Die Generalprobe

katzeDas mit der neuen Einstufung für den Pflegebedarf vergiss, Bub, sagt sie, seine Mutter. Da muss man schon auf dem Weg in die Grube sein; nicht einmal, wenn ich im Rollstuhl sitzen tät oder nicht mehr wissen, wie ich heiß, krieg ich das. Weißt, die von der Gebietskrankenkasse brauchen das Geld für was anderes. Die sparen, wo’s geht. Musst dir nur einmal anschauen, was die sich für Paläste bauen.

Aber versuchen können wir’s doch. Dann hättest auch Geld für mehr Betreuung. Das ist zu wenig, dass nur einmal am Tag wer kommt und nach dir schaut.

Wenn du meinst?, sagt sie, und es wundert den Bub, dass sie so schnell nachgibt, da sie nach dem letzten Mal beschlossen hat, sich nicht noch einmal verhören zu lassen.

Aber diesmal darfst dem Arzt von der Versicherung nicht wieder sagen, dass er sich keine Sorgen machen soll, weil du noch sehr gut für dich selbst sorgen kannst, und du schon zurechtkommst. Das kannst du nämlich nicht mehr, für dich sorgen.

Ja, das weiß ich selber, Bub, dass ich das nicht mehr kann. Aber was soll ich denn antworten, wenn er mich wieder fragt, wann ich geboren bin? Ein bisschen müsst‘ ich den Dement schon haben, aber noch nicht ganz blöd im Kopf sein, oder?

Mama, sagt der Bub, das heißt „Demenz“. „Die Demenz“.  Sie ist weiblich, nicht männlich. Den Dement gibt’s nicht.

Ich kenn ihn nur männlich, sagt sie, keine Widerrede duldend.

Gut, sagt er, von mir aus. Du könntest sagen, dass es vor dem Krieg war, dem letzten, wie du auf die Welt gekommen bist, wenn er dich wieder nach dem  Geburtsdatum fragen sollte, schlägt ihr Bub jetzt vor. Das ist nicht falsch und auch kein Beweis für deinen Dement.

Die meisten Krankheiten sind männlich, sagt sie nach einer kurzen Pause des Nachdenkens, und zählt auf: der Krebs, der Blinddarm, der Star…

Und warum sind dann Prostata und Impotenz und Inkontinenz weiblich?, fragt sie der Bub, obwohl er weiß, dass sie jetzt immer weiter vom eigentlichen Thema wegkommen.

Das heißt Inkonsistenz, korrigiert sie mich. Das müsstest wissen, Bub, warst doch einmal Deutschlehrer. Ich weiß es, weil ich war Krankenschwester im Krieg. Der ganze Tanzsaal voll mit Betten und die Oberschwester in der Kapelle, weil sie beten hat müssen, und der Arzt hat g’schlafen und ich ganz allein in der Nacht mit über 100 frisch Verwundeten von der Front in Afrika. Die meisten amputiert und kein Morphium mehr. Kannst dir das vorstellen? Krepieren lasst ihr uns hier, elend krepieren, hat einer immer wieder geschrien. Und dann der Fliegeralarm. Eigentlich hätten wir in den Luftschutzkeller müssen, aber es hat ja niemand geben, der sie hätt‘  tragen können dorthin. Krieg ist furchtbar, Bub. Aber den hat’s und wird’s immer geben. Einmal, da hat…

Mama, sagt der Bub, weil er die Geschichte schon kennt und weiß, dass, wenn sie einmal in Fahrt kommt, es kein Halten mehr gibt, – wir sollten jetzt darüber reden, wie wir das Morgen mit dem Arzt machen wollen? Wie wär’s, wenn wir das Ganze einmal durchspielen? Ich bin der Arzt und stell‘ dir Fragen, wie zum Beispiel. Wann sind sie geboren, Frau… ?

Weißt du, was ich der Pflegehilfe g‘schenkt hab zu Ostern?

Nein, sagt der Bub entnervt, aber bereit, dieses Abschweifen vom Thema noch einmal hinzunehmen.

Ich hab ihr einen Gutschein für Freistunden g‘schenkt. Weißt, die kann’s brauchen, und ist auch einmal froh, wenn’s einmal nicht kommen muss. Die hat ein Haus mit Schulden bei der Bank und jetzt, wo die Schweizer Franken über Nacht …es ist ja auf nichts mehr Verlass… kannst dir denken, wie sie bei‘nander ist, die vom Pflegedienst?

Mama, versucht es der Bub von neuem, Morgen kommt der Arzt von der Pensionsversicherungsanstalt. Da musst du im Bett bleiben, wenn er kommt, versprichst du mir das?

Was für ein Arzt denn?

Mama, brüllt der Bub, wo ist dein Hörgerät?

Mein Hörgerät? Weißt, das braucht neue Kapseln. Außerdem tut es weh, und es pfeift immer so. Altwerden ist nicht lustig, Bub. Nichts für Feiglinge, hat er g’sagt. Wer war das, der das g’sagt hat? Altwerden ist nichts für Feiglinge, hat er g’sagt. Der Schauspieler war’s, der Fuchsberger. Jetzt hab‘ ich’s wieder. Siehst, bin noch nicht ganz verkalkt. Weißt, wen ich unlängst g’sehn hab‘ im Fernseh’n?

Mama, versucht der Bub sie zu unterbrechen….

Irgendwer klaut mir das Fernsehprogramm aus der Zeitung. Ich sollt‘ mich mal auf die Lauer legen, wenn er kommt mit der Zeitung.

Ja, aber was willst du sagen, wenn er dich nach dem Geburtsdatum fragt?, lässt der Bub nicht locker.

Ich sag, ich kann mich nicht mehr erinnern, Herr Doktor. Das muss vor dem Krieg g‘wesen sein. In den Zwanzigern. Und jetzt rechnen’s z’rück! Kann ich das so sagen?

Jetzt weiß der Bub, dass die Generalprobe geglückt ist, macht sich aber Sorgen, ob’s bei der Premiere morgen auch klappen wird.

Der Morgen ist angebrochen und der Arzt hat Platz genommen in dem Stuhl, der neben ihrem Bett steht, damit sie nicht herausfällt. Das passiert, weil sie der Katze und den vielen Büchern und Zeitungen mehr Platz einräumt als sich selbst. Er sitzt ziemlich steif und ein bisschen verlegen auf diesem Stuhl, dem die linke Lehne fehlt, von dem sich Mutter aber nicht trennen will, weil das der Stuhl vom Vater war. Er sucht verzweifelt einen Platz für seine Tasche, aus der er umständlich einen Notizblock herausnimmt und die  Dokumente von früheren Untersuchungen, die der Bub wegen Erhöhung der Pflegestufe beantragt hat. Er steht, um als Dolmetsch zu dienen. So viel zum Setting der Premiere.

Der Arzt – den Umgang mit Schwerhörigen sichtlich nicht gewohnt – fragt; die Mutter schaut ihn entsetzt und ganz bestürzt an, der Bub wiederholt brüllend die gestellte Frage. So geht das drei Mal hin und her, bis der Arzt aufgibt und gleich dem Sohn die Fragen stellt. Mutter lässt sich entspannt in ihre Kissen zurück fallen. Jetzt aber will der von der Pensionsversicherungsanstalt bestellte Arzt wissen, wie gut sie noch gehen kann.

Mama, brüllt der Bub. Der Arzt will wissen, wie gut du noch gehen kannst?

Die Mutter quält sich ächzend und stöhnend aus dem Bett, stützt sich auf dem Knie des Amtsarztes ab, dann auf dem Tisch, wobei sie fast die Tischdecke mit den aufgeschichteten Bergen an Büchern, Nippes, getrockneten Blumen und fein säuberlich ausgeschnittenen Zeitungsartikeln mitreißt, wankt zur Tür, wo sie der Arzt zurückruft, um Schlimmeres zu verhindern. Mutter tastet sich wieder zurück und lässt sich erleichtert ins Bett fallen. Der Arzt schreibt. Mutters fragender Blick ist auf ihn gerichtet, ihrem Bub, der bald auf die siebzig zugeht. Sie will wissen, ob sie es bis jetzt gut gemacht hat. Er schenkt ihr einen verstohlenen, aber verständnisinnigen und verschmitzten Blick und einen versteckten Daumen nach oben. Ja, es scheint zu funktionieren.

Es ist ja nicht so, dass sie das alles wirklich spielen muss. Vorgestern erst hat sie der Bub im Vorzimmer auf dem Boden liegend gefunden, weil sie auf dem Teppich ausgerutscht ist und nicht mehr aufstehen hat können. Sie habe sogar die Nummer von der Feuerwehr im Kopf g‘habt, hat sie ihm dann erklärt, aber den roten Knopf am Armband, den vom Notdienst, den drücke sie nicht mehr, weil die sie dann gleich mitnehmen würden ins Spital, und dorthin bringen sie keine zehn Pferde nicht. Denn ich weiß ja, wie das ist im Spital; war ja lange genug Krankenschwester, hat sie gemeint, und damit war das Thema erledigt.

Auch das Essen kann oder sollte sie sich nicht mehr selbst zubereiten, weil sie den Herd abzudrehen vergisst. Da nützt auch der Brandmelder nichts, weil sie’s nicht hört. Die Erhöhung der Pflegestufe aus der Sicht ihres Buben also, aus der seiner Geschwister und der sie betreuenden Personen mehr als gerechtfertigt. Sie liegt beileibe in keiner sozialen Hängematte und begnügt sich seit Jahren mit dem Wenigen, das sie hat und auch das teilt sie mit denen, die noch weniger haben, denkt er – das Schweigen überbrückend, während der Arzt die Chronik vergleicht, in den Unterlagen herumwühlend, und sich emsig Notizen macht.

Wie das ausgegangen ist? Ja, lange war alles im grünen Bereich. Während der Arzt fleißig seine Notizen gemacht hat, hat sie sich aufgesetzt, ihm mit dem Finger auf die Knie getippt, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hat sich dann vorgebeugt und ungefragt, aber verschwörerisch gemeint: Wissen Sie, Herr Doktor, ich bin auch noch inkonsistent. Der Arzt konnte sie gerade noch zurück halten, denn sie wäre vermutlich auch dazu bereit gewesen, ihm die Windel zu zeigen. Nicht mehr ganz dicht, hat sie noch hinzugefügt, wenn Sie verstehen, was ich mein‘.

Ihm jedenfalls hat das alles ziemlich zugesetzt und er wollte dann auch schnell sein Verhör zu Ende bringen. Leider ist sie bei der letzten Frage aus der Rolle gefallen. Er wollte nämlich wissen, welche Tabletten sie nimmt. Da ist sie aufgesprungen aus ihrem Bett und wieselflink in die Küche gehuscht, um mit der Tablettenschachtel wieder zu kommen.

Ob es seine Entscheidung beeinflusst hat, kann der Bub nicht sagen. Jedenfalls hat er sich mit ihm dann noch länger über Vorzüge und Nachteile von Tomtoms unterhalten, weil das Navi vom Arzt ihn zuerst in die Pampa geschickt hatte, bevor er auf einem Stadtplan die Adresse schließlich doch noch gefunden hat.

Und, … wie war ich?, hat sie ihren Buben dann gefragt. Aber nützen wird’s nichts, hat sie gleich dazu gesagt. Wirst schon seh’n. Weißt, Altwerden ist nicht schön. Vor dem Tod hab ich keine Angst, nur vor’m Sterben. Aber warum soll ich mir Gedanken machen? Es sind schon so viele vor mir ‚gangen und haben’s auch überlebt, oder?

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