Shakespeare im Apfelbaum

Sie trafen sich auf einer Autobahntoilette Seite vier in einem Comicheft, Blasen sprechend, angefüllt mit heißer Luft. Wenn es nach mir ginge, sagte sie, meinte aber gleich einschränkend: Es geht nicht nach mir. Ist noch nie nach mir gegangen. Dabei nahm sie eine Körperhaltung ein, die das genaue Gegenteil vermuten hätte lassen, denn sie saß nicht – wie bei solchen Gesprächseinleitungen anzunehmen – in einer gebückten Haltung da, sondern sehr aufrecht, fast bemüht aufrecht und blies, nein wischte das in die Stirn fallende Haar mit einer geübten Handbewegung weg, wie man das mit lästigen Fliegen tut. An deiner Stelle würde ich … begann sie wieder, besann sich aber und schränkte wieder ein: Aber ich bin nicht an deiner Stelle.

Sie saß nicht auf einem Stuhl. Sie saß auf einer Schaukel, die auf  einem weit ausladenden Ast eines Apfelbaumes angebracht war, und sah zu ihm hoch und dann wieder plötzlich auf ihn hinunter. Dieser ständige Perspektivenwechsel machte ihn schwindelig, denn er war gerade vollauf damit beschäftigt, auf einer himmelragenden und nirgends angestützten Leiter sein Gleichgewicht zu halten und beneidete das Wesen über ihm, das sich Shakespeare nannte, aber ohne Geschlecht war oder eher weiblich. Es schien von ihm keine Notiz zu nehmen und war seinerseits damit beschäftigt, auf Stelzen, die von einer grauen Legging soweit unsichtbar gemacht worden waren, dass man sie nur an ihren Enden als solche erkennen konnte, Halt in immer neuen Astgabelungen zu suchen. Wenn sie mit sicherem Tritt gefunden waren, bückte sich Shakespeare herab und pflückte rotgelbe Äpfel in einen Korb. Er sah ihm eine Weile zu, hin und hergerissen von dieser Sicherheit und Eleganz, mit der er in diesem Apfelbaum herumturnte, und wartete mit einer Geduld, die für jemanden, der auf einer senkrecht zum Himmel stehenden Leiter irdisches Gleichgewicht suchte, außerordentlich war, auf die angekündigte Empfehlung. Von dem nämlich,  was sie an seiner Stelle tun würde oder getan hätte, schien alles abzuhängen. Zumindest in dieser Spanne zwischen Augenblick und Ewigkeit, seinem unaufhaltsamen Aufstieg oder unvermeidlichen Fall. Auf diesen Schwebezustand schien nun auch Shakespeare aufmerksam geworden zu sein. Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, bemerkte er über seinen Kopf hinweg: Wussten sie, dass eine Eins dem Unendlichen hinzugefügt, diese um nichts vermehrt? Noch während er versucht war, diesen Satz mit allen seinen Konsequenzen zu verstehen, fragte Shakespeare, indem er sich weiter hinunter beugte, als es seine Stelzen eigentlich zulassen durften: Was glauben sie, ist schwerer nachvollziehbar: Dass sei, was niemals war, oder sich identisch wiederhole, was gewesen ist? Er wollte schon antworten und seinerseits fragen, ob er damit auf die Zeit anspiele, als die jetzt in aller Gemütsruhe auf einem Ast sitzende Frau nun endlich zu wissen schien, was sie an seiner Stelle jetzt tun würde oder getan hätte: Du solltest dir einen Apfel pflücken, sagte sie, indem sie selbst krachend so herzhaft in einen hinein biss, dass ihr der Saft aus den Mundwinkeln rann. Ich weiß, es ist verboten, sagte sie schmatzend,  aber schau sie dir doch an! Jeder einzelne von ihnen sagt: Iss mich! Weißt du, was ich an deiner Stelle jetzt tun würde? Sie war jetzt ungefähr 17 und erinnerte ihn an seine Jugendliebe, die er von großer Ferne angebetet und für die er seine ersten Gedichte verbrochen hatte: Ich an deiner Stelle würde mich jetzt küssen.

Diese Spanne von dem Augenblick weg zu beschreiben, als er die Leiter losließ, bis ihn ein alle Ewigkeiten dauernder Fall in etwas stürzte, was ebenso bodenlos schien wie der sich in Zeitlupe auflösende Himmel über ihm, kann nur langweilen. Bemerkenswert allerdings war der mitleidvolle Blick, den ihm Shakespeare nachgeschickt hatte, während derjenige der Frau, die zu küssen sie empfohlen hatte, nur große Belustigung zeigte.

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