Seegförne 1963

P1120159Es war schon März. Mitte März. Der See aber war noch immer zugefroren. 1929, also lange vor meiner Geburt, war ein Teil des See’s zugefroren. Damals, so erinnert meine Mutter sich, sei der Herr Löffler, dem das noble Kaffee gehört hat, dort, wo jetzt der häßliche Betonklotz des GWL steht am Ende der Kaiserstraße, mit seinem Auto auf dem Eis herum gefahren. Würstelbuden hätte es gegeben und einen großen Volksauflauf. Ja, das geschah im letzten Jahrhundert nur einmal, dass der See von einem Ufer zum nächsten zugefroren und die Grenzen im Dreiländereck aufgehoben waren. Das ist jetzt 50 Jahre her, aber auch ich erinnere mich noch gut an unseren Ausflug von Bregenz über den See nach Lindau. Viel zu spät. Es war der 19.März. Das Tauwetter hatte schon früher eingesetzt und die Fähre zwischen Konstanz und Meersburg war schon –  in einer Fahrrinne zumindest – wieder in Betrieb. Einen Tag später war es verboten, aufs Eis zu gehen.

Seegfrörne 2Wir waren zu spät von Lindau aus aufgebrochen und kamen in die Dämmerung und bald in die Nacht. Außer uns, meiner Mutter und meinen Geschwistern, war niemand mehr unterwegs. Wäre sie nicht sternenklar gewesen und hätten wir uns nicht an den Lichtern der Stadt orientieren können, nie und nimmer hätten wir das rettende Ufer erreicht. Ich sah die Risse, wir hörten das Knacken und Knistern, sahen einzelne Eisschollen weg treiben und je näher wir zum Ufer kamen, um so unheimlicher wurde es. Wir waren durchfroren und wollten nichts wie heim. Wie habe ich meine Schulkameraden beneidet, die am Vortag noch mit ihren Fahrrädern nach Lindau aufgebrochen waren. Dass das Wasser an manchen Stellen schon über dem Eis lag, aber noch immer seinen gefrorenen Zustand vorgaukelte, davon hatten sie nichts erzählt. Sie waren aber auch klug genug gewesen, rechtzeitig aufzubrechen, um nicht vom Nebel oder der Dämmerung überrascht zu werden. In die sorglose Hochstimmung, die wohl alle erfasst hat, die auf dem See und übers Eis gegangen waren, hatte sich zuerst Angst und jetzt Panik gemischt. Meine Schwester hatte die Schlittschuhe abgeschnallt, da sie müde geworden war. Nur nicht daran denken, dass es unter der dünnen Decke bis zu 100 m in die Tiefe geht.

Dass der Reiter in Gustav Schwabs Ballade wie vom Blitz getroffen tot aus dem Sattel seines Pferdes fällt, nachdem ihm eröffnet wurde, dass er über den See geritten war, hielt ich damals für unglaubwürdig.

Obwohl wir wussten, dass wir übers Eis gegangen waren, saß uns der Schock noch lange in den Knochen. Heute kann ich durchaus verstehen, dass der Reiter einem Herzinfarkt zum Opfer gefallen war, nachdem er erfahren hatte, dass er einen zugefrorenen See geritten war.

Übrigens: Seit der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 875 war der Bodensee insgesamt 37-mal zugefroren, zuletzt im Winter 1962/63

875, 895
1074, 1076, 1108
1217, 1227, 1277
1323, 1325, 1378, 1379, 1383
1409, 1431, 1435, 1460, 1465, 1470, 1479
1512, 1553, 1560, 1564, 1565, 1571, 1573
1684, 1695,
1788
1830, 1880
1963

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1 Comment
  • Erny MENEZ
    Posted at 17:26h, 25 Februar Antworten

    Hallo Helmut,
    Aus dem heissen Asien zurückkehrend in den eisigen Grenobler Winter, gefällt mir dein Text sehr, sehr gut („der hässliche Betonklotz GWL, da kann ich deine Mutter verstehen … anstelle eines urigen Cafés).
    Auch ich hab so ähnliche Schlittschuh-Abenteuer erlebt in manchen kalten Wintern in Eggenburg. Das durften unsere eltern gar nicht wissen.
    Danke für den Text,
    ERNY

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