Der Mantel: Kriminalgeschichte

Der Mantel

hutDu magst mir glauben oder nicht. Ich gehe zwar mit einem Rollator, weil ich noch immer Angst habe zu fallen, auch die hämmernden Kopfschmerzen sind noch immer da, aber ich habe keine Wahrnehmungsstörungen, wie mir von seiten der Ärzte unterstellt wird. Ich weiß, wer ich bin und wie alles gekommen ist.

Es war Winter. Kein Schnee, aber so kalt, dass die Scheiben der am Straßenrand parkenden Autos eingefroren waren. Ich war in der Stadt unterwegs und bereute es, mich nicht wärmer angezogen zu haben. Auf der Suche nach einem Kaffeehaus kam ich an einem Secondhandladen vorbei. Eine Angestellte – im Alter meiner Mutter etwa – schob gerade den Torso einer Schneiderpuppe in das Schaufenster. Über seine Schultern war ein Mantel gehängt, der sehr vornehm aussah. Das ist ein Wink, habe ich mir gedacht. Mantel habe ich mir schon lange keinen mehr geleistet. Was kann er secondhand schon kosten? Ich ging also rein, suchte die Frau, die eben mit Stecknadeln im Mund aus dem Schaufenster kam, und fragte sie, was der Mantel koste, und zeigte dabei auf die Schneiderpuppe. Sie maß mich mit einem mitleidvollen Blick und belehrte mich, während sie die Stecknadeln bedächtig aus dem Mund nahm: Sie schau‘n ja aus wie der Zins. Wird Zeit, dass ihna urndlich anzieh‘n. Es is Winter. Winter is, wiederholte sie tadelnd, als wäre sie meine Mutter. Der Mantel tät ihna g’falln, stimmt’s? Der is elegant, hot a Taille, des muaß ma mög’n. Is a englisches Fabrikat. A gut’s Tuch. A richtiga Chesterfield halt. Oba teuer, meinte sie abschließend. Wia hab’n aber andre auch, die nit so teuer san.

Sprach‘s und wollte mich schon zu den Ständern locken, auf denen Wintermäntel in allen Größen, Längen und Farben hingen.  Bemühen sie sich nicht, hörte ich mich sagen, ich will genau den, den aus England, den eleganten, den Chesterfield. Die Marke kannte ich von den gleichnamigen Zigaretten, die ich früher geraucht habe, wenn sie erhältlich waren. Sie drehte sich auf ihrem Absatz um. Wenn sie meinen?, sagte sie spitz. Der kostet allerdings über 200 Euro. Sie sah mich herausfordernd an, als würde für sie schon feststehen, dass ich das nie und nimmer für einen Mantel auslegen würde. Da hatte sie sich aber getäuscht. Es war zwar viel Geld für einen Mantel, der schon getragen worden ist, aber nicht so viel, wie ein neuer kosten würde. Und 300 hatte ich auf dem Weg in die Stadt mit meiner Karte aus dem Bankomat gezogen. Ich ließ ihn also abhängen, schlüpfte in die Ärmel, knöpfte auf dem Gang zum Spiegel den mit Seide gefütterten Mantel von innen zu, ging – gefolgt von der Angestellten – zum Spiegel und wusste, dass ich diesen Kauf nicht bereuen würde.

Der steht ihna aber wirklich gut. Wie ausg’messn. Sie müssen die gleiche Statur hab’n wie der Herr, dem er g’hört hat. Der Mantel hatte drei aufgesetzte Taschen. Auf der rechten zwei übereinander und eine auf der linken Hälfte.  Es stimmte, er stand mir ausgezeichnet. Ich stellte den Kragen auf und fand mich verwegen und unwiderstehlich. Ich blätterte die 200 und etwas wie ein Mann auf den Tresen, für den Geld keine Rolle spielt. Das war dem Mantel geschuldet: Ich fühlte mich wie ein Gentleman und gleichzeitig wie ein Hochstapler, den schlechtes Gewissen plagt.

Jetzt war mir nicht mehr kalt und ich genoss es, die kalte Luft einzuatmen. Ich ließ mich ohne Ziel von den Leuten auf der Straße mittreiben, die mit großen Einkaufstaschen, auf denen die Labels weltumspannender Textilkonzerne gut sichtbar waren, vor mir her- oder an mir vorbei gingen. In den Spiegeln der Schaufenster ließ ich meine Erscheinung auf mich wirken. Eitel, wie ich nun einmal bin, versuchte ich herauszufinden, ob es besser war, den Kragen hoch zu stellen, auch, um die Ohren zu schützen. Was ich sah oder sehen wollte, war ein noch junger Mann, der mich an ein Foto von James Dean erinnerte, wie er mit einer Zigarette lässig im Mundwinkel hängend und die Hände tief im seidigen Futter der Manteltaschen vergraben bei Nieselregen die Fifth Avenue entlangstrolcht. In diesem Augenblick zupfte jemand am Saum meines Mantels. Es war ein Bettler, der gegen die Wand gelehnt auf einem Karton saß. Seine Beine waren vom Knie weg amputiert. Ohne Scham zeigte er auf seine blaugefrorenen Stümpfe, die ihm zum einzigen Kapital geworden waren, mit dem er einen allein auf Mitleid begründeten Zins einheben konnte. Wie kommt er auf die Straße?, fragte ich mich. Wer hat ihn hierher gebracht? Er saß auf keinem selbst gebastelten Brett mit Rädern, wie ich es schon gesehen hatte. Die zotteligen Haare hingen ihm ungewaschen über das pockennarbige  Gesicht. Ich weiß nicht, warum ich mich nicht losriss, da mich seine Aufdringlichkeit abstieß. Noch immer hatte er sich im Saum meines eben erstandenen Mantels festgekrallt und ließ auch nicht los, als ich endlich eine Münze gefunden hatte, die ich in seinen Pappbecher werfen wollte, in welchem ein paar Cents klimperten. Er schüttelte den Kopf, stellte den Becher auf den Gehsteig und deutete mit der jetzt freigewordenen Hand auf meinen Mantel.  Nein, sagte ich, und ich sagte es laut: Den Mantel kriegst du nicht. Den hab ich mir gerade gekauft. Und wie um mich zu rechtfertigen, fügte ich noch hinzu: Der war nicht billig. Hilfesuchend blickte ich mich um, da er mich noch immer festhielt. Ich war kein James Dean mehr, der begleitet von einem Fotografen vielleicht pressewirksam seinen Mantel einem armen Teufel geschenkt hätte. Ich war auch nicht der heilige Martin,  von dem die Legende weiß, dass er seine Mitmenschen beschämt hat, indem er seinen Soldatenmantel mit dem Schwert in zwei Teile teilte, um Barmherzigkeit zu üben. Ich war zu dieser Zeit nichts als ein Student der Theater-wissenschaft, der von einem kleinen Stipendium lebte und sich mit dem Austragen von Zeitungen an Wochenenden ein Zubrot verdiente.  Bei aller Barmherzigkeit, zu der mich meine Mutter erzogen hat, nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dem Bettler den neu erworbenen Mantel zu schenken. Außerdem macht es mich wütend, wenn ein Obdachloser oder Bettler statt Dankbarkeit zu zeigen, mehr will, als ich zu geben bereit bin. Ich weiß ja, dass es zu wenig ist. Eigentlich müssten sie von uns allen, die achtlos an ihnen vorüber gehen, dafür belohnt werden, dass sie uns daran erinnern, wie gut es uns geht.

Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte er: Ich will deinen Mantel nicht. Was soll ich mit einem Mantel mit meinen amputierten Füßen. Er sprach Hochdeutsch, was mich verwundert hat, da Bettler sonst mit hilflosen – auf ein Stück Karton gemalten – Sätzen auf ihre Situation aufmerksam machen, weil sie der Landessprache selten mächtig sind. Auch ich habe einmal so einen Mantel getragen, fügte er hinzu. Ein Chesterfield, wenn ich mich nicht täusche. Englisches Tweed. Wo hast du ihn her? Erst jetzt stellte ich fest, dass er obendrein auch noch blind sein musste. Seine Augen waren tot und blickten durch mich hindurch. Die widersprüchlichen Gefühle, bei denen Wut, Ekel und Mitleid im Widerstreit lagen, hatten nun Neugier und größerer Anteilnahme Platz gemacht. Er muss ungefähr doppelt so alt wie ich sein, vermutete ich, aber sein Anblick konnte auch täuschen. Viel Glück mit dem Mantel, sagte er jetzt, und ließ den Saum los, den er – wie um sich vergewissern zu wollen, ob es tatsächlich englischer Tweed ist – prüfend zwischen seine Finger genommen hatte. Sein Interesse am Mantel schien mir seltsam. Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über sein verwittertes Gesicht. Viel Glück. Danke, sagte ich verwirrt, Danke, und war schon im Weggehen, als er mir nachrief: Du wirst es brauchen.

Zuhause angekommen hängte ich den Mantel auf und hatte die Begegnung schon vergessen. Wochen später aber fand ich beim Blättern in der lokalen Zeitung folgenden Bericht, der mich elektrisierte. Überschrieben war er mit „Der unbekannte Tote: Alles, was man über ihn weiß, ist, dass er ein 60- bis 70-jähriger Mann ist, der sich das Leben genommen hat oder umgebracht worden ist, obwohl keine Fremdeinwirkung festgestellt werden konnte. Warum er sterben wollte oder musste, weiß man nicht. Er hatte weder Papiere bei sich, noch sonst persönliche Gegenstände oder Dokumente. Mehrere Wochen lang hat die Polizei versucht, seine Identität herauszufinden. Vergebens. Keine Datei gibt Auskunft. Niemand scheint den Mann zu vermissen: Kein Verwandter, kein Kollege, kein Nachbar, kein Vermieter, kein Freund meldete sich. Die DNA des Toten ist erhoben und verschickt. Auch das hat nicht geholfen. Wir wissen gar nichts. Das ist schon merkwürdig genug, sagt der Polizeisprecher Josef Kauer. Das allermerkwürdigste aber ist, dass er sich auf einem Baum im Stadtpark aufgehängt hat. Wie er das gemacht hat, bleibe ein ewiges Rätsel, denn der Tote sei auf beiden Füßen amputiert gewesen, was einen Selbstmord seiner Ansicht nach ausschließe. Er könne sich nicht erinnern, solch einen Fall schon einmal erlebt zu haben. Um zweckdienliche Hinweise wird unter der Rufnummer soundso gebeten.“

Sofort fiel mir die Begegnung mit dem Bettler ein. Was im Bericht fehlte, war der Hinweis auf seine Blindheit. Aber wie zum Henker sollte sich ein Blinder selbst auf einen Ast knüpfen. War ja das schon Rätsel genug, wie er es mit seinen amputierten Beinen geschafft haben soll. Das war kein Selbstmord. Es sollte nur so aussehen. Das stand für mich fest. Es konnte sich nur um den Bettler handeln. Der Mantel kam mir wieder in den Sinn. Hatte er nicht gesagt, dass er einen solchen einmal getragen habe? Hatte er ihn nicht die ganze Zeit über festgehalten und mir nachgerufen, dass ich das Glück, das ich ihm gewünscht hatte, selber brauchen würde? Der Mantel birgt ein Geheimnis. Er wird das Rätsel lösen. Da war ich mir plötzlich sicher. Aber wo, verdammt, ist er? Wann habe ich ihn das letzte Mal getragen? Ich begann die kleine Wohnung auf den Kopf zu stellen, bis mir schlagartig einfiel, dass ich ihn ja zur Reinigung gebracht hatte und die Bestätigung noch in der Geldtasche sein musste. Aber der Abholschein war nicht mehr auffindbar. Ist kein Malheur. Sie wird sich schon an mich erinnern und mir den Mantel anstandslos aushändigen, beruhigte ich mich. Also nichts wie hin. Die Frau in der Putzerei aber meinte: Was glauben’s, wie viel Kunden ich hab am Tag? Wie soll ich mir die alle merken? An Ihna kann ich mich jedenfalls nicht erinnern. Wann soll das g’wes’n sein? Was für ein Mantel? Können’s den wenigstens beschreib’n? Da könnt‘ ja jeda daherkuma und sog’n, der do is meiner. Verstehn’s mi? Sie war nicht sehr entgegen-kommend. Ganz und gar nicht. Hat wohl einen schlechten Tag, dachte ich im Stillen und beschrieb in aller mir zu Gebote stehenden Ruhe den Mantel, den ich vor Wochen zu ihr in die Reinigung gebracht, aber abzuholen vergessen hatte, da mittlerweile der Frühling eingekehrt war. Was sagen’s des nit glei, dass es a Chesterfield war. So einen krieg ich nit alle Tag rein. Mal schauen, ob’s ihn noch gibt… Während sie weiter redete, nahm sie den elektrischen Kleiderständer in Betrieb, auf dem in Plastik eingehüllte Garderobe an seinen Augen vorüberglitt. Da, das ist er, schrie ich fast vor Aufregung, froh ihn wieder erkannt zu haben. Das mach ich nicht gern, meinte sie, und wiederholte mantraartig: Da könnt‘ ja jeder daherkuma. Eigentlich dürft‘ ich ihn ihna ohne Abholschein nicht geb‘n und eigentlich, wenn sie das Kleingedruckte g’lesen hätt’n, landet so ein Kleidungsstück nach drei Monat bei einer sozialen Einrichtung. Aber sie nahm ihn vom Ständer, prüfte mich noch einmal mit einem herausfordernden Blick, und händigte ihn mir mit der Bemerkung aus: Hab’n sie da was eingn’äht in den Mantel? Da greif’ns, der Saum da unter der Manteltasche ist steif. Geht mich eigentlich nichts an. Tatsächlich. Ich hatte richtig vermutet. Der Mantel barg ein Geheimnis. Ohne mich zu verraten oder ihrer Mutmaßung Nahrung zu geben, bedankte ich mich schnell, bezahlte und ging. Da hatte ich noch einmal Glück gehabt.

Auf dem Nachhausweg nahm ich mir vor, den Saum sofort aufzutrennen. Vielleicht war ich – ohne es auch nur zu ahnen – seit dem Mantelkauf ein reicher Mann. Vielleicht gehörte er einem Flüchtling, der, was immer er besessen haben mag -, in diesen Mantel eingenäht hat. Hoffentlich eingeschweißt, falls es Banknoten einer fremden Währung waren, oder war es ein Dokument; ein Vermächtnis, ein Testament, eine Schatzkarte, ein an einen unbekannten Empfänger adressierter Brief? Eine Vorstellung jagte die andere und beschleunigte meinen Schritt. Jetzt hatte ich sogar zu laufen begonnen, um schneller zuhause zu sein.

Kaum war ich in meiner Wohnung, befreite ich den Mantel von seinem Plastiküberzug, und noch bevor ich meine Schuhe auszog, nahm ich ihn vom Metallbügel, ging mit ihm in die Küche, legte ihn auf den Tisch, suchte die Stelle, welche die Angestellte in der Putzerei gefunden hatte, und war gerade dabei, eine Schere zu suchen, als die Glocke der Eingangstür schrillte und jemand wild auf die Tür hämmerte. Wer konnte das sein?, fragte ich mich. Wer um alles in der Welt kann das sein?

Als ich Monate später, 4 Monate später, um genau zu sein, aus dem Koma erwacht bin, in das man mich nach einem Schädel-Hirntrauma künstlich versetzt hatte, erinnerte ich mich an alles, nur nicht, wer es war, der mir diesen Schlag versetzt hatte, und auch nicht, wie ich ins Spital gekommen war. Ich hatte zwar einen immer wieder kehrenden Traum, in welchem ein Mann mit einem weißen Kittel auf meiner Bettkante sitzt und etwas in der Hand hat. Etwas Rundes, groß wie eine Bowlingkugel. Nicht so groß wie die mit den drei Löchern zum Greifen, etwas kleiner, auch nicht so bunt, wie man sie von den modernen Bowlingcenters kennt. Grau, wie aus Stein. So eine Kugel, wie ich sie als Bub gesehen habe am Land in einem Gasthaus mit einer Lattenbahn. Er wiegt die Kugel in der rechten Hand und wechselt sie in die andere, hin und her, als würde er mit dieser einen Kugel einen Zweiballtrick versuchen. Er ist ganz versunken in dieses Spiel. Ganz ernst. Plötzlich wusste ich, was er vorhat, aber ich konnte nicht fliehen. Er hob die Kugel hoch, dann hörte ich ihn sagen: Es muss sein!

Der mich behandelnde Arzt hat mir gesagt, dass man im Koma viele solcher Träume habe, um die Nahtoderfahrung zu verarbeiten. Auch die Geschichte mit dem Mantel, meinte er, sei ein solcher Traum, mit dem ich mir rational zu erklären versuche, was mich in diese Situation gebracht hat. Sie leiden unter Wahrnehmungsstörungen, hat er gesagt. Das sei ganz natürlich. Ich müsse mir das so vorstellen, holte er aus: Nach dem heftigen Schlag auf ihre Schädeldecke ist das Gehirn angeschwollen; so, wie das auch andere Körperteile tun würden. Doch unter der Schädeldecke ist dafür kein Platz. Die Schwellung klemmt Blutgefäße ein und gefährdet die Sauerstoffversorgung. Ohne Sauerstoff aber sterben mehr und mehr Nervenzellen ab, mit hohem Risiko für bleibende Folgeschäden. Außerdem …

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ich weiß, dass es nicht so ist. Ich habe keine Bewusstseins- oder Wahrnehmungsstörungen. Ich habe es nicht geträumt. Obwohl ich zugeben muss, dass ich manchmal an meinem Verstand zu zweifeln begonnen habe. Der Mantel nämlich war nicht mehr da und ist nicht mehr auffindbar.

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