03 Aug In Ratan Geschichte schnuppern
Wir sind hier in einem Gebiet, das schon zu prähistorischen Zeiten besiedelt war. Nur wenige Autostunden von hier entfernt, befinden sich die frei zugänglichen Felszeichnungen von Nämforsen, von denen wir Abbildungen im Västerbottenmuseum gesehen haben. 3000 in den Stein geritzte „Grafittis“ von Elchen, Fischen und Fischerbooten, mit einem ähnlich leuchtenden Rot wie dem Anstrich der Holzbauten, erzählen vom Leben in der Steinzeit.
Heute aber geht es mit dem Motorboot nach Ratan, einem kleinen, an der Küste gelegenen Dorf, das auf eine jüngere, aber bewegte Geschichte zurückblickt. Wenn man die wenigen Häuser sieht, würde man nicht glauben, dass dieser Ort mit seiner vorgelagerten Insel einmal der größte Hafen, Zollstelle und Umschlagplatz für die Waren und Bodenschätze aus Norland waren. Holz, Wolle, Silber, Blei und vor allem Eisen. Noch heute nimmt die Gaunersprache mit der Redewendung „Hinter schwedischen Gardinen“ Bezug auf die Qualität schwedischen Stahls und meint damit die ausbruchsicheren Gitterstäbe von Gefängnissen.
1809 kam es hier zu einer Schlacht zwischen russischen und schwedischen Truppenverbänden. Nach der Niederlage musste Schweden Finnland an Russland abtreten und zeigte seit damals keine Gelüste mehr Krieg zu führen. Dass es nicht in den zweiten Weltkrieg hineingezogen wurde, verdankt Schweden Glück und Taktik. Trotz nationaler und internationaler Kritik hat es der deutschen Wehrmacht erlaubt, Truppen- und Gütertransport von und nach Norwegen über schwedisches Territorium zu führen, ein Zugeständnis, das wohl der Preis für den Frieden war. So blieb es seit 200 Jahren wie die Schweiz von all den blutigen Auseinandersetzungen in Europa verschont. Daran soll sich, wenn es nach der Mehrheit der Bevölkerung geht, auch nichts ändern. An der Neutralität wird festgehalten und keine Regierung bekäme eine Mehrheit, wenn sie die Neutralität aufgeben oder ein Bündnis mit der NATO eingehen wollte. Als silent player aber hält sich Schweden wie Österreich im Hintergrund.
Pär zeigt uns eine uralte Kirche mit einem Jahrhunderte alten Friedhof und einer Sonnenuhr, die aus einem in die Erde gerammten Eisenpfahl besteht, dessen Schatten auf halbrund in der Wiese liegende Steine zeigt. Wir erfahren, dass es Konflikte zwischen der schwedischen und samischen Bevölkerung, aber auch unter ihnen selbst gibt: Auf der einen Seite Streitigkeiten wegen der Entschädigungen, die ihnen für die Einkommensverluste nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 für die über 70.000 verseuchten Rentiere von der Zentralregierung ausgezahlt werden, andererseits, weil sie den Schweden, die sich in ihr Siedlungsgebiet verirren, das Fischen in den Gewässern und Jagen in ihren Wäldern verbieten, wenn ich das richtig verstanden habe, und nehmen so späte Rache für die ausbeuterische Kolonisierungspolitik ihrer ehemaligen Unterdrücker, die sie in den Silberminen als Sklaven hielten. Das Siedlungsgebiet der Samen, das sie selbst „Sápmi oderSame Ätnam nennen, erstreckt sich über Norwegen, Schweden, Finnland und der Halbinsel Kola bis in die Ukraine. Von den geschätzten 100.000 Samen, die Zahlen variieren, leben etwa 15 000 in Schweden.
Zurück auf der Insel wird ein Picknick auf den Felsen vorbereitet, die rundbuckelig und wie gestrandete Wale das Ufer der kleinen Insel gegen den bottnischen Meerbusen säumen. Das Wasser ist kalt, aber klar und die Hitze so groß, dass wir immer wieder ein Bad nehmen. Wer die absolute Stille und Einsamkeit sucht, ist im Land der Mitternachtssonne am Ziel seiner Träume. Mit über 450.000 Quadratkilometern ist es mehr als zehnmal so groß wie Österreich bei fast gleicher Bevölkerungszahl. Und wer darüber hinaus so gastfreundliche Leute kennt, wie Lena und Pär es uns gegenüber waren, der kann nicht mehr anders, als für Schweden, seine Menschen, mit ihrem oft hintergründigen Humor, und seine oft urzeitlich anmutenden Landschaften Werbung zu machen.
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