Geronnene Zeit

Eine Ruine ist geronnene Zeit. Auch Fabriken verkommen zu Ruinen, wenn man ihnen die Zeit gönnt, die es braucht, bis die „Eingeweide des Ursprünglichen“ sichtbar werden: Plus belle de la beauté est la ruine de la beauté. Weiß nicht, woher dieses Zitat stammt, aber das Backsteintürmchen einer dem Verfall preisgegebenen Fabrik im Würgegriff von Lerchensporn und Zimbelkraut straft dieses Bonmot nicht Lügen. Ringsum von mannshohen Mauern umgeben und auch diese durch wild wachsende Dornenhecken geschützt, lockt es uns und erzeugt schon beim bloßen Hinsehen eine Mischung aus Wehmut, Erregung und Neugier. Nach längerem Suchen finden wir ein Loch in der Mauer, kämpfen uns durch den Dornengürtel und befinden uns nun mitten auf dem Gelände einer Fabrik, die mit Lager, Verwaltungsgebäuden, barackenartig angelegten Wohnhäusern, Werkstätten und riesigen Werkhallen einmal vielen Menschen vor vielen, vielen Jahren Arbeits- und Wohnstätte gewesen ist.

Im Hof stehen verwitterte Baufahrzeuge, die Grünspan und Rost wie Skulpturen aussehen lassen, die uns an die Vergänglichkeit allen Seins erinnern wollen, auch des von Menschenhand erschaffenen und sei es aus in Hochöfen geschmiedetem Eisen und Stahl. Warum aber soll es einem im letzten Jahrhundert errichteten Fabrikgebäude und Baufahrzeugen anders ergehen als den sieben Weltwundern, von denen als einziges nur noch die Pyramiden stehen? An allem nagt der Zahn der Zeit. Das ist ein schönes Bild und wenig kann uns dieses Nagen der Zeit bewusster machen als ein vergessener Ort, an welchem der Prozess der Verwesung ungestört vor sich geht.

Nachdem die Türen nicht verschlossen sind, wagen wir uns in das Innere der Gebäude, in denen Büromöbel vor sich hingammeln, ein verirrtes Rotschwänzchen, das sein Nest in einen Aktenschrank gebaut hat, aufgeregt den Weg ins Freie sucht, Spinnweben über den Fenstern den dahinterliegenden Garten mit dem Blätterwerk wie ein Aquarium aussehen lassen. Alles verratzt, vergilbt, verschimmelt und vergammelt und die Böden mit einer zentimeterdicken Schicht von Taubenscheiße wie mit einem weißen Teppich ausgelegt.

In so ein stillgelegtes und bis auf die ausgeräumten Möbel leeres Bürozimmer hineinzugehen, in welches durch verdreckte Fensterscheiben bleiches Licht fällt, erzeugt eine fast sakrale Stimmung. Mit nur ein bisschen Fantasie sehe ich einen Büroangestellten an seinem Schreibtisch mit Brille und Ärmelschoner auf die Tasten einer Olivetti oder Olympia einhämmern, um Geschäftigkeit vorzutäuschen, Bartleby der Schreiber von Hermann Melville kommt mir in den Sinn, der auf alle Arbeitsaufträge seines Chefs immer nur geantwortet hat: “I would prefer not to.”

In der Fabrik selbst – noch immer wissen wir nicht, was hier einmal hergestellt worden ist – werden wir von einem riesigen Werkraum überrascht, in den milchiges, blaugrünes Licht von einer filigranen Glasdachkonstruktion hereinfällt. Es muss aus der Gründerzeit stammen, in welchem das Bürgertum in Österreich-Ungarn die kulturelle Führung übernahm und in Architektur und Kunsthandwerk einen historisierenden Stil entwickelt hat, der im Jugendstil seine Blüte fand.

Auch die Wände mit den abblätternden Fayencen und dem wellenförmigen Stuck erinnern daran, dass Ästhetik und Industriearchitektur einmal eine Symbiose eingegangen sind. Endlich finden wir einen an der Wand hängenden Kalender, der uns genaue Auskunft darüber gibt, wann Arbeiter oder Angestellte aufgehört haben, ihn weiter zu blättern. Das muss im Winter 1976 gewesen sein, da er ein Dorf mit Häusern zeigt, auf dessen Dächern sich meterhoher Schnee türmt. Eine Übernahme dürfte nach der Stilllegung nicht stattgefunden haben, davon zeugt das hinterlassene Chaos.

Über Federn und Taubendreck watend finden wir Waschbecken und als Ware verpackte Lampenschirme; Klomuscheln, die aus der gewählten Perspektive wie kleine Elefanten mit Rüssel aussehen; bunte Festnetztelefone, Karteikästen, eine an die Wand genagelte Puppe, ein Wandkalender mit der Überschrift „Lebensmüde“: Artefakte, die vom bitteren Humor der hier einmal angestellten Arbeiter und Angestellten zeugen. Es riecht nach Moder und Schimmel.

Wir gehen die gusseiserne und mit Taubendreck zugemüllte Wendeltreppe hinauf und uns erschließen sich immer neue Räume. Ein auf den Kopf gestelltes Türherz lehnt neben einer Werkbank und mitten im Taubendreck ein verschimmelter Koffer. Und noch einer, aufgeklappt neben einer Bank, darauf eine abgestellte Blechtasse: Das ganze Ensemble wirkt auf mich wie ein Bühnenbild vom Warten auf Godot.
Auf einer anderen Wand mit roten Schlieren hängt eine schwere Kette, was mich sofort an Folter denken lässt. Jetzt lege ich meine Fantasie an die Kette, damit ich die Schreie des Opfers nicht auch noch hören muss. Auf dem Dachboden ist es gleich um viele Grade wärmer und richtig schwül. Was hat die meterhohe Abbildung eines Turmes hier verloren? Wieder Karteikästen, in denen fein säuberlich die hier hergestellten Produkte aufgelistet sind: Bleirohre, Bleibleche, Bleiarmaturen, Bleifolien, Verbleiungen, Zinnrohre, Lötzinn, Plomben, Bleifarbe “Subox” und endlich ein Schild: Bleiwaren- und Kunststofffabrik

Wie sich dann über Internetrecherchen herausstellt, wurde das Unternehmen tatsächlich 1851 begründet, sah Auf- und Abschwung und etliche Besitzer, von denen der letzte auf Grund von Absatzschwierigkeiten nach Umstellung der Produktion auf Kunststoffe den Konkurs anmelden musste.
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