16 Sep Marseille: une balade urbaine
Angekommen bin ich in Marseille nicht als ich am Flughafen darauf hoffte, abgeholt zu werden, sondern wenige Stunden später, als ich aus der Halle des Kopfbahnhofes von St. Charles in das gleißende Licht und die vom Meer gewürzte Luft trat. In dieser Nanosekunde von plötzlich bewusster Gegenwart habe ich mich mit dem ersten Blick über das Plateau des auf einer steil abfallenden Felsenkante gebauten Kopfbahnhofs in die Stadt verliebt. Dabei hatte ich noch gar nicht das Meer gesehen, dem dieser größte Hafen des Mittelmeers seine Gründung vor 2600 Jahren verdankt.
Eine von zwei Steinlöwen eskortierte Stiege mündet dort in den kerzengerade verlaufenden Boulevard Athene, wo in der Ferne über einem azurblauen Himmel die Silhouette der auf einer anderen Hügelkuppe thronenden Notre Dame de la Garde mit der bonne mere, dem alle 25 Jahre neuvergoldeten Wahrzeichen Marseille’s, den Blick über das Dächermeer begrenzt, und dem, der jetzt wie ich, durch die Stadt streunen will, als Orientierungshilfe dient.
Ich hätte mir keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Erstens ist September und es ist angenehm warm, aber nicht brütend heiß, zweitens ist Marseille 2013 Kulturhauptstadt Europas. Das dürfte die zweitgrößte Stadt Frankreichs aus einem städtebaulichen Tiefschlaf geweckt haben. Auch wenn viele Bauvorhaben erst noch realisiert werden müssen – zur urbanen Revitalisierung im alten Hafenviertel gehört immerhin ein Areal von über 20.000 ha und ein Investitionsvolumen von ca. 7 Milliarden Euro – sind viele andere wie zb. der Boulevard literal, welcher der Küstenlinie folgt, J1, eine im Obergeschoß des Hangars umgebaute Fläche für Ausstellungen und Veranstaltungen, Les Docks, ehemalige Speicher sowie das MUCEM, das Museum für europäische und mediterrane Zivilisation und viele andere mehr, die ich später ins Bild bringen und beschreiben will, schon fertig und mit dem Umbau des vieux port nicht nur touristische Attraktionen.
Drittens hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen, dass ich das Glück habe, bei jemandem zu wohnen, der von München nach Marseille gezogen ist, eine kleine Wohnung gleich hinter der Basilika La Major angemietet hat und mir die Stadt mit seinen Augen zeigen will. Er geht dabei gerne zu Fuß und legt mit mir täglich Strecken zurück, die am Ende meines Aufenthaltes wohl dazu führen werden, dass ich mir neue Absätze auf die Schuhe nageln lassen muss. Dazu kommt, dass seine Wohnung im 6. Stock liegt und das Haus ohne Lift ist und auf mich, um nach den Strapazen todmüde ins Bett fallen zu können, noch gezählte 140 Stufen warten.
Zum Verliebtsein gehört natürlich auch eine Portion Blindheit für die realen soziökonomischen Verhältnisse dieser Stadt. Werde aber erst später die Augen auch für diese Schattenseiten öffnen. Jetzt aber will ich vorerst nichts anderes tun, als die ersten Eindrücke auf mich wirken lassen. Dass Frankreich eine Kolonialmacht in Afrika war, ist auf Schritt und Tritt sichtbar. Abgesehen von den pieds noir, die nach dem Algerienkrieg hier gestrandet sind, ist nicht nur der Maghreb, sondern auch Schwarzafrika sehr präsent. Männer im Kaftan, Frauen in der Tracht ihrer Heimat, selten verschleiert; die größte jüdische Gemeinde Europas außerhalb Israels. Levantinische, provinziale, marrokanische Küche. Sehr kosmopolitisch, ob ebenso weltoffen, kann ich nicht beurteilen. Beeindruckend die Installationen im öffentlichen Raum:
Verweise auf eine Stadt von Immigranten, vielleicht auch auf den Fluchtort so vieler Intellektueller im Zweiten Weltkrieg, die von hier aus verzweifelt versucht haben, den Nazischergen zu entkommen. Fragile Skulpturen von Männern und Frauen mit Koffern. Eine Theateraufführung open space auf dem Weg zum alten Hafen. Überall laden Straßencafés zum Verweilen ein. Der Pastis macht mich noch müder als ich schon bin, aber ein Café noir mich wieder munter. Weiter geht es, vorbei an Spielplätzen für das Petanque, dem französischen Nationalsport. Hier finden die Weltmeisterschaften für diese Spielart des Boule statt, erklärt mir Otto.
In einer Ecke sitzen zwei Clochards, die sich bei einer Flasche Wasser angeregt miteinander unterhalten. Am Boden steht ein pinkfarbener Hase, der mit einem Schüsselchen für Münzen die Passanten auffordert, etwas zu deren Unterhalt beizutragen. Die Vorliebe fürs Surreale oder Fantastische scheint den Bewohnern hier in die Wiege gelegt. Auf Straßen und Plätzen findet man bunt bemalte Giraffen, Nashörner, Elefanten und anderes Getier, ins Plastische übertragene Gemälde von Salvador Dali und etliche trompe l’oeil wie zB. das bei der Börse: Eine groß in Szene gesetzte Sinnestäuschung einer auf eine riesengroße Leinwand gemalten perspektivischen Fortführung der Straße , wo man erst bei näherem Hinsehen, wenn man unmittelbar davorsteht, feststellt, dass der darüber gemalte Himmel vom wirklichen – durch den First des Gebäudes getrennt – wie ein großes Fenster gerahmt und doch nur gemalt ist. Auch L’hombre am alten Hafen spielt mit Gespiegeltem. Bunt und verspielt und nicht so hektisch wie andere Metropolen. Ja, das ist mein erster Eindruck.
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Anonymous
Posted at 14:38h, 17 SeptemberServus Helmut, ich habe den Eintritt in deine Welt geschafft, obwohl ich als Pensionist keine Branche anzugeben hatte. Jetzt genieße ich deine detailreichen farbigen Bilder, die du mit feinem sprachlichen Pinsel maltest. Demnächst werde ich in die Vergangenheit weiter lesen, mit einem Pfeifchen im Mund und jedenfalls mehr Zeit, als mir jetzt gerade zur Verfügung steht. Schönen Aufenthalt, liebe Grüße, auch an Sue, Karl
Erny MENEZ
Posted at 21:41h, 16 SeptemberDeine ersten Eindrücke sind interessant und kann ich gut „nachspüren“, da es auch mir so gegangen ist. Aber man muss die Stadt mit richtig „offenen“ Augen sehen und alles auf sich langsam einsickern lassen.Viele Aspekte dieser Stadt schrecken Leute ab : zuviel Beton, zuviel Armut …..
Ich warte auf Fortsetzung,
Erny
kawaiiocc
Posted at 20:09h, 16 SeptemberDas macht richtig an. Da muss ich hin!