It was a Feh

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Ein kurzer Blickwechsel und er entführt mich in eine Disko im Dreiländereck, wo ich aufgewachsen bin. Ein heruntergekommener Heustadl mit Stallungen eines aufgegebenen Bauernhofes mitten im Niemandsland saurer Wiesen, weit weg von Bundesstraßen, nur über Schleichwege erreichbar. Seit wenigen Wochen ist dort jeden Samstag die Hölle los. Hier treffen sich  berüchtigte Motorrad-gangs, Rocker, Heavy Metal-Fans. Einer davon Bandmitglied von Horny Sabbath, Schlagzeuger. Mike. Mike Makeup. Weißgepudert, lange schwarze, fette Haare, die bei seinen Schlagzeugsoli  schweißnass werden und ihm wie ein Vorhang vor dem Gesicht hängen, sodass man nicht mehr weiß, wo vorne und wo hinten ist. Legende. Freund eines Schulfreundes. Der: Dann also. Ich: Bist du sicher? Er: Klar. Zwei bullige Türsteher in den Kutten einer Gang mit kryptischen Abzeichen. Viel Leder. Viel Metall. Zum Fürchten. Mike? Kenn ich nicht. Mike Makeup. Wartet! Hämmerndes Wummern von drinnen wie von einem käfiggehaltenen Tier, das raus will. Wir, 17, Pomade im Haar, Hamburgerhosen, spitze Schuhe. Der vorletzte Schrei. Eine Nacht im Herbst kurz vor dem ersten Schnee, die letzte große Party vor dem langen Winter. Auf Brautschau? Unglücklich verliebt? Nein: Sie ist schon drinnen und wartet auf mich. K. ist mit ihrem Bruder da, der auf sie aufpassen soll. Für jedes Treffen eine Schachtel, für jeden ausgetauschten Kuss eine Zigarette oder ich sag’s. Ihr Schatten. Immer da. Vielleicht zwischen den beiden abgesprochen. Wer weiß.

Der zurück gebliebene Türsteher verschränkt seine 10 Finger und drückt jedes einzelne in einer Kapsel eingebettete Gelenk so durch, dass die in der Gelenkschmiere gelösten Gase freigesetzt werden und dabei ein knackendes Geräusch erzeugen, das mir durch Haut und Knochen fährt. Das macht er mit Absicht oder zu seinem Zeitvertreib. Jedenfalls steht er da in seiner aus allen Nähten platzenden Kluft und glotzt in den aufziehenden Nebel, der mittlerweile den alten Mostbirnbäumen, die den Bauern zur Deckung des Jahresbedarfes an alkoholischen Getränken dienen, die Stämme wegrasiert hat. Sein Kollege kommt zurück. Ein sparsamer Wink mit dem Kopf. Eintritt gewährt. Mike Makeup sei Dank oder Puder, wie ein Low Budget Film später titeln wird, der ihn zu seinem Protagonisten gemacht hat, ein Jahr bevor er an seinem Erbrochenen erstickt ist. In diesem spielt er einen von allen angefeindeten Albino mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ein unzulässiger und vor allem ein von der eigentlichen Handlung ablenkender Vorgriff, wie ich eben bemerke.

Sie stehen also mitten unter einer wuchtigen Glocke aus Gitarrenriffs und gutturalem Gebrüll des Leadsängers der Horny Sabbath-Band und versuchen sich zu orientieren. Mike Makeup oder Puder, wie er später genannt wird, sitzt selbstvergessen hinter seiner Schlagzeugbatterie mit 8 Toms und bearbeitet diese mit seinen Drumsticks. Ein Lichtzerhacker bemüht sich neben Sprays, die mit dem Schweißgeruch der Tanzenden und dem von ihnen frei gesetzten Testosteron eine  neue Verbindung eingehen, redlich, die Wahrnehmungs-fähigkeit unserer 5 Sinne bis an ihre Grenzen zu führen. Mein Blick sucht K. Er findet sie. Nicht aber eine K., die ihn sehnsüchtig erwartet, sondern eine K., die sich einen anderen gefunden hat. *

An dieser mit * markierten Stelle wurde ursprünglich K. in die Geschichte eingeführt und erzählt, wie sie aufgewachsen ist, bis sie ihn, mein alter ego, kennen gelernt hat. Es erschien mir zu langatmig. Darum habe ich’s wieder gelöscht. Mit 66 denkt man anders. Trotzdem will ich dir den lyrischen Anfang nicht vorenthalten, damit du weißt, was dir entgangen ist: Aufgezogen wurde die verwaiste Tochter mit Milch und Honig und mit süßem Wein; und Schönheit wurde ihr verliehen, wie kein Mann sie vor ihr sah. Mit einem Tag war sie erwachsen, als die Sonne trat zum zweiten Mal ins zehnte Haus und sie bat, sich zu verstecken… Eine Ode war geplant. Eine Ode an erste Liebe, Enttäuschung, Verrat, heruntergebrochen auf die Erlebniswelt von einem, der im Dreiländereck aufgewachsen ist und zu viele Märchen gelesen hat.

Das kann doch nicht sein, denke ich. Heute Mittag noch hat sie sich mit einem Zungenkuss von mir verabschiedet, der zwei Zigarettenlängen gedauert hat. Das zumindest hat ihr Bruder behauptet. Und der muss es wissen. Und jetzt? Jetzt hängt sie Wange an Wange wie willenlos in den Armen eines halbstarken Benzinbruders, eines Bierbauchbikers mit tätowierten Schweineohren groß wie Rückspiegel, wahrscheinlich der Lärmpeter in seiner MC. Beide tun so, als würden sie tanzen. Ein Paarungsritual, wenn du mich fragst. Von einem Tanz weit entfernt. Geht ja auch nicht mit diesen Klingonenstiefeln, mit denen er über den Tanzboden schlurft. Die Kutte voll mit Colours und Patches und Aufschriften wie: Wer später bremst, hat mehr vom Gas. Oder: Wer Gewalt sät, kann die Ernte gleich mitnehmen! Oder: Wir sind die, mit denen du als Kind nie spielen durftest Ich stehe vor ihm. Er hat seine Pratzen noch immer auf dem Hinterteil von K. ruhen, die mich jetzt anschaut, als wäre ich der sprichwörtliche Frosch, mit dem Essen und Bett zu teilen ihr Vater befohlen hat. Ich tippe auf seine Schulter. Er schnellt herum, taxiert mich mit einem Blick: Was willst? Ich: Mit K. tanzen. Mit K. tanzen, äfft er mich nach. Die gehört mir. Verstehst? Und jetzt verschwinde, du Rotzfrosch! (Google-Übersetzung: Am Auspuff eines erfahrenen Motorradfahrers schnüffelnder Sandkastenrocker). Ich – in meiner Ehre gekränkt – (Ja, auch solche in Hamburgerhosen haben eine, und schon damals wusste ich auch ohne Google, das Rotzfrosch keine mir schmeichelnde Beschreibung war) ziehe nicht etwa die Backenbremse, welche unter Benzinbrüdern als einzige Möglichkeit der Verzögerung gilt, einen Sturz vielleicht noch abzufangen, um keine Bodenprobe nehmen zu müssen, wenn eine Kurve zu schnell angegangen worden ist, nein, ich schippe auf und gehe dabei bis in den roten Bereich: Hast’es kauft? Ich meine K. Hast du sie gekauft? Dann geht alles sehr schnell und trotzdem geschieht es in Zeitlupe. Ein Faustschlag streckt mich zu Boden. Alles stiebt auseinander. Die Bilder frieren ein, bewegen sich wieder, frieren ein. Auf der Timeline eine Stille, die ich heute noch hören kann. Mike Makeup steht vor seiner Batterie. Die Drumsticks holen zwar aus, sausen aber nicht mehr nieder auf die Felle seiner 8 Toms. K.‘s von Entsetzen geweitete Rehaugen schauen auf mich herunter. Die Spitze eines Klingonenstiefels mit ziselierten Schnallen trifft das Nasenbein. Und ich, der Rotzfrosch, bin noch immer kein Prinz. Dann schwarz.
Abspann. Ein Abspann ohne Credits. Doch. Jetzt kommen sie. Ein Sturzbach von Namen für Haupt- und Nebendarsteller, Kostüm, Drehbuch, Filmschnitt. Dahinter ein leergefegter Tanzboden. Ein Mann im Schoß einer Frau. Diese Einstellung soll an Michelangelo’s Pieta erinnern. Bewusstlos? Tot? Nein. Er schlägt die Augen auf. Seine Nase eine klaffende Wunde, aus der Blut rinnt. Die Sirene einer Ambulanz. K. nimmt ein Taschentuch nach dem anderen und tränkt es mit seinem Blut. It’s a Feh!

Er zwinkert ihm zu, ihn zu einer Geschichte herausfordernd, die es mit seiner aufnehmen kann. Sein Ich von damals ist dabei sich zu verabschieden. Die Brücke, das Wurmloch in die Parallelwelt, ist weg. Er winkt ihm nach. Jetzt steht er wie verloren vor dem Spiegel und weiß nicht einmal mehr, warum er ein Taschentuch in der Hand hat. Oh! It was a Feh.

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