Codewort „Mama“

Ich weiß nicht, warum, aber mir fällt es einfach schwer, die Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Autobahnen einzuhalten. Nicht, weil ich zuviel PS unter der Haube habe, mehr, weil mich dieser Wald an Ver- und Gebotstafeln einfach ärgert und ich sie gerne als Empfehlungen verstehe. Wenn ich also zu meiner Mutter von Wien nach Bregenz unterwegs bin, könnte ich wegen der Strafmandate genauso gut fliegen oder mir ein Taxi nehmen.

Nicht so bei dieser Fahrt in den Westen und zurück. Ich will dir verraten, warum. Es macht eben doch einen Unterschied, ob es hinterhältig aufgestellte  Blechkästen sind, die blitzenderweise den Tatbestand des Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit registrieren, oder Menschen aus Fleisch und Blut, die in den Uniformen der Gendarmerie Verkehrssündern auflauern.

Wie aus dem Nichts ist er aufgetaucht. Eine Kelle in den Farben der Nationalfahne schießt wie eine Schießscheibe aus dem linken Autofenster und zwingt mich hinter dem jetzt durch Blaulicht als Polizeiauto gekennzeichneten Straßenverkehrs-teilnehmer herzufahren. Ich bin bestürzt, denn ich bin nicht schneller gefahren als alle vor mir. Das aber wird mir als Entschuldigung nichts nützen. Das weiß ich jetzt schon. Er lotst mich zu einem Gendarmerieposten gleich neben einer Autobahnausfahrt. Jetzt bin ich erst 100 km weit gefahren. „Das kann heute teuer werden“, denke ich, als der amtshandelnde Beamte auf mich zukommt. Ich steige aus. In Amerika könnte so eine Handlung tödliche Refelxe auslösen. Binnen Sekunden jedenfalls würde ich breitbeinig und mit auf dem Rücken kurz geschlossenen Händen auf der Kühlerhaube liegen. Aber wir sind in Österreich, beruhige ich mich. Wohl zu viele Roadmovies gesehen.

„War ein bisschen zu schnell, oder?“, frage  ich einleitend, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Ein bisschen ist gut!“, antwortet er barsch. „Führerschein! Zulassung!“ Während er um das Auto herumgeht, krame ich in meinen Hosentaschen nach den Papieren. „Ich bin nur dem vor mir nachgefahren“, setze ich nach. „Pech g’habt!“, sagt er. „Wo wollen’s denn hin?“ „Zur Mama!“, sag ich, „die wohnt in Bregenz.“ Er studiert meine Papiere. Nach einer Weile, in der ich mich frage, wie hoch das Mandat wohl ausfallen wird, brummt er, mir die Papiere wieder aushändigend: „Soso, zur Mama. Da haben’s aber noch einen weiten Weg vor sich.“ Es klingt nun weicher und melodischer als das vor einer Minute noch fast gebellte „Führerschein! Zulassung!“ Er nimmt die Schirmmütze ab, kämmt mit den Fingern das spärliche, aber schweißnasse Haar, und setzt sie wieder auf. „Zur Mama!“, wiederholt er, indem er in eine für mich nicht sichtbare Stube schaut, in der eine verhutzelte Alte mit einem unter dem Kinn verknoteten Kopftuch damit beschäftigt ist, ihrem Bub eine Mütze für den Winter zu stricken.

Nach diesem Bild, das für wenige Augenblicke vor seinem inneren Auge aufgeblitzt sein muss, wendet er sich wieder mir, dem abzumahnenden Verkehrssünder zu, und meint verschwörerisch, indem er nach links und rechts schaut: „Wissen’s wos? Sie geb’n ma jetzn 20 €, i stell ihna a Quittung aus, und wann’s in Zukunft a Schild sech’n, wo 80 draufsteht, dann fahren’s net 120. Homma uns vastand’n?“ Und wie ich verstanden habe. Ich suche seine Hand, schüttle sie überschwänglich und bedanke mich wortreich als wäre ein Lebenslänglich eben ins Gegenteil verkehrt worden. Sichtlich gerührt über seine eigene Großherzigkeit, räuspert er sich verlegen, wünscht mir noch eine gute Fahrt, fährt davon und lässt mich mit einem eingestürzten Weltbild zurück.

Auf der Weiterfahrt grüble ich darüber nach, was ihn umgestimmt haben könnte. Erst als ich an der Grenze im Stau feststecke und dieser Frage daher ohne Ablenkung durch Überholmanöver nachgehen kann, finde ich die – einzig gültige und eigentlich naheliegende – Antwort. Es muss das Zauberwort „Mama“ gewesen sein.

Nach der Grenze und kurz vor dem Ziel habe ich Gelegenheit, diese These zu verwerfen oder noch einmal empirisch zu stützen. Die Kupplung nämlich hat mitten auf einer Kreuzung ihren Geist aufgegeben. Mit meinem Sohn schiebe ich das Auto aus dem noch immer gestauten Verkehr auf den Gehsteig. Während er seine Freunde anruft, um sich über seinen Vater und das Auto auszulassen, verständige ich den Pannendienst. Leider bin ich kein Mitglied, aber –  so wird mir versichert -, wenn ich Mitglied werde, kostet mich der Ersteinsatz um beinahe 15 € weniger. Nach fast zwei Stunden ist der Pannendienst da.  Der Fahrer  setzt sich in mein Auto, dreht den Zündschlüssel um, betätigt die Kupplung, legt den Gang ein, stellt auf Leerlauf und meint: „Des Auto hot nix. Des fahrt. Aba des ka scho passiera, wenn ma im Schtau stoht und viel kuppelt. Denn wartet ma halt a klele und denn goht a wieda.“  „Super, sag ich, „und dafür zahl ich jetzt 106 €, wenn ich ein Mitglied werde. Wissen’s – und jetzt verfalle ich in den Dialekt meiner Kindheit, um den Herkunftsbonus auszuspielen – i bi ufm Weag zu mina Muatta gsi, wia des passiert isch. Die wohnt do nit wit vo do.  Zerscht da Schtau und jetz des.“ Er schaut auf das Wiener Kennzeichen, dann auf mich, und dann in eine weite für mich nicht sichtbare Ferne, vermutlich der Bregenzer Wald, wo in einer Stube mit Puppenfenstern so klein und unter einer niederen Holz getäfelten Decke eine noch nicht verhutzelte, sondern nur vom entbehrungsreichen Leben gezeichnete Frau am Herd steht, um für ihren Bub Spätzle zu machen, und zwar handgefertigt und mit einem Sieb über kochendem Wasser, wie er es eben mag, der Bub.

Nach diesem Bild,  das vor seinem inneren Auge für Bruchteile von Sekunden aufgeblitzt sein muss, wiederholt auch er: „Zua Muatta. Wissen’s was? Sie ruf’n jetz 120 a und säg’n, dass i gea net do gsi bi.  So macha ma des, oda?“ Natürlich und ohne Oder. So machen wir das. Ich zahle ihm 15 € und er fährt davon. Bingo. Der empirische Beweis ist erbracht. Nicht mit dem Hut in der Hand, sondern mit dem Zauberwort „Mama“ auf den Lippen kommt man durchs Land. Da hat er wieder was gelernt mein Sohn. Diesen Unterricht gibt’s in keiner Schule.

Naja, man muss auch wieder zurück, und da stehen noch immer diese vielen Schilder, die ich so gerne übersehe oder eher als Empfehlungen verstehe, und wieder schwenkt jemand diese blöde Kelle und holt mich aus voller Fahrt auf den Pannenstreifen und im Schritttempo auf einen Parkplatz um seines Amtes zu walten. Ob das noch einmal gut geht? Mein Sohn bezweifelt das.

„Führerschein! Zulassung!“, bellt er ziemlich unfreundlich. „Sie wissen aba scho, dass sie z‘ schnell g’fahren sind“, brummt er, während er meine Papiere studiert. Jetzt, denke ich, ist der Augenblick der Wahrheit, und ich kann ein für alle Mal beweisen, dass es nur dieses Codewortes „Mama“ bedarf, um die brenzligsten Situationen im Umgang mit Amtspersonen zu meistern.  „Wissen’s“, sage ich, „ich bin auf dem Weg zu meiner Mama“ „Soso“, wiederholt er im gleichen Tonfall: „Auf’m Weg zur Mama!“ Mehr nicht. Aber er sagt das irgendwie belustigt. Dann fragt er: „Wie viele Mütter hobn’s denn, Herr (… im Ausweis blätternd …) Herr Hostnig?“ Jetzt erst fällt mir wie Schuppen vom Anzug, dass es der gleiche Gendarm ist, der mich schon auf dem Hinweg aufgehalten hat.

Wie das ausgegangen ist? Wie’s Hornberger Schießen. Mein Sohn jedenfalls hat über diesen Schulefürslebenunterricht sich vor Lachen kaum mehr eingekriegt.

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4 Comments
  • chb
    Posted at 14:34h, 23 August Antworten

    vermutlich muss mensch so mama sagen können wie du. habe mich köstlich amüsiert. mal sehen wie lange „mama“ noch funktioniert, ehe alle geschwindigkeitsüberprüfungspersonen deine geschichte kennen:))

  • Helmut Hostnig
    Posted at 13:41h, 16 August Antworten

    Liebe Erny

    Da hast du vermutlich recht. Die Geschichte funktioniert nur in einer Mutter – Sohn Beziehung. Aber gibt es nicht auch in Frankreich eine andere Bezeichnung für Mutter? Gibt es nur mere?
    LG Helmut

  • Erny
    Posted at 19:18h, 15 August Antworten

    Nun bin ich fast schon etwas zu alt, um zu sagen „ich fahr zum Papa“ …. doch wer weiss ?
    Das ist aber wahrscheinhlich nicht dasselbe, wenn die Tochter „zum Papa“ fahrt. Da habt ihr Männer einen Vorteil, die Suche nach der „Mama“ ?
    Jedenfalls ein typisch österreichischer Text (für mich fast exotisch).
    ERNY

  • Ingrid
    Posted at 09:49h, 15 August Antworten

    Herrlich, Helmut, habe viel gelacht.
    Mamma mia.

    LG Ingrid

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