Der Rosskastanienbaum

fensterblickIn dem kleinen Park, der in die Wohnbausiedlung eingebettet ist, steht ein Kastanienbaum. Er ist schon alt, denn seine Borke ist grau. Im Winter sitzen Krähen in seinem kahlen Geäst. Wenn aber  im Frühling  die klebrigen Knospen aufspringen – ein fast obszön anmutendes Spektakel – entfaltet er seine ganze Pracht und ist herrlich anzuschauen mit seinen fingerförmigen, sattgrünen Blättern. Ein Zwitschern und Summen ist dann im Baum, bis von den steil aufgerichteten Kerzen die weißen Blüten herunter regnen und für kurze Zeit den zubetonierten Hinterhof einfärben. Es war um diese Zeit oder war es schon Sommer? Ich weiß es nicht mehr. Niemand saß auf der Sitzbank, der unter den ausladenden Ästen des Kastanienbaumes seinen wohltuenden Schatten suchte, obwohl die Miniermotte schon einen Teil der Blätter so aussehen ließ, als sei der Herbst schon wieder da. Ein alter Mann schlurfte mit vom Alter gebeugten Rücken an der sonnenbeschienenen Mauer entlang und hielt auf die Bank zu. Nach einer kleinen Ewigkeit wieder, in der nur das Summen der Bienen zu hören war und von weit weg ein Zug, doch in dem kurzen Augenblick, den es braucht, um einer Schar Krähen zuzuschauen, die um diese Jahreszeit entweder zu früh oder aber schon zu spät unterwegs zu ihrem Sammelplatz waren, geschah, was ich erzählen will. Ich hoffe, es gelingt mir, denn es ist schon viele Jahre her und die Erinnerungen trüben sich, wie es mit zunehmendem Alter auch die Augen tun.

Wie sich nämlich nach näherem Hinsehen herausstellte, war der alte Mann gar kein alter Mann. Im Gegenteil: Der da saß und um sein Marmeladebrot kämpfte, das er nicht mit den Wespen teilen zu wollen schien, war blutjung. Im schulfähigen Alter. Keineswegs jünger. Ich musste also einer Sinnestäuschung aufgesessen sein. Er hatte kurze Hosen an; die waren so weiß, wie die Blüten auf dem Boden. Die Hose passte im Bund nicht zu seiner schmächtigen Taillie, sodass er sie nur mit Hosenträgern tragen konnte. Ich wollte mich schon wieder zurück ziehen und in die Kühle des Zimmers begeben, als plötzlich ein markerschütternder Schrei die friedvolle Stimmung zerriss, und wie aus dem Nichts ein schwarzer Hengst durch den Torbogen, der den Innenhof von der Straße trennt, über den mit weißen Blüten bedeckten Asphalt gesprengt kam. Eine Atem-länge vor dem Knaben, dem vor Schreck das Marmeladebrot aus der Hand gefallen war, kam er zu stehen. Seine Nüstern bebten und sein Fell glänzte vom Schweiß. Wieder wollte ich meinen Augen nicht trauen, aber ich schwöre, so war es: Er scharrte mit seinen Hufen und zeigte dem Knaben demutsvoll den Nacken bis zum Widerrist, ganz so, als würde er sich ihm unterwerfen und ihn auffordern wollen aufzusitzen.  In diesem Augenblick trafen sich unsere Blicke: Seiner schien mich zu fragen, ob er der Aufforderung nachkommen solle, meiner schien ihm zu sagen, dass er zwar in Gefahr sei, aber in einer, in die man sich begeben muss, um herauszufinden, aus welchem Holz man geschnitzt ist, denn er lächelte mir zu, als würde er um beides wissen und mir zustimmen. Er ging um das Pferd herum und setzte sich breitbeinig auf die Kruppe.  Der Hengst erhob sich, der Knabe rutschte auf seinen Rücken, nahm das Zaumzeug in die Hand, und noch einmal trafen sich unsere Blicke. Diesmal aber waren es vor allem die Augen des Hengstes, die meine suchten.

Sie mussten die ganze Zeit über geschlossen gewesen und ich in einen leichten Schlaf gefallen sein, denn das, was ich für die Hufe eines Pferdes gehalten hatte, waren die aus den aufgebrochenen Kapseln auf das Blechdach der Garage polternden Rosskastanien.  Schon wieder war Herbst?

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