Das Narrenkästchen

narr

Er sagte nichts, aber er schwieg auch nicht. Er starrte vor sich hin, wie einer, der ins Narrenkästchen schaut. „Schaust wieder ins Narrenkästchen“, hat meine Oma immer gesagt, wenn ich nur körperlich anwesend war, und mich in eine andere Welt geträumt hatte. In eine Welt, die noch in Ordnung war, als meine Großeltern noch lebten. Ich hatte eine genaue Vorstellung von diesem Narrenkasten. Es war ein Kasten aus Holz mit Gitterstäben und er hatte Räder wie einer von den Zirkuswagen, in denen Tiere aus für mich als Kind sagenumwobenen Ländern wie Afrika hinter den Gitterstäben hin und her gingen, ruhelos, wie ich es viele Jahre später in einem Gedicht von Rilke beschreiben fand, damals, als man Schülern noch zumuten durfte, herauszufinden, was der Dichter mit diesen Zeilen gemeint haben könnte. Nicht so wie heute, wo kompetenzorientiertes Lernen darin besteht, dass du Lückentexte richtig ausfüllen und verwirrende multiple-choice-Fragen beantworten musst, indem du ein X in das richtige Kästchen setzt, um dein Textverständnis unter Beweis zu stellen wie zB.: Um welches Tier handelt es sich? A) Löwe B) Tiger C) Panter.  Aber ich schweife ab. Lass mich das Bild von dem Narrenkasten, das ich mir als Kind gemalt hatte, noch schnell abschließen, bevor ich die Geschichte weiter erzähle, wenn du sie überhaupt hören willst. Manchmal nämlich stand da auch ein Mann in der schwarz-weiß gestreiften Kleidung eines Häftlings im Wagen, der noch von der Ferne wie ein Zebra ausgesehen hatte, und hielt sich an den Gitterstäben aufrecht. Er musste ein Narr sein, weil er Gesichter schnitt, nicht etwa, um mich zu belustigen, sondern, weil er nicht anders konnte. Er tat mir leid. Gleichzeitig stellte ich mir die Frage, ob er denn weiß, dass er eingesperrt worden, aber auch, ob es zu seinem Schutz oder dem meinen geschehen ist. Was sah er, denn er schien durch mich hindurch zu blicken und auf die Frage, wie es ihm denn so gehe, aber auch auf die mir viel Wichtigere, warum er das getan habe, keine Antwort zu wissen schien.

Er schwieg noch immer. Sein unrasiertes Gesicht so nahe an der Glaswand und den Mund am Sprechsieb, dass ich seinen ungesunden Atem roch. Wer von uns beiden war jetzt der Narr? Wer derjenige, der sich in Freiheit wähnte, weil er sich, wie wohl jeder von uns glaubte, auf der anderen Seite der Glaswand mit ihren nicht sichtbaren Gitterstäben aufhielt. „Gott würfelt nicht!“, sagte er plötzlich mitten in das mir peinlich werdende Schweigen hinein. „Wer hat das gesagt?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten: „ Einstein hatte Unrecht. Gott ist der Würfel. Ich weiß nicht, wo ich es gelesen oder gehört habe, aber der Satz hat mich lange beschäftigt: Zufall ist das, wenn Gott anonym bleiben will.“ Dann versank er wieder in sein Schweigen. Was meinte er damit? Was wollte er mir damit sagen? Doch er blieb trotz meiner drängenden Fragen stumm, fuhr sich durch sein schütteres Haar und sein Blick irrte so verloren durch den Raum, als würde er ihn das erste Mal sehen und ihn sich wie eine Landkarte einprägen wollen. Dann flüsterte er geheimnisvoll, und so, dass es der Wache stehende Beamte an der Tür nicht hören konnte: “Wir waren schon einmal hier. Erinnerst du dich?“ Und aus jedem Zusammenhang gerissen: „Warst es nicht du, der immer wieder behauptet hat, das Leben sei ein Tunnel, durch das man hindurch müsse?“ Dann lehnte er sich zurück, verschränkte seine Hände hinter seinem fast kahlen Schädel und zwinkerte mir zu. Wieder sich zu mir beugend, indem er die Hände auf die uns trennende Glaswand legte und mir mit seinen Basedowaugen, die von der Nähe wie blau-weiß geäderte Murmeln aussahen, andeutend, das Gleiche zu tun – es war die Art, wie wir uns immer schon begrüßt hatten, – flüsterte er kaum vernehmbar: „Was für einen Preis erwartest du dir am Ende des Tunnels?“ „Hände weg vom Glas und kein Flüstern, sonst muss ich ihre Unterhaltung abbrechen. Habens sie mich verstanden?“  „Du bist dort und ich hier. Einmal war es umgekehrt? Weißt du noch? Mir tut nicht leid, was ich getan habe. Ich bereue nichts. Außerdem habe ich dafür meinen Preis bezahlt. Ich bin quitt, verstehst du? Mach dir keine Sorgen!“ Jetzt kam der Wärter auf ihn zu, tippte ihm auf die Schulter und sagte: „Nachdem sie meinen Anweisungen nicht folge leisten wollen, ist die Unterhaltung hiermit beendet.“ „Die Unterhaltung war zu Ende, bevor sie begonnen hat, Herr Wieheißensie? Ist auch egal“, meinte er kryptisch, warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu und sagte – jetzt laut und deutlich-, indem er aufstand und noch im Gehen mir zurief: „Es gibt keinen Preis. Es gibt keinen.“ Nachdem ihm wieder die Handschellen angelegt worden waren, drehte er sich ein letztes Mal zu mir um und gab mir den Rat auf den Weg: „Finde dich damit ab. Ich hab das Ende gesehen.“ Und in den Gang hineinschreiend, in den er abgeführt wurde: „Es gibt keinen Preis! Unser Leben ist es und war es schon immer!“

Das Echo seiner Stimme schwang wie eine Glocke im Raum, als es sich entfernte und er sich in das Wüten stürzte, das meinen Namen rief.

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