorrufen, die sich schon beim geringsten versuch sie beschreiben zu wollen, schon wieder verflüchtigt haben. Wissen sie, was ich meine? Aber es ist mir egal, ob sie das verstehen, setzt er so schnell hinzu, dass niemand ihn in verdacht haben konnte, seine umwelt für selbstwahrnehmungen interessieren zu wollen.

Seine Umwelt bestand derzeit aus einer Person. Sie war weiß gekleidet, männlich, hatte einen block auf seinen überkreuzten beinen liegen, in den er manchmal mit einem gut gespitzten bleistift von stabilo der härte 4 etwas aufzeichnete. Sein blick war wohlwollend. Nur manchmal verschattete etwas wie ärger seine nussbraunen augen, die ihn wie ein reptil zu fixieren schienen, das sich in der sonne aalen will, aber immer wieder von unvermuteten und nur von ihm wahrnehmbaren geräuschen aufgeschreckt wird. Er wirkt verunsichert, darf es aber nicht zeigen. Gespiegelte hilflosigkeit, die etwas menschliches hatte hinter der gespielten professoralen würde, die sein beruf ihm abverlangt.

Er öffnet das fenster, reißt es weit auf, als wolle er frischen wind in die sache bringen. Aber was war nun sache? So kommen wir nicht weiter!, sagt er, indem er einen kurzen augenblick am fenster stehend verweilt – mit dem rücken zu ihm -, der diese Verämderimg in haltung und stimmlage mit einem verhaltenen triumph zur kenntnis nimmt.  Das klang energisch. Eine standardfloskel, die ein gespräch, wenn man den introspektiven monolog als ein solches erkennen wollte, zu neuen ufern führt oder abbricht. Ebenso energisch, aber ebenso wenig erfolgversprechend wie das rugu-rugu einer taube, die sich balzend im nierosterstahl einer erst kürzlich ausgewechselten dachrinne nieder gelassen hatte. Ein selbstgespräch mit einem fiktiven gegenüber, das erfunden werden muss, wenn nämliches selbst sein dasein aufzugeben droht. Die für verschollen erklärte katze seiner mutter fiel ihm ein. Warum? Vielleicht, weil verschollen genau das wort war, das er gesucht hat. Was im hirn einer in einem tierheim ausgewählten schwarzen katze muss vor sich gehen, dass sie nicht mehr dorthin zurück findet, wo sie endlich einen gesichert scheinenden platz hat, wo nicht nur immer das futter bereit steht, sondern auch streicheleinheiten eingefordert werden konnten, ohne dafür mehr zu tun als einfach nur da zu sein? Verschollen war genau das richtige wort. Er war sich selbst verloren gegangen. Verschollen, um nicht überfahren sagen zu müssen. Etwas, das heranschießt ohne jagd zu machen. Etwas, das sich nicht ankündigt oder nur als geräusch, von dem man nicht weiß, woher es kommt, wer oder was es erzeugt. So wie jemand, der träumt und sich in seinem traum fragt, ob er schläft. So kommt es daher, ist da, und wenn es vorbei ist, ist nichts mehr wie vorher.  Hat ihnen das jetzt weiter geholfen?, will er fragen, aber da ist niemand mehr, der ihm gegenüber sitzt mit überkreuzten beinen, männlich und weiß gekleidet. Das fenster aber ist noch immer offen. Auf dem von einer slowenischen putzfrau erst gestern gebohnerten parkett liegt ein bleistift der marke stabilo mit härte 4. Daneben liegt aufgeschlagen und zum lesen auffordernd der notizblock. Noch immer gurrt die Taube. Die am rand mit löchern und spiralringen eingefassten seiten sind leer. Draußen kreist ein hubschrauber.

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