06 Dez Sarajevo: Updated
Hier mein zweiter Bericht aus Sarajewo: lost in transition!
Schon die Ankunft war abenteuerlich. Wegen Bodennebels konnte das Flugzeug der Austrian Airlines in Sarajewo nicht landen und musste nach Dubrovnik umgeleitet werden. Bis auf die wenigen Ausländer an Bord schien das die Einheimischen nicht sonderlich aufzuregen. Es würden Busse zur Verfügung gestellt werden, die uns auf dem Landweg nach Sarajewo bringen. Wer zurück nach Wien wolle, könne im Transferraum bleiben, bis das Flugzeug wieder startbereit sei. In sechs Stunden, wenn nichts dazwischen käme, würden wir dann in Sarajewo sein. Aber es kam viel dazwischen. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Nicht nur das: Ich kam mit vielen Einheimischen ins Gespräch und konnte so mein spärliches Wissen um die aktuellen Ereignisse seit meinem letzten Besuch im März auffrischen. So hat alles auch sein Gutes.
Eine geschlagene Stunde mussten alle Passagiere auf die Busse warten. Dann waren drei Grenzen zu überwinden. Bosnien Herzegowina hat einen 20 km breiten Korridor an der Adriaküste, der zu Ein- und Ausreise zwingt, da von Neum aus die Straße nach Mostar für Überlandbusse eine Zumutung ist. Das soll sich bald ändern, da Kroatien eine Brücke zur Umgehung dieses Korridors plant. Nicht unbedingt zur Freude der in der kleinen Küstenstadt Neum angesiedelten Menschen, da es die Touristenströme über Kroatien umleitet. Bei der neuerlichen Einreise nach Bosnien kann eine Passagierin ihren Pass nicht mehr finden. Das nahm wieder eine Stunde in Anspruch. So kam ich um etwa Mitternacht auf dem Gelände des Flughafens in Sarajevo an, wo alle anderen von Familienmitgliedern oder Taxis abgeholt wurden. Mein Dilemma war, dass ich kein Geld bei mir hatte, da ich davon ausging, es nach der Landung über ATM von meiner Karte abzubuchen. Das Handy tot. Low Battery. Also begann ich mich – den schweren Rucksack schulternd – auf den Weg in die Stadt zu machen. Wenn ich nicht unterwegs schlapp machte, würde es wohl drei Uhr morgens sein, wenn ich im Hotel ankäme. One and a half, maybe two hours müsse ich veranschlagen, meinte ein Mann mitleidvoll beim Einsteigen in ein übervolles Taxi. Viele hier sprechen Englisch, aber auch Deutsch, wie ich schon einmal feststellen durfte. Aber wieder hatte ich Glück. Ich war kaum eine Viertelstunde unterwegs, hielt ein Auto. Eine Frau, die aus Brüssel kommend von ihrem Sohn abgeholt worden war, nahm mich mit, verständigte das Hotel über meine verspätete Ankunft und ich war mit elfstündiger Verspätung am Ziel. Wie sich im Gespräch herausstellte, war sie eine Nachfahrin der Ahskenasim, die 1492 auf dem Höhepunkt der spanischen Inquisition von der damals ottomanischen Provinz in Bosnien aufgenommen worden sind und bis 1941 beinahe 20% der Bevölkerung in Sarajevo ausmachten. Nach dem Holocoust und dem von den bosnischen Serben geführten Krieg 1992 bis 1995 sind die meisten nach Israel ausgewandert und nicht mehr zurück gekommen.
Es war mein zweiter Aufenthalt in Sarajevo, der Hauptstadt der Föderation Bosnien-Herzegowina in diesem Jahr. Wer sich auch nur eine Woche in ihr aufhält, erliegt ihrem Charme, der an eine ältere Dame erinnert, die um ihre vergangene Schönheit weiß, aber kein Rouge aufträgt, um die Falten und Risse zu verbergen. Gut. Das ist eine romantisierende Sicht auf die Stadt, die wegen des lange Zeit friedlichen Miteinanders vieler Religionsgemeinschaften auch als das Jerusalem Europas galt, seit dem Krieg aber, in der die Stadt von Artillerie und Heckenschützen über drei Jahre in Geiselhaft gehalten worden war und über 10.000 Tote zu beklagen hatte, wie in Schockstarre verharrt. Hier hätte ein Trump recht, wenn er behauptet: „The system is ricked!“ Korruption und Bürokratie lähmen und blockieren die Wirtschaft. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 67% und ist die höchste Europas. Wer kann, verlässt das Land. „Das Abkommen von Dayton hat den Krieg zwar beendet“, meint Ismet, ein Taxifahrer, der immer wieder aussteigt und im serbischen Teil der Stadt wegen Lizenzstreitigkeiten das Taxischild vom Autodach nimmt und es im bosnischen wieder montiert, „aber die Bürokratie hat wahnwitzige Dimensionen erreicht. Wir sind nicht einmal 4 Millionen und haben 160 Abgeordnete und eine halbe Million der Beschäftigten sind Beamte.“ Er spricht gutes Deutsch, da er im Krieg mit 12 Jahren zusammen mit Schwester und Tante nach Österreich geschickt worden war und in Eichgraben zur Schule gegangen ist. „Es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich bin nur wegen meiner Eltern zurückgekommen“, sagt Ismet, und es schwingt ein bisschen Bedauern mit in Stimme und Mimik; Bedauern darüber, nicht in Österreich geblieben zu sein. „Meine Schwester und meine Tante sind jetzt Österreicherinnen, verheiratet und haben Kinder.“ Das Thema Korruption und Bürokratie wieder aufgreifend, meint er seufzend: „Wissen Sie, der Westen hat zwar geholfen und der Staat ist noch nicht kollabiert, aber es gibt seit 25 Jahren keinen Aufschwung, keine Investitionen in die Infrastruktur – die Wasserpipeline zB. verliert 70%, was dazu führt, dass es in vielen Vierteln am späten Abend kein Wasser gibt. Hier, schau! Siehst du das? Das war ein Hotel. Eine ausgebrannte Ruine. Davon gibt es viele.“
Natürlich durfte der Tunnel nicht fehlen, der unter der Piste des Flughafens 800 m lang für Zigtausende der einzige Weg in die Freiheit war.
Ich werde seine Ausführungen an dieser Stelle nicht mehr transkribieren, da ich eine multimedial aufbereitete Dokumentation über meine 2 Aufenthalte plane, weil ich Gelegenheit hatte, mit vielen Menschen, besonders jungen, ins Gespräch zu kommen und diese in Ton und Bild aufzuzeichnen.
Am letzten Tag und getaner Arbeit – ich durfte (eingeladen vom Community Radio in Wien Wien/Orange 94.0) einer Gruppe jugendlicher Journalistinnen aus den Ländern des ehemaligen Yugoslawien helfen, Radiobeiträge zu aktuellen Themen ihre Heimatländer betreffend mitzugestalten -, bitte ich Ismet, mir die Stadt zu zeigen. Er bringt mich auf die Hügel des serbisch dominierten Teiles von Sarajevo, von wo aus die Sniper drei Jahre lang die Bewohnerinnen der Stadt in Angst und Schrecken versetzten; er zeigt mir den jüdischen Friedhof, die zwischen den verschachtelten Häusern angelegten christlichen, orthodoxen oder muslimischen Friedhöfe, die Austragungsstätten der XIV. Olympischen Winterspiele, heute Ruinen, wie zB. die Schanze und Bobbahn, auf der mit Graffiti die Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck gebracht wird, und an den letzten großen, internationalen Auftritt des ehemaligen Jugoslawiens erinnern, bevor der Vielvölkerstaat auseinanderbrach.
Wie die meisten Bewohnerinnen der Stadt, mit denen ich ins Gespräch kam, ist auch Ismet über die zunehmende Land- und Einflussnahme wahabitischer Investoren aus Saudiarabien und Katar beunruhigt. Neben einer Bibliothek, einer riesigen Shopping Mall, einer Gated Community, die in den Poljine Hills für reiche Saudis entsteht, der Renovierung von Moschee und Marktständen der im 15.Jhdt. errichteten Baščaršija oder old town, wurde auch ein muslimischer Vergnügungspark mit saudischem Geld errichtet. Südlich von Sarajevo soll ein 140 Hektar großes Touristen-Resort entstehen. Angebliche Baukosten: über zwei Milliarden Euro. „Die Politiker behaupten, dass sie Arbeitsplätze schaffen“, meint Ismet, „aber das Land, unsere Leute profitieren nicht wirklich davon. Ja, ein paar Niedriglohnjobs im Dienstleistungssektor. Mehr nicht.“
Bistrik, der alte Bahnhof aus der Zeit der Donaumonarchie, Latinski Most, auf die ich vom Hotelfenster aus hinunter schaue – Hotspot für Touristen aus aller Welt, da von hier aus nach der Ermordung Ferdinands der Erste Weltkrieg seinen Ausgang nahm -, die Architektur, die allerorten an die K.&K. Zeiten erinnert, die freundlichen Menschen, die noch nach einer anderen Uhr zu leben scheinen: Alles das löst nostalgische Gefühle aus, die in der traditionellen Musik der Sevdalinka eingeschrieben sind.
Schon wieder aber wird von einheimischen Politikern am Balkan gezündelt. Hofer, der gerne Bundespräsident geworden wäre, hat die serbisch-stämmige Community in Wien für sich zu gewinnen gehofft. Leider mit einigem Erfolg. Hier aber die Abrechnung einer in Wien lebenden Serbin, adressiert an ihre Landsleute.
Den Sonnenuntergang über der Stadt genieße ich auf einer der Burgen aus der Zeit des ottomanischen Imperiums; es ist friedlich und still hier oben. Das marmorne Weiß der Grabstelen eingebettet zwischen den bunten Häusern im Tal und auf den Hügeln, die von unten heraufziehenden Nebelschwaden, die sich bald wie eine Decke über alles legen werden, aus der nur noch die Spitzen der Minarette herausragen: Ein absolut magisches Bild wie aus einem Traum.
Hoffe, es war nicht mein letzter Blick auf diese Stadt, für die ich mir mit ihren Bewohnerinnen so sehr wünsche, dass sowohl die EU sich mehr engagiert, um den zerbrechlichen Frieden zu sichern, als auch heimische Politikerinnen, die nicht die Ethnien gegeneinander aufhetzen, wie es derzeit durch Politiker wie Dodik geschieht, der um das Datum des Nationalfeiertags im serbischen Teil der Föderation trotz Verbotes durch das Verfassungsgericht eine Abstimmung abhalten ließ und so die Stimmung weiter anheizt.
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Manfred Voita
Posted at 01:00h, 11 DezemberEin spannender Blick in ein mir sehr fremdes Land. Ein Freund hat jahrelang dort gelebt und sich um die Organisation des Schulsystems gekümmert. Er erzählt auch immer wieder von den Menschen und dem so anderen Leben in diesem Land, das uns doch eigentlich so nah ist.