Alles, was Odem hat, …

Ein Mann steht im Kegel eines Scheinwerferlichts. Dieses schneidet ein kreisrundes Loch aus dem Boden, auf dem er steht. Es ist wie ein Maul mit schwarzen Lippen, das ihn zu verschlingen droht. Er ist nicht klein, aber er wirkt so. Vollkommen verloren, den erwartungsvollen Blicken eines Publikums preisgegeben, das er nicht sieht, aber spürt. Schweiß perlt von seiner Stirn. Er führt das Mikrofon an seinen Mund, als wolle er etwas sagen. Dann hört man die Luft, die wie aus einem Balg entweicht, mit dem man ein Feuer entfacht, als er die Hand mit dem Mikro wieder fallen lässt. Seine Augen sind geschlossen jetzt. Er weiß, dass es gleich lospreschen und der Boden unter dem Gewicht des Monsters zu zittern beginnen wird. Er muss sich konzentrieren, Mut schöpfen.

In jenem alles entscheidenden Augenblick aber, wenn das Publikum schon ungeduldig werden will, und die Stimmung umschlägt, weil es sich um seine Erwartungen betrogen sieht, führt er das Mikro wieder an den Mund, vollführt synchron zu einem nicht hörbaren Auftakt einen Ausfallschritt, indem er zu einem jetzt hörbaren, aber unsichtbaren dumpfen Tom Tom– mitten in das Fell geschlagen – mit dem Fuß aufstampft, und beginnt: „Buben noch, kannten wir uns, und konnten noch staunen: Eine Sommersprosse auf weißer Haut. Eine Sternschnuppe schneller zerglüht als dein Wünschdirwas – und doch kam der Morgen,…Warum? Wozu? Wozu?“

Ein hämmernder Bass und lange noch hallt es nach: O U OU O U.

Schweißgebadet wacht er auf. Er weiß nicht, ob Tag ist, ob Nacht. Der Drahtschutz der Deckenlampe wirft den Schatten seiner Gitterstäbe auf die Wände. Über dem Stuhl hängt el traje de luzes, ein lachsfarbenes Kostüm, eine Muleta, zerrissen. Auf dem Boden ein Paar gewienerter, absatzloser schwarzer Schuhe. Die Decke ist gelb oder ist es das Licht, das sie gelb macht? Gelb wie der Sand der Arena, in die er seine Füße gestemmt und gedacht hat: „Jetzt ist es soweit. Was für ein Kampf. Aber gegen was? Gegen wen?“ Auf Kopfhöhe neben dem Bett ein Glas mit grüner Flüssigkeit, eine aufgebrochene Tablettenpackung. Er möchte das Etikett lesen, will sich hinunter beugen und stellt fest, dass er sich nicht rühren kann. Jetzt fährt ihm ein sengender Blitzstrahl in die Pupille. Kalte Finger spreizen seine Augenlider. „Er fiebert“, sagt eine Stimme. „Wir müssen die Dosis erhöhen!“, eine andere – weiter weg. „Il faut le refaire!“, meint eine dritte. „Noch einmal!“, versteht er, und will aufschreien, sich wehren mit letzter Kraft. Aber er kann sich nicht rühren, nicht sprechen. Weiß. Alles weiß: Die Kittel, die Gummihandschuhe, die Wände, alles, nur die Mundschutze nicht. Die sind grün. Grün wie die Wiese mit Ferdinand dem Stier. Ein Spiegel zwischen den weit ausladenden Hörnern, in dem er sich sieht: In der traje de luzes mit einer Rose im Knopfloch. „Gleich ist er soweit!“, hört er noch, bevor aus dem Weiß schwarz wird, und dann nichts mehr. Rein gar nichts. Auch keine Erinnerung mehr. Nur, dass er gekämpft hat, aber nicht, ob es ein Sieg oder eine Niederlage war.„Vergiss es!“, denkt er.
Es vergeht viel Zeit, bis er weiß, dass er ein Dasein führt. Immerhin ein Dasein. Dem Dortsein noch einmal entkommen,

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