Bilder einer Ausstellung

Die Brandung schleudert die Gischt der Sonne entgegen. Weit draußen landet ein Vogel auf der Walze eines Brechers und fliegt wieder davon, so schnell, als wäre er nur gedacht und nie dort gewesen. Er hat ein Windei gelegt und ich muss es nun ausbrüten.

Es ist, als würde ich in einem Fotoalbum von hinten nach vorne blättern und mit dem Umblättern jedes Mal jünger werden.

Ich werde jünger und je mehr ich in die Flut der Bilder tauche, umso mehr gewinne ich etwas von den Fähigkeiten zurück, die ich einmal besessen habe, zumindest, was das Körperliche anbelangt. Das bilde ich mir nicht ein. Es ist so:

Ich hüpfe über einen Lichthof. Mit nur einem Bein muss ich von einem Feld ins andere hupfen. Die Felder ergeben von oben gesehen ein Kreuz. Man sieht es kaum noch, da es der Regen schon fast weggewaschen hat. Es ist Mittag und Sommer. Die Sonne dringt nur für kurze Zeit dort ein. Die zum Hof schauenden Fenster spiegeln ihr Licht, das in einem fast diagonalen Winkel über die Fassade herein bricht und genau dort, wo ich hüpfe, einen Lichtteppich auf das Katzenkopfsteinpflaster zaubert. Ich warte auf meinen Freund. Er heißt Erich. Mitten im Spiel halte ich ein. Auf der gegenüberliegenden Hauswand, von der der Verputz bröckelt, knattert Wäsche im Wind. Ich schütze meine Augen, indem ich mit der rechten Hand einen Schirm bilde und schaue hinauf, dorthin, wo der Himmel ein stahlblaues Viereck aus den rußgeschwärzten Mauern des Lichthofes schneidet. Es riecht nach Suppe, nach Kohl, und ich höre das rhythmische Geräusch von Löffeln, die in Teller getaucht werden. Messing auf Porzellan. Rufe, die nicht mir gelten. Namen mit vielen Selbstlauten. Rufe in einer Sprache, die nicht die meine ist. Für einen Augenblick schließe ich die Augen und lasse mich von dem aus Licht gewebten Teppich davon tragen, vorbei an den Fenstern, zum Abschied winkend. Davongekommen. Erleichtert. Ich kann Erich sehen, der eingesperrt ist in seinem Zimmer und mir nachschaut, mit offenem Mund, verblüfft, als hätte er mir das nicht zugetraut, und ich schon viel zu weit weg, um die Frage zu hören, die er mir nachruft: Warum hast du mich nicht mitgenommen? Warum lässt du mich zurück?

Er? Er: Das bin ich.

Wenn man fischen will, peitscht man das Wasser nicht, sagt ein Sprichwort. Aber ich will gar nicht fischen. Ich habe weder einen Köder noch einen Kescher und eine Angel habe ich auch nicht. Und doch ist der Kübel voll.

Er geht auf Stelzen. Die hat ihm der Großvater gebaut. Nein: Es sind Krücken, denn der Linke Fuß ist um vieles kürzer. Er wurde so geboren. Er ist ein Krüppel. Ich schaue durch ein Loch einer weißgetünchten Wand. Sie kann jederzeit einstürzen. Das Loch hat einen Wundrand zinnoberroter Ziegel. Von dort schaue ich hinaus auf eine Gasse, in welcher Kinder lärmen. Auf dem Boden liegt Schutt. Es ist heiß und es gibt keinen Schatten. Der Krüppel humpelt auf mich zu, die anderen hinter ihm, nicht um ihn einzuholen. Um ihren Spaß zu haben mit ihm: Rübenack hat Frösch im Sack, alle machen quackquackquack. Einer hat einen Stein aufgehoben. Die Wand ist wieder eine Wand. Weiß. Kein Loch. Nichts. Nur weiß. Weiß wie eine Leinwand nach dem Abspann, wenn die Spule ausgefädelt ist.

Eine in der Hitze flimmernde Landschaft. Weit weg das Meer. Ich kann es riechen. Die Luft ist salzig. Wind wirbelt den Sand auf. Hinter den Dünen, dort, wo das Meer beginnt, sitzt ein Mann. An der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit, will ich gerade denken, als er mich zu sich winkt. Er ist barfuß und er hat einen blauen Overall an. Seine Arme sind muskulös, seine Haare sind weiß. Ein Matrose? Ein Fischer? Nein. Ein Soldat? Er schält eine Banane. Ich setze mich neben ihn. Er sieht mich nicht an, bricht wortlos ein Stück von der Banane ab und reicht es mir. Jetzt erst sehe ich, dass ein Bein amputiert ist. Eine Mine!, sagt er, als hätte ich ihn gefragt. Ich kenne ihn. Ich weiß nicht mehr, woher, auch nicht, ob mir daran liegt, diese vergessene Bekanntschaft wieder aufzufrischen, eines aber weiß ich mit Bestimmtheit: Er wird mich mitnehmen hinaus auf’s Meer. Er wird kein Wort mit mir sprechen, aber wenn ich zurück komme, werde ich glauben, dass es mein Vater war.

Wenn ich zurück komme.

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