Nuevo Laredo: La casa del Migrante

Früh am Morgen mache ich mich auf den Weg. Jetzt kenne ich ihn ja schon und weiß, was mich erwartet. Hoffentlich klappt es heute mit den Interviews. Obwohl es schon wieder oder noch immer regnet, verspricht der Tag freundlicher zu werden, und das bunte Leben, das ich am Sonntag so vermisst habe, findet tatsächlich statt. Ich gehe in ein Cambio und tausche Dollar gegen Pesos. Heute will ich mich nicht lumpen lassen und mich für die Gastfreundschaft von gestern revanchieren. Ich nehme ein Taxi, das mich in die Montessori-Schule bringt. Dort herrscht Hochbetrieb. Diana und Julian wieseln – das Handy  zwischen Kinn und Schulterblatt eingeklemmt – im Haus herum, und entschuldigen sich, dass sie wenig Zeit haben, aber eben dabei sind, alle Termine zu koordinieren. Ich lasse mir in einer der Bretterbuden auf der gegenüberliegenden Seite einen starken Kaffee brauen und übe mich in Geduld. Sie wird heute noch des öfteren auf harte Proben gestellt, aber es wird sich am Ende des Tages mehr als gelohnt haben.

Mit wechselnden Fahrern, die mich von einem Interviewpartner zum andern durch Nuevo Laredo bis in die Außenbezirke kutschieren, wo die Maquiladores (hauptsächlich Autozubehörproduktion) und die strom- und wasserlosen Unterkünfte der ArbeiterInnen (25 $ Wochenverdienst) angesiedelt sind, verbringe ich den wohl interessantesten, aber auch bedrückendsten Tag meiner Reise.

Der Bandenkrieg zwischen den Syndikaten fordert täglich seine Opfer. Die Mord- und Kriminalitätsrate ist verglichen mit allen anderen Grenzstädten eine der höchsten Mexikos. Vor nicht drei Wochen wurden im nahen San Fernando 72 Leichen von Migranten gefunden. Während die Presse behauptet, dass es Drogendealer waren, weiß es die einheimische Bevölkerung besser. Wenn es die Migranten, die mit dem tren de la muerte (Zug des Todes) vornehmlich aus den kleinen Dörfern Mexikos, aber auch aus Honduras, El Salvador, Guatemala oder sogar aus Ecuador kommen, oft eine wochenlange Odyssee hinter sich, und es bis zur Grenze geschafft haben, wartet nicht nur der manchmal ebenso tödliche Rio Bravo auf sie, in dessen tückischer Strömung täglich bis zu 15 Menschen ertrinken. Sie haben den sogeannten „Coyotes“ das vom ganzen Familienclan vom Munde Ersparte ausgehändigt – bis zu 3000 Dollar oft, sie haben die Mara Salvatrucha überlebt, die auch in Europa durch kürzlich in den Kinos gezeigten Filmen wie „sin nombre“ oder „training day“ Bekanntheitsgrad erlangten, das Zugpersonal, das von seinen Passagieren einen Wegzoll einhebt und Zahlungsunwillige von den Waggondächern prügelt; sie durchquerten bei brüllender Hitze die berüchtigte Chihuahanwüste, und waren froh, wenn sie nicht dehydrierten, den Hitze-oder Kältetod sterben mussten, und kamen so – in ständiger Angst auch vor der Migrationspolizei, manchmal nur noch mit dem, was sie auf dem Leibe hatten, in San Fernando an. Dort wurden sie von einer kriminellen Bande, deren Namen niemand ausspricht, ohne Gefahr zu laufen, deren nächstes Opfer zu sein, in ein Lager geführt, sollten ihre Familienangehörigen verständigen, dass sie für ihre Freilassung Lösegeld zahlen. Wessen Familie zu arm ist, um zahlen zu können, geht, wenn er viel Glück hat, frei oder wird gnadenlos umgebacht. Die 72 Opfer des letzten Massakers dürften sich – laut Auskunft des Priesters, Fra Gian Antonio Baggio aus dem Scalabriniorden, der sich mit seinen Missionen in Europa, USA und Lateinamerika für die Immigranten engagiert, geweigert haben, die Telefonnummern ihrer Familienangehörigen preiszugeben.

Vor dem Casa de migrante – nicht weit vom Rio Bravo entfernt – sitzt ein Jugendlicher aus Honduras, der uns seine Wunde zeigt, die von einem Messerstich herrührt. Er versucht im Haus unterzukommen, um seine gewagte Reise über den Rio Bravo bis nach Houston fort zu setzen, wo er seinen Bruder treffen will, der es auf dem gleichen Weg vor 2 Jahren geschafft hat.

Der Priester, Fr. Gianantonio Baggio, ist sehr beschäftigt und bittet mich, mich kurz zu halten. Während ich Stativ und Kamera vorbereite, hat sich schon eine beträchtliche Schlange vor dem Casa del Imigrante gebildet. Ich will mich also kurz fassen, aber der Priester scheint im Gespräch mit mir nicht mehr auf die Uhr schauen zu wollen und gewährt mir ein Interview, das über eine halbe Stunde dauert, und führt mich dann durch die Räumlichkeiten des Hauses. Ich werde daraus 10 Minuten schneiden und es sogleich veröffentlichen, da mir sein Zugang schon deshalb interessant erscheint, da er als gebürtiger Italiener, aber mittlerweile citizen of US die Immigrationspolitik der USA mit der Europas vergleicht und davor warnt, dass die Europäische Union gut beraten wäre, die „zero tolerance“ oder „mano dura-Politik“ der USA schon aus eigenem Interesse nicht zu übernehmen, da sie es ist, die nicht nur die Probleme schafft und mit der steigenden Kriminalität auch den Rassismus fördert, sondern gleichzeitig auch die Macht im Staate verliert, wie es derzeit mit dem Krieg der Drogenkartelle in Mexiko geschieht.

Bei der Proteccion civil – auch hier hängen Plakate von Vermissten auf.- ein durch einen Presslufthammer erzeugter Höllenlärm. Nicht gut für ein Gespräch. Die Arbeiten werden für die Dauer der Aufnahmen eingestellt, und ich erfahre – statistisch seit 2008 erfasst – wie viele Opfer der Fluss täglich fordert, aber auch wie viele von den mexikanischen Flüchtlingen oder aus den USA Deportierten durch ein staatliches Förderprogramm wieder repatriiert werden.

Jetzt geht es mit Viktor, einem anderen Fahrer, zum Fluss. Er erzählt mir, – im Stil eines Drehbuches für ein albtraumartiges Roadmovie, wie er vor einer Woche versucht hat, seine an der Küste lebende Frau zu besuchen, und dabei knapp mit dem Leben davon gekommen ist. Viele hier scheinen ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Die Route in den Süden am Rio Bravo entlang gilt als no go. Die lokalen Medien schweigen sich über die Vorkommnisse an den Grenzen und in den Grenzstädten aus. Nicht ohne Grund. Immer häufiger kommt es vor, dass Journalisten oder Redakteure auf offener Straße erschossen werden. Eine TV-Station, die es unlängst gewagt hat, darüber zu berichten, wurde in Brand gesteckt. Dass ein Ausländer kommt, um vor Ort zu recherchieren, dürfte nicht oft der Fall sein. Auch ein Grund, warum sie keine Mühe scheuen, mir alles zeigen und davon Zeugnis ablegen zu wollen, was hier Sache ist.

Julian zeigt mir heute eine andere, fast außerhalb der Stadt liegende Stelle, wo die Immigranten versuchen, den Fluss ohne Kenntnis seiner Strömungen und Untiefen schwimmend zu durchqueren. Wir kommen aber nicht weit, da unsere Schuhe im Morast stecken bleiben.  Noch einmal den Highway entlang zu einer Ausfahrt direkt zum Fluss. Ein Parkplatz, ein einsamer Angler, und endlich ein Blick auf den braunen und, wie es scheint – träge dahin fließenden Rio Bravo -, diesmal aus größerer Nähe. Die Idylle trügt. Wir sehen ein von der Strömung erfasstes Etwas vorbei treiben. Julian und Viktor vermuten, dass es ein Leichnam ist. Ich will und kann es nicht bezeugen. Zu schnell, zu weit weg. Auch das Zoom kann es nicht identifizieren. Dass daran aber überhaupt gedacht wird, erscheint mir aufschlussreich genug. Mir kommen alle diejenigen ins Bild, die aus Afrika kommend das Mittelmeer zu überqueren versuchen, Auch hier tausende Tote jährlich. Und was geschieht? Nichts. Die immer rigideren Einwanderungs- und Asylgesetze: Was haben sie gebracht? Die Zäune und Mauern, die hochgezogen werden? Nichts wird sie aufhalten, solangesie  in den Ländern, aus denen sie kommen, keine Zukunft haben.

Überhaupt genug für heute. Ich muss zurück und kann nur hoffen, dass ich diesmal schneller über die Grenze komme. Diana organisiert einen Fahrer. Ich verabschiede und bedanke mich. Alles, was ich tun kann, ist, darüber schreiben und Leser auch in Europa nachdenklich stimmen. Hört euch die Interviews an. Vor allem das mit dem Priester. Er bringt die Problematik der weltweiten Immigrationspolitik auf den Punkt. Zu den anderen bin ich nicht gekommen. Morgen wieder on the truck road 359 east Texas hinunter nach Corpus Christi ans Meer, an den Golf.

Ein letztes noch: Die Mexikaner fühlen sich bis heute nicht nur der geschichtlichen Entwicklung wegen – immerhin haben sie mehr als ein Drittel ihres Territoriums an den nördlichen Nachbarn verloren -, sondern auch der rigiden Einreisebestimmungen wegen von den Amerikanern gedemütigt. Wie hat Dian gesagt: “Mexiko ist wie ein Hund, dervor Freude mit dem Schwanz wedelt, wenn ihm sein Herrchen (USA) einen Knochen zuwirft.” Man muss sich dazu nur den Warenaustausch anschauen: Die Rohstoffe gehen billig  ins benachbarte Ausland, werden dort veredelt und raffineirt und kommen teuer zurück. “Las venas abiertas de america latina”, ( die offenen Adern Lateinamerikas – ein noch immer  lesenswertes Buch von Eduardo Galeano) – siguen estar abiertas, (bleiben weiterhin offen)

An der Grenze the same procedure as yesterday und wieder penetrante Fragen, aber ich bin wieder in Texas, US.

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