11 Jan Die Straße im Wüstenrot
Die Straße ist noch nicht geteert. Fuhrwerke hinterlassen Rillen, in welchen sich das Wasser sammelt, wenn es geregnet hat. Anfang und Ende der Straße verlieren sich in jeder Blickrichtung am Horizont, da es auf beiden Seiten bergab geht. Sie ist von Häusern gesäumt, die alle gleich ausschauen. Sie wurden mit Hilfe von Wüstenrot gebaut. Das war kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Sie sind also nicht älter als ich. Sie stehen nicht eng, Haus an Haus, nur getrennt von Garageneinfahrten wie in anderen Siedlungen; zwischen ihnen ist Raum, da zu jedem Haus ein kleiner Garten gehört, in dem früher, als ich noch ein Kind war, alles angebaut wurde, was die Geldbörsen der hier angesiedelten und zu jener Zeit noch kinderreichen Familien entlastet hat. Manche Häuser sind neu verputzt worden, andere durch Zubauten kaum wieder zu erkennen. Ganz wenigen sieht man die Zeit an. Da bröckelt die Mauer, und die Hauswand ist so grau wie der Himmel im November. Ich bin in einem von ihnen groß geworden.
Gegenüber dem Haus, in welchem meine Geschwister und ich aufgewachsen sind, ist eine Wiese. Auf dieser Wiese spielen wir mit den anderen Kindern „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ oder „Räuber und Schande“. Noch weiß ich nicht, wer mit dem schwarzen Mann gemeint ist, noch dass Schande von Gendarmerie kommt. Aber beides macht gleich viel Spaß, der Jäger oder der Gejagte zu sein. Schwarz jedenfalls ist immer etwas Unheilvolles. Wer zB. beim Kartenspiel den schwarzen Peter als letzter in der Hand hat, der hat verloren. Drum willst du ihn so schnell wie möglich loswerden und freust dich, wenn du ihn angebracht hast. Schwarz ist bös. Wenn du der schwarze Mann bist, und alles schreiend vor dir auseinander stiebt, bereitet dir das großes Vergnügen, Auslöser einer solchen Angst zu sein, dass jeder und jede vor dir davon rennt. Du bist zwar mächtig, aber du bist allein und das ist auf Dauer nicht lustig. Lustangst aber ist die schönste Angst. Die zu erleben, ist Sinn und Zweck von Kindheit. Zuerst müssen die Grenzen ausgelotet und die Mutproben bestanden werden, die uns auf die Prüfungen vorbereiten helfen, die wir später zu bestehen haben werden, wenn wir groß geworden sind und ausziehen und uns auf den Weg machen in die große Welt.
Noch sind Straße und Garten unsere Welt. Auch sie ist groß. In den Gärten sind viele Obstbäume. In manchen Ställe für Hühner und Hasen. So auch in unserem. Mein Großvater hat eine Werkstatt. Er zeigt uns, wie man Nägel wieder gerade klopft. Er hilft uns Stelzen zu bauen. Mit diesen sind wir fast so groß wie er. Wir helfen ihm, die Zwetschken und Birnen zu ernten. Von diesen gibt es so viele, dass Opa sie sogar verkaufen kann. Oma kocht ein. Das ganze Haus riecht nach Zucker. Im Herbst prüft er, ob die Birnen schon reif sind. Dann pflückt er eine vom Baum und ruft uns. Er nimmt ein Taschenmesser aus seiner Hose, zerteilt die Frucht und legt uns die Scheiben auf die Zunge. Aus dem Birnenschnitz ist eine Hostie geworden, aus dem Großvater ein Priester.
Wir gehen lieber ins Totenschauhaus als in die Kirche. Die Toten liegen in einem Sarg und haben über der Bettdecke die Hände ineinander gefaltet. In den ineinander gefalteten Händen steckt ein Kreuz. Sie liegen in einem Bett und sind trotzdem angezogen. Sie verscheuchen die Fliegen nicht, obwohl sie ihnen über die Augen kriechen, die geschlossen sind. Das Gesicht und die Hände sind fast so weiß wie die Lilien, die auf der Bettdecke liegen, oder das Wachs der Kerzen, die neben dem Sarg abbrennen. Sie liegen auf dem Rücken. Das kann kein Schlaf sein, das weiß ich, weil ich das nicht lange aushalte, auf dem Rücken zu liegen, ohne irgendwann die Lage zu wechseln und mich umzudrehen. Sie schlafen nicht. Sie sind tot. Aber was ist das, Totsein? Oma sagt: Wenn man tot ist, kommt man in den Himmel. Opa sagt, man kann auch in die Hölle kommen. Also, was jetzt? Und wie ist das so, im Himmel oder in der Hölle? Im Himmel sind einem Flügel gewachsen, und man singt Tag und Nacht, und ist ein Engel, der fliegen kann. In der Hölle hat man einen Pelz und bekommt Hörner und einen Schwanz, und schaut aus wie der Teufel und muss Kohlen schippen, und den Höllenofen heizen und das Tag und Nacht. Ich möchte weder in den Himmel noch in die Hölle. Das Fegefeuer gefällt mir auch nicht. Das ist wie Warten beim Zahnarzt. Ich möchte, dass der Schmerz endlich aufhört, aber ich weiß, dass es wehtun wird, damit er aufhören kann. Ein ganz und gar unmöglicher Vergleich. Vollkommen unlogisch, aber logisch zu denken ist Sache der Erwachsenen.
Mein Zahnarzt ist eine Frau. Sie hat einen weißen Kittel und furchtbares Besteck, das mir höllische Angst macht. Keine Lustangst. Sie bohrt sogar noch, wenn ich weine und sie mit den Augen anflehe aufzuhören. Sie kennt kein Erbarmen. Ich bin froh, dass sie nicht meine Mutter ist. Buben weinen nicht, sagt sie. Das ist unmännlich. Ganz und gar unmännlich.
Wenn ich beim Radfahren auf der mittlerweile gekiesten Straße einen Stern reiße, und die scharfkantigen Kiesel zwischen den Hautfetzen am Knie nur mit Pinzette entfernt werden können, nehme ich mir fest vor ein Mann zu sein. Kaum aber träufelt mir Oma ihre aus Arnika gebraute Medizin auf die Wunde, will ich lieber weinen als ein Mann sein. Mädchen dürfen weinen und Frauen dürfen weinen; nur wir Buben nicht. Das ist unfair.
Wenn Winter ist, macht Opa im Schnee Turnübungen. Er ist barfuß und hat nur eine lange Unterhose an. Wenn er die Beine grätscht und die Hände über dem Kopf zusammen klatscht, erinnert er mich an den Aufziehkasperl über meinem Bett. Auf seiner rechten Bauchseite ist ein Loch. Da ist eine Kugel durch gegangen. Vorne rein, hinten raus. Ein Lungendurchschuss. Ich darf meinen Finger in das Loch legen. Das hat er vom ersten Weltkrieg, wo er in den Bergen gekämpft hat. Später weiß ich, dass es die Dolomiten waren.
Die Guten kommen in den Himmel und die Bösen in die Hölle, sagt Opa. Aber wer entscheidet das? Bin ich gut, wenn ich brav bin? Ich bin brav, wenn ich alles aufesse, auch wenn ich keinen Hunger habe oder es mir nicht schmeckt. Ich bin brav, wenn ich meine Zähne putze. Wenn wir streiten, dann sind wir böse. Auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten habe ich Peter zugeschaut. Er hat eine Fliege gefangen und sie in ein Marmeladeglas gesteckt. Er will wissen, wie lange sie darin überleben kann. Sie ist von ihren Rettungsversuchen so ermattet, dass sie es aufgegeben hat; aber sie lebt noch. Peter nimmt sie und reißt ihr die Flügel aus. Sie lebt noch immer. Als er ihr auch noch mit einer Schere die Füße abtrennt, laufe ich davon. Ich höre noch das „Feigling“, das er mir nachruft, und sein Lachen, das er mir hinterher schickt. Seither habe ich Angst vor ihm. Ist Peter böse? Bin ich es, weil ich nicht eingegriffen habe? Warum habe ich zugeschaut und nichts gesagt? Wollte er wissen, wie weit er gehen muss, mir Angst vor ihm zu machen? Warum hat mich seine Grausamkeit zuerst in Bann geschlagen, dann erst abgestoßen? Er hat mich zum Komplizen gemacht. Kann sein, dass wir beide böse sind, aber nicht ganz so böse wie unser Nachbar. Der kommt bestimmt in die Hölle. Er hat Akim, unsere Katze, an einem Strick aufgehängt und dann über den Zaun in unseren Garten geworfen, weil sie ihm in die Garage geschissen hat. Kommen Tiere auch in den Himmel?
Selbst die Veränderungen, welche die Bauwut der zurückliegenden Jahre verschuldet hatte, in denen er sich seiner Herkunft entronnen glaubte, konnten ihn nicht täuschen; hier war die Zeit stehen geblieben oder angehalten worden.
Die Straße, die zum Haus führt, war leer und doch spielt mitten auf ihr ein Kind mutterseelenallein mit einem Hund aus Holz, den es auf Rädern an einer Schnur hinter sich herzieht. Plötzlich fällt der Hund das Kind an; und lichterloh brennt die Kamera, mit der er die Szene einfangen hat wollen. Wie steht er nun da? Das Kind, das er portraitieren wollte, war weg, der Hund, der es angefallen hatte ebenso wie die brennende Kamera. Nichts war ihm geblieben als diese Abfolge von Bildern, die nur in seinem Kopf existierten. Traumbilder, die im Fliehen sich jagen und gegenseitig vernichten. So gegenwärtig wie vergangen, so verloren wie gefunden: wie ein Schatz, den man birgt, obwohl er wertlos ist; den man behält, weil seine Bergung fast unüberwindbare Schwierigkeiten bereitet oder beinahe das Leben gekostet hatte. Etwas, das man erst besitzt, wenn man es verloren hat.
Er wollte davonrennen, wie man in einem Traum fliehen will und sich nicht rühren kann, weil beide Beine in Zement eingegossen sind. Es musste wohl ein Traum gewesen sein, denn ihm war, als sähe er noch die mit Kreide aufgetragenen, aber vom Regen schon halb weggewaschenen Kreuze mit dem Himmel und der Hölle, in denen sie mit Sprungseilen Tempel hüpften, bis es Nacht war. Als hörte er die Auszählreime: „Ene, mene muh und raus bist du!“, wenn sie Blindekuh spielten, und er kein Versteck suchen musste, weil es ihm genügte, die Augen zu schließen, um nicht mehr gesehen zu werden; als sähe er sie in gespielter Panik auseinanderstieben, um die Furcht vorm schwarzen Mann zu zeigen. Sie, die Kinder, die sie waren damals in jener fernen Zeit, in welcher er sich nur mit gekreuzten Beinen auf einen Teppich setzen musste, um mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen fliegen zu können.
Views: 6
No Comments