Fotografische Notizen


Mit Mutter am Bodensee.
Sie sitzt im Rollstuhl und schaut auf den See.
Mutter: So ein Ufer haben sie nicht, die Deutschen.
Ein Mann cremt eine am Bauch liegende Frau ein. Er tut das mit Hingabe. Vielleicht aber ist Inbrunst zutreffender.
Mutter (Nach langem Schweigen…): Ist ein schön’s Platzerl, gell?
Drei Bikinimädchen, gerade dem Kindesalter entwachsen, üben gazellenartige Sprünge, um sie als Selfies festzuhalten. Nach jedem Springen prüfen sie in gespannter Erwartung das Ergebnis auf dem Smartphone. Obwohl sie jedes Mal von Neuem enttäuscht sind, lassen sie sich nicht entmutigen. Einmal muss er ja gelingen: Der dreifach festgehaltene Sprung, der keinen Boden mehr unter den Füßen zeigt.
Mutter: In die Weite… (seufzt, bricht ab)
Sohn: Ja, Mama: In die Weite… Was ist in der Weite?
Mutter: Was soll da sein?
Sohn: Ja, das frag ich dich ja. Was ist mit der Weite? In die Weite, hast du gesagt und dann nichts mehr…
Ein Bub übt das aufrechte Stehen auf einem Surfbrett. Die drei Mädchen hüpfen.
Mutter (tadelnd): Was hast du nur immer mit der Weite?
Sohn: Ich hab mit ihr nichts. Du hast mit ihr begonnen.
Mutter nach längerem Schweigen:  Hätten sie’s nicht verbaut, hätten’s jetzt auch so ein Ufer, die Deutschen.
Wie auf ein Kommando nehmen fünf Enten – mit ihren Flossen paddelnd – Anlauf, erheben sich über das Wasser, ziehen die Flossen ein und schreiben – ein schnatterndes Geschwader – ein langgezogenes U in den wolkenlos blauen Himmel.
1 2 3 Hupf!
Schau, sagt Mutter und zeigt auf einen Schwan, der bewegungslos – uns keinen Seitenblick gönnend – das Wasser pflügt. Gespiegelt – weiß auf blauem Grund – zieht er an uns vorbei, – sich das Beiwort majestätisch verdienend. Eine Brise kommt auf und peitscht die tief ins Wasser hängenden Zweige einer Ulme.
Mutter: War ein schöner Ausflug.
Sohn: Wir sind ja noch da. Willst du heim?
Mutter: Am Wochenende wird man da gar nicht sitzen können vor lauter Leut’. Die Deutschen haben so ein Ufer nicht.
Sohn: Heute ist Wochenende.
Mutter: Warum? Was ist für ein Tag heut?
Sohn: Samstag.
Mutter sich entschuldigend: Weißt, ich leb‘ nicht mehr mit der Zeit.
Zwei Hunde beschnuppern sich. Der Hundehalter fragt die auf der Wiese liegenden Frauen: Mandl? Na, Wible, kommt’s wie aus einem Mund.
Mutter: War ein schöner Ausflug und’s Wetter war auch schön.
Sohn: Ist. Mama; ist noch immer schön.
Mutter: Trotzdem. Hätten’s das Ufer nicht so verbaut, hätten’s auch so ein schönes Ufer, die Deutschen. Jetzt beneiden’s uns. Auch die Schweizer.
Sohn: Aber schau; auch drüben ist es grün.
Mutter: Weißt, in die Weite kann ich nicht mehr so gut sehen.

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5 Comments
  • Anonymous
    Posted at 19:31h, 07 Juni Antworten

    Helmut, war schön zu lesen; deine Liebe zur ihr und dein Pragmatismus…deshalb mag ich dich so!
    Alles liebe und vielleicht diesen Sommer mal beim nächsten Besuch bei deiner Mutter? Als Schweizerin muss ich mir doch ein Bild von diesen Ufern machen; obschon ich heute schon überzeugt bin, dass ihr das schönste habt! Müntschi Karin

    • Helmut Hostnig
      Posted at 18:53h, 08 Juni Antworten

      Liebe Karin. Danke für Kommentar. Das müssen wir uns für den Herbst vornehmen, da mein Bruder den Sommer über in Bregenz ist, ja? Liebe Grūße von Wien nach Zürich

  • Manfred Voita
    Posted at 23:38h, 31 Mai Antworten

    Von alten Menschen lernt man jedenfalls, wie die Gegenwart an Bedeutung verliert… oder nein, vielleicht bemerken wir es bei ihnen einfach nur, weil wir selbst immer mit der Zukunft beschäftigt sind. Irgendwer sollte sich auch um die Gegenwart kümmern. Und deine Mutter hat Recht, schön habt ihr es da. Obwohl auch die deutsche und die schweizer Seite des Sees schön sind. Und zugebaut. Aber das ist in Bregenz ja auch passiert.

  • grabner
    Posted at 22:52h, 28 Mai Antworten

    Der dem Realismus verpflichtete Sohn im Kampf mit einer sich in Auflöung befindlichen Weltwahrnehmung – das Gegenstück zu einer win-win-Situation, für den Leser aber eine tragikomische Unterhaltung, quasi also eine win-win auf höherer Ebene.
    Lieben Gruß
    Gerhard

    • Helmut Hostnig
      Posted at 15:40h, 29 Mai Antworten

      Das hast du gut getroffen. Eigentlich wollte ich die zunehmende Redundanz unserer Kommunikation illustrieren. Irgendwann werden auch uns – in die Weite schauend- nur noch Stehsätze genügen. Danke fürs Kommentieren.

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